Mama tot, Liebe gesucht

In Kenia retten engagierte Pfleger verwaiste Elefantenbabys. Und die meisten überleben. Von ihnen können wir viel über die Intelligenz und die Gefühle dieser Tiere lernen.

Von Charles Siebert
bilder von Michael Nichols
Foto von Michael Nichols

Auf den knorrigen Ästen der Crotonbäume im Norden des Nairobi-Nationalparks hängt eine Anzahl bunter Wolldecken. Hier in Kenia könnte man sie für Überbleibsel eines alten Stammesrituals halten. Aber nachmittags um kurz vor fünf wird offenbar, dass die Decken zu einem Experiment gehören, an dem zwei Arten beteiligt sind.

In einiger Entfernung erscheinen mehrere aufrecht gehende Gestalten in leuchtend grünen Mänteln. Sie tragen verbeulte weiße Safarihüte und rufen in schriller Tonlage verschiedene Namen: «Kalama!» «Kitirua!» «Olare!». Urplötzlich stürzt eine Rotte junger Elefanten aus dem Unterholz, eine ungeordnete Karawane aus 18 braunen, segelohrigen Köpfen mit langen Rüsseln. Unter den bunt behängten Bäumen kommt sie zum Stehen. Tierpfleger binden jedem Elefanten eine Decke gegen die Kälte um. Dann setzt sie ihren Zug fort.

Ihr Ziel ist das Waisenhaus des David Sheldrick Wildlife Trust. Diese Stiftung ist die weltweit erfolgreichste Rettungs- und Auswilderungsstation für Elefantenwaisen. Sie nimmt Jungtiere aus ganz Kenia auf, deren Mütter von Wilderern getötet wurden. Oder von Bauern, die um ihre Ernte fürchteten. Die Waisen werden hier großgezogen, bis sie nicht mehr auf flüssige Nahrung angewiesen sind. Danach werden sie gut 160 Kilometer weiter nach Süden verlegt, in zwei Auswilderungsstationen im Tsavo-Nationalpark. Dort dürfen sie sich auf die Rückkehr in die Wildnis vorbereiten. Das kann acht bis zehn Jahre dauern. Das Programm ist ein Pionierprojekt für zwischenartliches Einfühlungsvermögen und entstand als Reaktion auf extreme menschliche Rücksichtslosigkeit.

Einst durchstreiften die größten Landtiere der Welt den Kontinent auf uralten, tief in ihrem Gedächtnis verankerten Wegen. Heute werden sie in schrumpfende, zunehmend zerstückelte Reviere zurückgedrängt. Wenn sie nicht wegen ihres Elfenbeins und ihres Fleisches gejagt werden, machen ihnen Dürren und die wachsende menschliche Bevölkerung zu schaffen. Im Jahr 1979 wurden 1,3 Millionen Afrikanische Elefanten gezählt. Heute gibt es gerade noch etwa 500.000. Weil aber immer mehr Menschen hier leben, kommt es öfter zu Konflikten zwischen ihnen und den Elefanten.

Der Verein "Rettet die Elefanten Afrikas" unterstützt das Elefanten-Waisen-Projekt von Daphne Sheldrick in Kenia. Weitere Informationen dazu finden Sie unter www.reaev.de

Zu den Neuankömmlingen in der Aufzuchtstation in Nairobi gehört das Elefantenkalb „Murka“. Als es in der Nähe des Tsavo-Nationalparks aufgefunden wurde, klafften zahlreiche Beil- und Speerwunden in seinem Rücken und an seinen Flanken, ein Speer steckte zwischen seinen Augen. Die Spitze war 25 Zentimeter tief eingedrungen und hatte die Nasennebenhöhlen zerrissen. „Murka“ konnte mit dem Rüssel nicht mehr trinken, in den Wunden wimmelten Maden. Ihre Mutter war vermutlich von Wilderern getötet worden. Danach hatten wohl Massai das einjährige Kalb attackiert – aus Ärger darüber, dass sie Teile ihres Weidelands an den Park hatten abtreten müssen. Ein mobiles Team von Tierärzten narkotisierte das Elefantenbaby, reinigte seine Wunden und entfernte den Speer.

Der schlimmste Feind der Elefanten – der Mensch – ist zugleich ihre einzige Hoffnung. Dieser Umstand bewog Daphne Sheldrick 1987 zur Gründung des Waisenhauses. Sie ist Kenianerin in der vierten Generation und war mit dem Naturforscher und Mitbegründer des Nationalparks Tsavo-Ost, David Sheldrick, verheiratet. Er starb 1977. Daphne Sheldrick hat den größten Teil ihres Lebens damit verbracht, sich um hilflose junge Wildtiere zu kümmern: um verlassene Büffel, Dikdiks, Impala-Antilopen, Zebras, Warzenschweine und Spitzmaulnashörner. Aber keine Tierart liegt ihr so am Herzen wie die Elefanten.

Neugeborene Elefantenwaisen sind schwer aufzuziehen. In den ersten beiden Lebensjahren sind sie vollständig und bis zum Alter von vier Jahren immer noch weitgehend auf Muttermilch angewiesen. Selbst nach Jahrzehnten im Tsavo war es den Sheldricks nie gelungen, eine Elefantenwaise durchzubringen, die jünger als ein Jahr war. Kein Milchersatz entsprach dem Nährwert der Muttermilch. Weil Elefantenmilch einen hohen Fettanteil hat, setzten David und Daphne Sheldrick ihrer Mischung Sahne und Butter zu, doch die Kälber bekamen Verdauungsprobleme und gingen bald ein. Danach verwendete das Ehepaar fettfreie Milch. Die Elefanten vertrugen sie besser, verloren aber stark an Gewicht und starben schließlich doch. Nach vielen Versuchen fanden die beiden den richtigen Mix: Er bestand aus Babynahrung für Menschen und Kokosnüssen. Damit gelang es, die nur drei Wochen alte „Aisha“ am Leben zu erhalten.

„Aisha“ war es auch, die Daphne Sheldrick einen weiteren wichtigen Aspekt der Aufzucht von Elefanten lehrte. Als sie zur Hochzeitsvorbereitung für eine ihrer Töchter nach Nairobi fuhr, kümmerte sich ein Helfer um das damals sechs Monate alte Baby. Doch „Aisha“ verweigerte das Futter und starb – offenbar aus Kummer über den Verlust ihrer Zweitmutter. «Ihr Tod machte mir klar, welchen Fehler ich gemacht hatte», erklärt Daphne Sheldrick. «Ich fehlte ihr zu sehr. Man darf nicht zulassen, dass ein Elefant sich zu eng an einen einzigen Menschen bindet. Es war dumm von mir zu glauben, allein einen größeren Familienkreis ersetzen zu können. Ich hätte es wissen müssen, denn ich hatte doch seit meiner Heirat die Elefanten im Tsavo beobachtet. Wenn man sich eine Herde anschaut, versteht man, wie wichtig die Familie für sie ist. Wir müssen den Jungtieren das bieten, was sie in freier Wildbahn auch hätten.»

Der Verein "Rettet die Elefanten Afrikas" unterstützt das Elefanten-Waisen-Projekt von Daphne Sheldrick in Kenia. Weitere Informationen dazu finden Sie unter www.reaev.de

Im Prinzip ist jede Herde wilder Elefanten ein einziger hochempfindlicher Organismus. Junge Elefanten wachsen in einer von den Müttern dominierten Familie unter liebevoller Betreuung auf. Zunächst durch die leibliche Mutter, später durch Schwestern, Cousinen, Tanten, Großmütter und langjährige Freundinnen. Diese Bindungen der Kühe bestehen lebenslang – bis zu 70 Jahre. Die Jungtiere halten sich stets in der Nähe ihrer Mutter und des Familienverbands auf, erst wenn sie 14 Jahre alt sind, gehen die jungen Bullen eigene Wege. Ein Kalb in Gefahr oder mit einer Verletzung wird von allen anderen Elefanten umsorgt und beschützt.

Ein komplexes Kommunikationssystem verstärkt diesen Zusammenhalt. Sind die Elefanten nahe beieinander, benutzen sie viele Laute: tiefes Grummeln, hohes Quieken und Trompetentöne. Dazu kommen visuelle Signale. Mithilfe von Rüssel, Ohren, Kopf und Schwanz drücken sie eine Vielzahl von Emotionen aus. Über größere Entfernungen hinweg verständigen sie sich durch ein Grollen auf einer tiefen Frequenz, das andere Elefanten noch in anderthalb Kilometer Entfernung hören.

Wenn einer der ihren stirbt, zeigen die anderen Elefanten einer Familie Zeichen von Trauer. Die Biologin Joyce Poole erforscht Afrikanische Elefanten seit mehr als 35 Jahren. Sie berichtet von Tieren, die den Kadaver aufzurichten versuchen und ihn später mit Erde und Ästen bedecken. Sie beobachtete eine Elefantenkuh, die ihr totgeborenes Kalb drei Tage lang bewachte, Kopf, Ohren und Rüssel traurig gesenkt. Manche Elefanten kehren monate- und sogar jahrelang zu den Knochen verendeter Artgenossen zurück und berühren sie mit ihrem Rüssel.

Besonders hat Daphne Sheldrick beeindruckt, wie schnell selbst stark traumatisierte Kälber im Waisenhaus die komplizierten sozialen Beziehungen der Wildherde wieder aufnehmen. «Das steckt in ihren Genen», erklärt sie. «Die Jüngeren wissen, dass sie sich den Älteren unterzuordnen haben. Und die Kühe verhalten sich bereits als Jungtiere mütterlich. Immer wenn ein neues Baby zu uns kommt, besuchen es die anderen und betasten es tröstend mit ihrem Rüssel. Sie haben ein großes Herz.»

Der Verein "Rettet die Elefanten Afrikas" unterstützt das Elefanten-Waisen-Projekt von Daphne Sheldrick in Kenia. Weitere Informationen dazu finden Sie unter www.reaev.de

Als ich einmal längere Zeit mitten in einer Gruppe dieser kleinen Elefanten stehe, fällt mir auf, dass alle ausgesprochen unterschiedliche Persönlichkeiten sind. Die kleine „Kalama“, im Alter von fünf Wochen in einem Brunnen gefunden, ist übermütig und verspielt. „Kitirua“, mit 18 Monaten im Amboseli-Nationalpark endeckt, lebt erst seit kurzem hier und ist noch schüchtern. Die vier Monate alte „Tano“, deren Mutter wohl von Wilderern getötet wurde, ist eifersüchtig, wenn andere Waisen den Pflegern nahe kommen, und schubst sie weg.

Ich komme mir vor wie in einer Gruppe vorlauter Schulkinder, die auf dem Spielplatz ihre Rangordnung festlegen wollen. Ich nähere mich dem niedlichen, zwei Monate alten Elefantenmädchen „Sities“. Plötzlich befördert mich ein rauer Rüssel unsanft in einen Strauch. «Das war „Olare“», ruft der Chefpfleger Edwin Lusichi und deutet auf die Einjährige. «Sie übt schon das Dominanzverhalten einer Matriarchin.»

Als wir uns auf den Rückweg zu den Ställen machen, stelle ich mich neben die Dickhäuterkarawane. Ich gehe gerade auf den Baum mit den Decken zu, als mir ein Elefantenrüssel mit solcher Wucht gegen den Bauch schlägt, dass ich in die Knie gehe. «Ich hätte Sie warnen sollen», sagt Lusichi und hilft mir grinsend auf die Beine. «„Tumaren“ mag es überhaupt nicht, wenn jemand vor ihr hergeht.»

Wenn man lange genug von Elefanten umgeben ist, fällt es schwer, sie nicht zu vermenschlichen. «Sie sind uns in vieler Hinsicht sehr ähnlich», sagt Sheldrick. «Sie haben die gleichen Gefühle wie wir. Sie haben Angehörige verloren, mussten das Abschlachten ihrer Mütter mitansehen und kommen voller Aggressionen hierher. Sie sind deprimiert und traurig. Sie leiden unter Alpträumen und Schlaflosigkeit.»

Das gespannte Verhältnis zwischen Elefanten und Menschen hat neuerdings an Bedeutung gewonnen, denn es gibt immer mehr wissenschaftliche Beweise für die außerordentliche Intelligenz dieser Tiere. Untersuchungen zeigen, dass manche Gehirnstrukturen der Elefanten denen der Menschen verblüffend ähneln. Sie haben anscheinend einen großen Hippokampus – das ist die Region im Gehirn der Säugetiere, die mit dem Gedächtnis zu tun hat. Er ist auch ein wichtiger Teil des limbischen Systems, das Emotionen verarbeitet. Außerdem wurden im Elefantenhirn zahlreiche spezielle Nervenzellen, die sogenannten Spindelzellen, nachgewiesen. Beim Menschen haben sie vermutlich mit Ichbewusstsein, Mitgefühl und Sozialbewusstsein zu tun. Es gibt sogar Elefanten, die sich im Spiegel selber erkannt haben – eine Leistung, die sonst nur von Menschen, einigen Menschenaffen sowie Delfinen bekannt ist.

Diese Gemeinsamkeiten der Biologie haben Wissenschaftler veranlasst, seelisch verwundete Elefantenkälber auf Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung hin zu untersuchen. Das sind psychische Stressfolgen, wie sie bei Menschen auftreten, die Schlimmes erlebt haben. Man kennt das unter anderem von Waisenkindern nach Krieg und Völkermord. Eine Expertin auf diesem Gebiet ist die amerikanische Psychologin Gay Bradshaw. Unter Anwendung der neuesten Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft und Psychologie analysiert sie ungewöhnliches Verhalten bei frei lebenden Elefanten. Sie vermutet, dass manche Populationen von Elefanten unter chronischem Stress leiden – ver- ursacht durch das Vordringen des Menschen und den gewaltsamen Tod von Artgenossen.

Ehe 1989 ein internationales Handelsverbot für Elfenbein in Kraft trat, massakrierten Wilderer ganze Elefantenbestände. Weil die Jäger es vor allem auf ältere Tiere mit großen Stoß- zähnen abgesehen hatten, veränderte sich die Sozialstruktur mancher Herden. Nicht nur die Anzahl der Elefantenbullen, sondern auch die der älteren Matriarchinnen und der betreuenden Tanten ging drastisch zurück. In Uganda ergab eine Untersuchung, dass viele weibliche Tiere im Alter zwischen 15 und 25 Jahren keine nahen Angehörigen mehr hatten.

Seit dem Verbot, Elfenbein zu verkaufen, haben sich manche Bestände zwar wieder stabilisiert, doch die meisten Elefanten sind nach wie vor vom Menschen bedroht. Besonders im Kongobecken und in weiten Teilen von Zentral- und Ostafrika hat die Wilderei in den vergangenen fünf Jahren explosionsartig zugenommen. Viele Elefantenfamilien haben dort den Großteil ihrer erwachsenen Kühe verloren, die Kälber werden zunehmend von unerfahrenen Müttern aufgezogen. Viele junge Elefanten haben den Tod eines Elternteils miterlebt. Sie wachsen nun ohne das traditionelle Netz der Fürsorge auf. «Das stört die normale Entwicklung der Jungtiere ganz erheblich», sagt Gay Bradshaw.

Der Verein "Rettet die Elefanten Afrikas" unterstützt das Elefanten-Waisen-Projekt von Daphne Sheldrick in Kenia. Weitere Informationen dazu finden Sie unter www.reaev.de

(NG, Heft 9 / 2011, Seite(n) 112 bis 129)

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