Crittercam: Wale auf Sendung

Wie jagen Buckelwale? NATIONAL GEOGRAPHIC-Forscher nutzen eine Methode, die neue Erkenntnisse bringt.

Von Siebo Heinken
bilder von María Stenzel
Foto von María Stenzel

Solche Momente erleben auch erfahrene Walforscher nur selten. «Zuerst sahen wir die Walkuh, wie sie im flachen Wasser andächtig mit einem Stück Seetang spielte», erinnert sich der Meeresbiologe Ari Friedlaender von der amerikanischen Duke-­Universität. «Dann schwamm ihr junges Kalb herbei, und was tat es?

Es legte sich ebenfalls Tang auf die Nase und spielte damit. Ich war völlig fasziniert. Es war ein perfektes Beispiel dafür, wie auch diese mächtigen Wesen von ihren Müttern lernen: durch Beobachtung und Nachahmung.»

Friedlaender ist Experte dafür, Meerestiere und vor allem Buckelwale mit Sendern auszustatten, um mehr über ihr Tauch­ und Fressverhalten zu erfahren. Auch darüber, wie sehr Geräusche von Maschinen und Sonar die Tiere beeinträchtigen. Doch diese Expedition mit dem Forschungsschiff „Nathaniel B. Palmer“ an die Küste der westlichen Antarktis öffnete auch ihm eine neue Tür in das geheimnisvolle Reich dieser für ihren komplexen Gesang bekannten Meeressäuger: Zum ersten Mal arbeitete er mit der Crittercam, einem vom Meeresbiologen Greg Marshall entwickelten Kamerasystem. Mit ihm filmen Tiere ihren eigenen Lebensraum.

Belize im Jahr 1986. Marshall, damals Biologiestudent und junger Filmemacher, beobachtet einen Hai, an den sich ein Schiffshalter geheftet hat. Er überlegt: So, wie dieser Fisch mit seinem Wirt schwimmt, könnte man doch ebenso gut eine stromlinienförmige Kamera an dem Hai befestigen und das Meer durch seine Augen besser kennenlernen. Marshall zeichnet, tüftelt, bastelt. Schließt sein Studium ab. Entwickelt weiter, probiert einen Prototyp erfolgreich an einer in Gefangenschaft gehaltenen Schildkröte, dann an weiteren Tieren. Seit inzwischen 20 Jahren ist er Forscher bei der National Geographic Society und dort Leiter des Remote Imaging Program. Mehr als 600 Tiere hat er in Zusammenarbeit mit Forschern in aller Welt bereits mit Kameras aus­ gestattet. Löwen und Hyänen, Grizzlybären so­ wie mehr als 50 verschiedene Meerestierarten: Haie, Seelöwen, Kalmare, Wale.

Die Crittercam – Critter steht für creature, Tiere, cam für Kamera – wird temporär mit Schnallen oder Saugnäpfen an den Tieren befestigt und löst sich nach einer zuvor programmierten Zeit. Anschließend bergen die Forscher sie mithilfe eines Peilsenders, um Film, Ton und weitere Daten auszuwerten. Sie geben den Biologen Einblicke in eine sonst verborgene Welt: Wie finden Mönchsrobben ihr Futter? Wo paaren sich Lederschildkröten? Und: Wodurch lernen Tiere, wie etwa die Buckelwale? Die Antwort gab das Walkalb jüngst selber, als es seine Mutter und sich mit der vor der Rückenfinne befestigten Kamera filmte.

«Die Arbeit mit der Crittercam ist Verhaltensforschung in ihrer ursprünglichsten Form», sagt Greg Marshall. Die Buckelwale im Südpolarmeer stellen Meeresbiologen zum Beispiel noch vor viele Rätsel: Wie genau jagen sie? Tauchen sie nur, um zu fressen? Wie gehen sie mit Packeis um? Um das herauszufinden, mussten Greg Marshall und Ari Friedlaender in der Gerlache-­Straße mit dem Schlauchboot an die bis zu 30 Tonnen schweren Tiere heranfahren und die Kamera mithilfe eines unhandlichen, fast acht Meter langen Stabes und eines Saugnapfes auf dem Rücken befestigen. «Eine knifflige Aufgabe», sagt Marshall. «Die Wale kommen nur kurz an die Oberfläche, um zu atmen. Immer wieder waren sie plötzlich auf der anderen Seite des Boots. Außerdem mussten wir uns vor ihrer mächtigen Fluke in Acht nehmen, wenn sie wie­ der abtauchten.» Manchmal dauerte es Stunden, bis die Kamera angebracht war. Nur bei dem Kalb hatten die Forscher Glück: Es schlief an der Wasseroberfläche und verhielt sich ganz still, als das Schlauchboot leise heranglitt.

Nach etwa acht Stunden löste sich die Kamera, schwamm auf und sendete Signale. Meist war das Gerät leicht zu finden. «Die Wale bewegen sich hier im beginnenden Winter nicht weit», sagt Friedlaender. An Bord der „Nathaniel B. Palmer“ wurden die Filme und Daten auf Computer übertragen und ausgewertet. Nicht nur das Spiel von Walmutter und Kalb mit dem Seetang ließ die Forscher staunen. Auch die Bilder von Walen, die unter dem Packeis schwammen, waren beeindruckend. «Wenn sie auftauchen wollten, bliesen sie das Eis über ihnen einfach zur Seite», berichtet Friedlaender: «Das hatte ich noch nie gesehen.»

Der Biologe sieht die Crittercam als einzigartige Möglichkeit, die Wale und auch die Folgen des menschlichen Eingriffs in die Natur zu erforschen. Aber diese Arbeit ist auch ein Abenteuer. «Diesen riesigen Tieren so nah zu kommen sorgt für einen irren Adrenalinschub. Wenn du die Kamera anbringst, bist du für einen kleinen Moment ein Teil dieses Wesens.»

 

(NG, Heft 10 / 2012, Seite(n) 114 bis 123)

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