Mimikry: die Kunst der Camouflage

Tarnen, tricksen, täuschen: Viele Tiere sind Meister darin, sich unsichtbar zu machen.

Von Natalie Angier
bilder von Christian Ziegler
Foto von Christian Ziegler

Als Shakespeares Macbeth von drei Hexen geweissagt wird, er habe nichts zu fürchten, so lange nicht die Bäume des Waldes gegen sein Schloss marschierten, seufzt der Tyrann erleichtert: "Wer kann Bäume wie Soldaten pressen, daß sie ihre tief verschlungnen Wurzeln aus der Erd’ entfesseln?" Offensichtlich ist Macbeth nie auf der Insel Barro Colorado in Panama gewesen.

Mit zwei auffälligen roten „Fahnen" an den Hinterbeinen versucht die Passionsblumenwanze, den Schnabel eines hungrigen Vogels von ihrem Körper auf notfalls entbehrliche Gliedmaßen zu lenken.
Foto von Christian Ziegler

Mit zwei auffälligen roten „Fahnen" an den Hinterbeinen versucht die Passionsblumenwanze, den Schnabel eines hungrigen Vogels von ihrem Körper auf notfalls entbehrliche Gliedmaßen zu lenken.

Um 21 Uhr ist es finster wie in einer Hexenküche, aber im Lichtkegel meiner Helmlampe sieht es aus, als würden sich einzelne Teile von Bäumen selbständig machen. Ein kleiner Zweig zischt durch die Luft und landet auf einem Ast in der Nähe. Ein leuchtend grünes Blatt wühlt sich durch einen Haufen brauner Blätter, dann wechselt es die Richtung und kriecht zu einem anderen Laubhaufen. Mir ist klar, was ich hier sehe, doch die Details bleiben faszinierend. Der "Zweig" ist eine Stabheuschrecke, ein prachtvolles Exemplar der Insekten­ordnung Phasmatodea. Ihr Panzer ähnelt überzeugend einem gestreiften Stück Baumrinde; der lange, schmale Körper und der Kopf sind mit nachgebildeten Blattknospen übersät, mit kleinen Verdickungen und Scharten, durch die ein Zweig eben aussieht wie ein Zweig. Und auch das grüne Blatt entpuppt sich als eine Heuschrecke. Tagsüber bewegen sich die Insekten kaum. Im Laub- und Zweigwerk des Waldes, den sie nachahmen, sind sie in dieser Zeit so gut wie nicht zu sehen. Das ist der Sinn der Sache: Sie bleiben für natürliche Feinde, für Vögel, Echsen und Schlangen, die auf der Jagd nach Beute sind, unsichtbar. Erst wenn die Nacht hereinbricht, legen Stab- und Laubheuschrecken ihre pflanzliche Unbeweglichkeit ab und gehen selber auf Nahrungssuche. Jetzt können wir ihre Verkleidung bewundern - dank unseres künstlichen Lichts.

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    Mit zwei auffälligen roten „Fahnen" an den Hinterbeinen versucht die Passionsblumenwanze, den Schnabel eines hungrigen Vogels von ihrem Körper auf notfalls entbehrliche Gliedmaßen zu lenken.
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    Eine fingerlange Heuschrecke tarnt sich als flechtbewachsenes Rindenstück und ist auf dem dem Ast kaum zu erkennen. Zu einer guten Tarnung gehört auch das passende Verhalten: Das Insekt bleibt den ganzen Tag reglos sitzen, damit seine Umrisse einen möglichen Feind nicht auffallen.

    Tarnen und Täuschen ist ein viel benutztes Erfolgsprinzip in der Natur. Oft wird es unter dem Schlagwort Mimikry zusammengefasst, aber damit erfasst man nur einen Teil der Strategien, die Umwelt durch Nachahmung auf eine falsche Fährte zu führen. Mimikry im engeren Sinn bedeutet, dass eine harmlose Tierart mit auffälligen Farben eine gefährliche oder giftige imitiert. So wie eine schwarz-gelbe Schwebfliege, die vorgibt, eine Wespe zu sein. Daneben gibt es die Mimese: So nennen Biologen den Trick, wenn ein Tier sich wie ein Blatt oder ein Zweigstück tarnt. Hier ist Unauffälligkeit die oberste Devise. In Panama fand ich eine Gottesanbeterin, die wie der Stängel einer Zichorie aussah - eine ideale Verkleidung für ein Tier, das Jagd auf blätterfressende Insekten macht und selber von insekten­fressenden Reptilien und Vögeln gejagt wird.

    Umgekehrt geht es auch: Ein Schwindler präsentiert etwas, um aufzufallen. Der Anglerfisch zum Beispiel schwenkt seinen Kopf, an dem ein fleischiges Anhängsel wie ein Wurm aussieht. Lässt sich ein anderer Fisch davon ködern - happs, verschwindet er im Rachen des Anglers. Viele Orchideen tragen Blüten, die wie verwesendes Fleisch aussehen und riechen. Damit locken sie Fliegen an, die auf den Blüten landen, sich mit Pollen einstäuben und möglicherweise die nächste Orchidee befruchten.

    Die Täuschung kann auf alle Sinne zielen. Bei uns Menschen, den vor allem mit den Augen wahrnehmenden Primaten, wirkt die optische Irreführung am besten: Wie leicht übersehen wir den Frosch im Bachbett, der so glatt, rund und anorganisch aussieht wie die Steine um ihn herum. Und wir erschrecken vor einer Raupe, die bei Gefahr ihr Vorderende in die Höhe hebt und ein fluoreszierendes, rosafarbenes "Gesicht" mit einem Paar furchterregender "Augen" sehen lässt.

    Mit zwei auffälligen roten „Fahnen" an den Hinterbeinen versucht die Passionsblumenwanze, den Schnabel eines hungrigen Vogels von ihrem Körper auf notfalls entbehrliche Gliedmaßen zu lenken.
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    Die Wanze Hyalymenus (kopfüber) ist gut sichtbar - und doch kaum zuerkennen. Sie sieht aus wie eine Armeise und verhält sich auch so. Räuber, die gelernt haben, Ameisen zu meiden, weil sie aggressiv sind und Säure spritzen, machen auch um solchen Nachahmer einen Bogen.

    Es gibt aber auch die akustische Täuschung: Manche Schmetterlinge aus der Gruppe der Bärenspinner schrecken Fledermäuse ab, indem sie das Ultraschallklicken einer giftigen Motte nachahmen. In Asien lebt ein Vogel, der wegen einer markanten Schwanzfeder Flaggendrongo genannt wird. Er ahmt die Gesänge anderer Vogelarten nach, um sie zu einem gemischten Schwarm zu versammeln. In diesem kann er dann mit weniger Aufwand und Risiko Insekten suchen und fressen. Es gibt auch Tiere, die mit falschen Düften arbeiten: Die Bolaspinne Mastophora hutchinsoni lockt männliche Motten an, indem sie ein perfektes Imitat des Parfüms der Mottenweibchen ausscheidet. Sogar eine Art Tastmimikry kennt die Natur: Dieser bedient sich ein parasitischer Pilz, der sich in Termitenbauten einmietet. Termiten sind eigentlich aufmerksame Bewacher ihres Heims. Wie also schafft es der Pilz, dass er nicht hinausgeworfen wird? Er imitiert die Form und Oberflächen­beschaffenheit reifer Termiteneier.

    (NG, Heft 9 / 2009)

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