Bizarre Welt der Tiefsee

Sie ist ein Reich von kuriosen Wesen und betörender Ästhetik. Doch schon bevor wir die Tiefen der Meere richtig erkundet haben, beuten wir sie aus.

Von Robert Kunzig
bilder von David Shale, Npl
Foto von David Shale, Npl

Haben Sie schon einmal einen Ort gesehen, den noch nie ein Mensch vor Ihnen gesehen hat? Noch niemand?

In Deutschland wäre das kaum möglich, auch nicht anderswo in Europa, das seit Jahrtausenden bis in alle Winkel besiedelt ist. Und eigentlich nirgendwo sonst auf der Erde, außer vielleicht in den windgepeitschten Weiten der antarktischen oder grönländischen Eiswüsten.

Ich durfte mir einmal einen Monat lang solche Orte anschauen. Ich war für eine Reportage mit Ozeanografen unterwegs, und wir dümpelten auf einem Schiff mitten im Indischen Ozean, drei Tagesreisen östlich von Mauritius. Ein ferngesteuerter Roboter, den sie „Jason“ nannten, hing an einem zweieinhalb Kilometer langen Kabel vom Schiff herab und schickte uns Videos nach oben. Wie der größte Teil des Meeresbodens war auch dieser Bereich des vulkanischen mittelozeanischen Rückens zwischen Indien und Afrika noch nie erforscht worden.

Dann sahen wir endlich, weshalb wir überhaupt unterwegs waren: eine hydrothermale Quelle, „Schwarzer Raucher“ genannt. Wie ein Märchenschloss tauchte sie aus der Finsternis auf, ein Massiv von Türmen und Zinnen, das schwarze Wolken von kochend heißem, mineralreichem Wasser aus der Erde ausspuckte. Darin wimmelte es von kleinen Garnelen. Sie waren blind und drängten sich an den Schloten, um in dem schwefelhaltigen „Rauch“ ihre Nahrung aufzunehmen.

Dort unten gibt es kein Sonnenlicht und somit keine Fotosynthese; alle Energie wird durch chemische Prozesse gewonnen. Während „Jason“ sich den Garnelenwolken näherte, prallten die kleinen Wesen von seiner Kameralinse ab wie Insekten von einer Scheibe. Einen Moment lang klebte eines der Tierchen an der Linse. Es konnte nicht sehen, das wusste ich ja – aber mir schien, als versuchte es, durch das kilometerlange Kabel auf unser Schiffsdeck zu spähen, wo eine kleine Gruppe Menschen saß und es verzückt anstarrte.

Ich habe diese Begegnung nie vergessen. Meine damalige Recherche hatte mich in eine Welt geführt, die ebenso geheimnisvoll wie schillernd war. Ich entdeckte eine Vielfalt, die man sich schwer vorstellen kann. Ich staunte, auf welch raffinierte Art Wesen selbst in den unwirtlichsten Winkeln der Erde eine Heimat gefunden haben. Wie viel wir vom Leben dort unten lernen können. Ich erlebte, welche Mühen es uns Menschen bereitet, in diese Reiche vorzudringen. Welch ein Abenteuer es ist. Aber auch, mit welcher Ignoranz wir dieser Welt bisher begegnen. Wie wir das zu zerstören drohen, was wir noch gar nicht wirklich kennen, weil es in einem Element lebt, das schwer zugänglich ist und unseren Blick verschleiert.

Im Indischen Ozean konnten wir das „rauchende Schloss“ nie ganz sehen. „Jasons“ Scheinwerfer reichten nur wenige Meter in die Dunkelheit – und die Felswände des „Schwarzen Rauchers“ waren fast 20 Meter hoch. Mir kam es vor, als hätten wir völlig die Orientierung verloren. Die Tiefsee bedeckt etwa die Hälfte der Erde, ungefähr 360 Millionen Quadratkilometer. Und wir wurstelten uns mit einer Taschenlampe durch. Kein Wunder, dass sie uns so fremd ist.

Im vergangenen Herbst ging ich ein paar Monate lang jeden Morgen im NATIONAL GEOGRAPHIC­Gebäude in Washington an einem Bildschirm vorbei, der mich an dieses Erlebnis im Indischen Ozean erinnerte, weil auch er mich in eine geheimnisvolle Welt entführte. Der Monitor war Teil einer Ausstellung über die Mars­Rover der Nasa. Er zeigte eine kurze Videosequenz, aufgenommen von „Curiosity“, der derzeit den Marskrater Gale erkundet. Dort erstreckte sich ursprünglich ein See. Aber auf dem Mars gibt es schon seit Langem kein Wasser mehr. Die „Curiosity“­Bilder waren unglaublich scharf, man konnte bis zum entfernten Horizont sehen, als stünde man in einer Wüste auf der Erde. Die Raumfahrzeuge, die „Curiositys“ Landung vorbereiten hatten, machten ihre Bilder vom Mars aus Hunderten Kilometer Höhe. Und dennoch konnten die Nasa-Wissenschaftler darauf erkennen, dass der Gale-Krater sich bestens als Landeplatz eignet.

Und auf der Erde? Fast überall Wasser. Es ist undurchlässig für elektromagnetische Strahlung, der Aufwand für unsere Messgeräte wäre entsprechend riesig. Die unter Wasser liegende Oberfläche unseres eigenen Planeten ist also viel weniger kartiert als die Oberfläche des Mars. Im vergangenen Oktober erstellten Wissenschaftler mit Daten von zwei Satelliten, „Jason-1“ und dem „CryoSat-2“, die bislang beste Weltkarte der Meeresböden. Vier Fünftel der darauf erkennbaren Strukturen waren in Atlanten zuvor nicht verzeichnet gewesen. Durch extrem genaue Messungen der Meeresoberfläche konnte die Topografie in Tausenden Meter Tiefe nun viel detaillierter als je zuvor rekonstruiert wer- den. Die neuen Karten zeigen Tausende neuer „Seamounts“: Tiefseeberge, allesamt höher als tausend Meter.

Man stelle sich vor, Geographen hätten soeben den Harz entdeckt, wüssten aber noch nichts von der Eifel. Dieser Vergleich vermittelt eine Ahnung vom bisherigen Stand unseres Wissens über den Teil unseres Planeten, der von Wasser bedeckt ist.

Noch weniger wissen wir darüber, was dort kreucht und fleucht. Als in den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts der Engländer Edward Forbes mit dem Schleppnetz in der Ägäis forschte und die Tiefseebiologie als wissenschaftliche Disziplin mitbegründete, war er noch der Ansicht, unterhalb von 300 Fathoms (etwa 550 Meter) gebe es weder Flora noch Fauna; dies sei eine „azoische Zone“, also ohne Leben. Seither wurde von Expedition zu Expedition immer deutlicher, dass überall im Meer Leben vorkommt. Selbst einen Kilometer unterhalb des Meeresbodens gibt es noch Mikroorganismen; selbst im Wasser einer heißen Quelle auf dem mittelozeanischen Rücken leben Garnelen oder Röhrenwürmer.

Der Meeresökologe Julian Gutt vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven und sein Team fuhren mit dem Forschungseisbrecher „Polarstern“ in den Teil des Weddellmeers an der antarktischen Halbinsel, der einst von der Schelfeisplatte „Larsen B“ bedeckt war. Sie war 2002 auseinandergebrochen, ein aufsehenerregender Vorbote der Erderwärmung. Gutt hatte erwartet, dass der Meeresboden eine weitgehende Ödnis war. Unter einem Eisschelf gibt es nicht viel Nahrung, und abgebrochene Eisberge müssten das wenige Leben verwüstet haben.

Tatsächlich gab es nicht viele Tiere – aber eine verblüffende Anzahl von Seegurken. Sie hatten Beine und sahen aus wie Ballons kurz vor dem Platzen. Vermutlich hatten sie von der Tiefsee aus im flachen Wasser unter dem Eisschelf Kolonien gebildet.

Seegurken gehören wie Seesterne zu den Stachelhäutern, sie umfassen 1200 Arten und kommen in großen Meerestiefen besonders häufig vor. Sie sind überall. Allein in den antarktischen Gewässern wurden bisher 187 verschiedene Arten identifiziert. Sie kriechen über den Boden oder graben sich kopfüber darin ein und fressen. Und zwar alles, was aus dem sonnendurchfluteten Oberflächenwasser in ihr Reich hinabschwebt: Reste mikroskopischer Pflanzen, Fischkot, allen möglichen organischen Glibber. Die Tiefsee ist das Reich der Abfallverwerter.

Nahrung ist hier eher knapp, deshalb gibt es auch weniger Leben als in seichten Gewässern. Aber das ist unglaublich artenreich. Niemand weiß, wie viele Arten in der Tiefsee leben. Auch der „Census of Marine Life“ hat keine genaue Antwort; die Forscher schätzen aber, dass mindestens 2,2 Millionen Arten in den Ozeanen leben, Mikroorganismen noch nicht eingerechnet.

Die Tiefseeforschung hat unseren Blick auf das Leben im Universum verändert.

Ständig werden neue Tiere entdeckt. Auf den Antarktisexpeditionen, die die „Polarstern“ im Rahmen des „Census“ unternahm, fanden Angelika Brandt vom Zoologischen Museum Hamburg und ihre Kollegen zum Beispiel mehr als 700 neue Arten – darunter allein im Weddellmeer 585 neue Arten von Asseln, einer Ordnung der Krebstiere.

Das Leben in der Tiefsee ist vielfältig, aber spärlich. Mit zwei Ausnahmen: in der Umgebung der vulkanischen heißen Quellen auf den mittelozeanischen Rücken, wo Schwefelwasserstoff aus „Schwarzen Rauchern“ quillt, und bei den „Cold Seeps“ genannten kalten Quellen, wo Methangas aus dem Schlamm aufsteigt; sie sind zumeist entlang der Kontinentalränder zu finden, dort, wo die Kontinente unter Wasser im Ozean auslaufen. In beiden Fällen setzen Bakterien die ausgestoßenen Chemikalien in Energie um, so wie Pflanzen auf der Erde Energie aus dem Sonnenlicht gewinnen. Andere Tiere ernähren sich von den Bakterien. So entsteht an den heißen und kalten Quellen eine Dichte von Leben. Die Tiere müssen sich um die Quellen sammeln wie um einen Futternapf, so wie bei unserer Expedition im Indischen Ozean: Die Garnelen drängten sich um den „Schwarzen Raucher“, der die an ihren Kiemen angesiedelten Bakterien ernährte, die die Garnelen ernähren.

Als in den Siebziger- und Achtzigerjahren die Hydrothermalquellen und die kalten Quellen entdeckt wurden, markierte das einen einschneidenden Fortschritt in der Forschung. Nun war klar, dass Leben nicht unbedingt von Fotosynthese abhängig ist und dass ganze Ökosysteme auf Chemosynthese aufbauen können. Womöglich gibt es an viel mehr und noch viel extremeren Orten Leben, als wir es uns bisher vorgestellt haben. Auch jenseits der Erde. Vor wenigen Wochen erst verkündeten Wissenschaftler der Nasa, dass ihr Rover „Curiosity“ in der extrem dünnen Luft des Gale-Kraters schwache Spuren von Methan gefunden habe. Ein mögliches Indiz für Leben?

Die Erforschung der Ozeane hat unseren Blick auf das Leben im Universum verändert. Und dennoch erscheint der Boden unserer Meere weiter entfernt als der Mars.

Die Tiefsee ist uns noch immer unheimlich. Vielleicht haben wir sie deshalb seit jeher als Müllkippe behandelt. Im Schlamm vor Irland findet man verstreute „Steine“, die in Wirklichkeit Kohleschlacke sind: verbrannte Kohlestücke aus der Zeit der Dampfschiffe. Von Schiffen wurden nach Krankheiten manchmal Zehntausende Schaf- oder Rinderkadaver über Bord geworfen. Und dann ist da noch der ganze Müll der Moderne. Beim Tauchgang in den 7500 Meter tiefen Ryūkyū-Graben vor Japan sahen die Forscher im Lichtkegel der Scheinwerfer plötzlich einen ungewöhnlichen Gegenstand. Bei genauem Hinsehen identifizierten sie ihn: einen Mülleimer.

Ein Abfallprodukt, das wir in der Tiefe entsorgen, ist jedoch unsichtbar: Kohlendioxid von Öl, Gas, Kohle, den Treibstoffen unserer Wirtschaft. Bis jetzt haben die Meere etwa die Hälfte des CO2 aufgenommen, es sinkt langsam zum Boden hinab.

Auf diese Weise haben die Meere das Tempo des Klimawandels halbiert.

Überdies gewinnen wir Rohstoffe aus ihnen. Wir fördern zunehmend Öl aus der Tiefsee, weil es immer schwieriger wird, das „schwarze Gold“ an Land zu finden. Und wir holen unseren Fisch aus immer größeren Tiefen, nachdem wir viele Küstengewässer leergefischt haben. Der Raubbau setzt sich fort, bevor wir überhaupt Gelegenheit hatten, diese fremde Welt richtig kennenzulernen. Seamounts vor Neuseeland und Tasmanien, wo der Kaiserbarsch einst in großen Beständen vorkam, sind abgefischt, und die großen verzweigten Korallen, die hier wuchsen und vielen anderen Organismen einen Lebensraum boten, sind verschwunden. Als dieser Goldrausch in der Tiefe schon nicht mehr zu stoppen war, fanden Wissenschaftler heraus, dass manche der Kaiserbarsche mehr als hundert Jahre alt gewesen waren. Tiefseefische wachsen langsam, und sie pflanzen sich langsam fort. Ihre Bestände werden sich nicht so schnell erholen.

Der Abbau von Metallen in der Tiefsee hat zwar noch nicht eingesetzt, rückt aber näher. Das Unternehmen Nautilus Minerals verfügt schon über alle Lizenzen und Genehmigungen, um vor Papua-Neuguinea polymetallische Sulfide abzubauen, die von „Schwarzen Rauchern“ abgelagert wurden; sie werden für die Verarbeitung von Kupfer, Quecksilber und Antimon benötigt. 2017 soll mit dem Abbau begonnen werden. Deutschland besitzt eine Lizenz zur Exploration von Manganknollen im Bereich der Clarion-Clipperton-Bruchzone im Ostpazifik; sie enthalten Mangan und Eisen, aber auch Kupfer, Nickel und Kobalt. Wissenschaftler an Bord des Forschungsschiffs „Sonne“ werden demnächst die möglichen Umwelteinflüsse des Abbaus untersuchen. Für diesen existieren keine internationalen Regeln, es gibt aber auch keine Behörde, die sie durchsetzen könnte.

„Bergbau in der Tiefsee wird irgendwann passieren“, sagt die Biologin Cindy Lee Van Dover, die Direktorin des Duke University Lab in North Carolina. „Jetzt ist noch Zeit, Umweltschutzbestimmungen zu erlassen. Wenn es erst einmal losgeht, können wir keine Regeln mehr durchsetzen, so war es auch bei der Fischerei. In hundert Jahren werden die Menschen vielleicht zurückschauen und sich fragen: Haben wir etwas falsch gemacht und die Tiefsee versaut?“

Cindy Lee Van Dover war die wissenschaftliche Leiterin der Expedition im Indischen Ozean, an der ich 2001 teilnahm. Mehr als einen Monat lang saß ich neben ihr im Labor und half, die vielen glitschigen Tierchen zu sortieren, die „Jason“ an die Oberfläche gebracht hatte. Seither hat die Forscherin viele solcher Orte erkundet. Und sie nimmt weiterhin auch Nicht-Wissenschaftler mit auf die Reise – Journalisten, aber auch Künstler, Musiker, sogar einen Comiczeichner. „Die Menschen kümmern sich nicht um Dinge, die sie nicht kennen“, sagt sie. „Dazu zählt auch die Tiefsee. Wir brauchen Menschen, die sie schätzen lernen und anderen davon erzählen.“

Die Tiefen der Meere, so schrieb die Biologin mit einigen Kollegen kürzlich, seien „die letzte große Wildnis“. Zu einer Zeit, da der Mensch seinen Planeten so weitreichend und nachhaltig beeinflusst, ist sie der ungezähmteste Ort, den es noch gibt.

An unserem letzten Abend im Indischen Ozean verbrachten wir Stunden damit, durch „Jasons“ Auge zu schauen, während er kreuz und quer über den Spalt am Meeresboden schwebte, der die Grenze zwischen der Afrikanischen und der Indischen Platte bildet. Plötzlich sahen wir etwas, das wie eine rote Riesengarnele aussah. Es maß zehn oder 15 Zentimeter. Wir folgten ihm ein paar Sekunden lang. Es war allein. Wir haben niemals herausgefunden, wohin es unterwegs war oder was genau für ein Tier das überhaupt war. Einen Moment später war sein kurzer und einziger Kontakt zur Menschheit auch schon wieder vorbei.

(NG, Heft 3 / 2015, Seite(n) 80 bis 93)

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