Gurkenwasser gegen Glätte
Als Schutz vor Glatteis verteilt die Straßenmeisterei Dingolfing Gurkengärlake aus der Konservenproduktion auf den Straßen. Das reduziert den Streusalzverbrauch.
Andreas Maier steht im Salzdepot der Straßenmeisterei Dingolfing. Dank recycelter Gurkengärlake braucht der Winterdienst weniger Salz gegen Glatteis auszubringen.
Straßenmeisterei Dingolfing, 10 Uhr vormittags, strahlend blauer Himmel. Dienststellenleiter Andreas Maier ruft zum wiederholten Mal den Wetterbericht ab. Für die Nacht werden Nebel, Nieselregen und Minustemperaturen vorhergesagt. Es besteht akute Glättegefahr. Maier weist seine Mitarbeiter in der orangen Uniform an, mit Streufahrzeugen vorsorglich Sole auf die umliegenden Straßen auszubringen.
Noch vor zwei Jahren hätte ein Mitarbeiter jetzt Salz in eine mit Wasser befüllte Aufbereitungsanlage gestreut und eine Sole mit 22 Prozent Salzgehalt, der empfohlenen Konzentration für den Winterdienst, angerührt. Heute jedoch steht ein fertiges Gemisch für das 250 Kilometer umfassende Straßennetz zur Verfügung. Und die Sole stammt aus Gurkenabfällen.
Es riecht würzig, wenn man die Produktionsräume der Firma Develey betritt. In rund 1000 Silos schwimmen Gurken, die zuvor im Anbaugebiet Straubing geerntet wurden. Ist das Gemüse zur Weiterverarbeitung bereit, bleiben rund 10 000 Liter Gärlake pro Silo zurück. Normalerweise wird der salzhaltige Sud über eine Kläranlage in die Kanalisation abgeleitet.
Wäre es nicht sinnvoller, die Gurkenabwässer als Schutz gegen Glatteis auf niederbayerischen Straßen auszubringen, statt sie wegzugießen? „Als unser Nachbar, der Feinkosthersteller, mit dem Vorschlag auf uns zukam, fand ich das natürlich erst mal lustig“, erzählt Maier freimütig. „Im Grunde leuchtete uns die Idee aber gleich ein: Die werfen Salzwasser weg, wir produzieren das extra.“
Einer stellte Sole her, der andere warf welche weg. Also tat man sich zusammen.
Die wenigen Hürden des ungewöhnlichen Unterfangens waren schnell genommen. Zum einen wird der Sud von pflanzlichen Schwebeteilchen gereinigt und mit zusätzlichem Salz auf die erforderlichen 22 Prozent angereichert. Zum anderen wurden die Abläufe synchronisiert. Der Gurkenfabrikant produziert das ganze Jahr über Lebensmittel, die Straßenmeisterei aber braucht die Sole nur von November bis Anfang April und auch dann mal mehr und mal weniger und bei Blitzeis sofort. Lösung: Ein Tanklaster transportiert die Gärlake die paar Meter von einem Betriebsgelände zum anderen, wo sie in zwei Tanks mit zusammen circa 80 000 Litern umgefüllt wird.
In diesem Winter ging das Pilotprojekt in den Regelbetrieb über. Das Gurkenwasser erwies sich als eine ökologisch sinnvolle Alternative zum gängigen Streusalz, das seit Jahren in der Kritik steht. Streusalz besteht in der Regel überwiegend aus Natriumchlorid, also normalem Kochsalz. Ausgestreutes Salz setzt sich im Boden ab und schädigt dort die Pflanzenwurzeln, wodurch diese Wasser und Nährstoffe schlechter aufnehmen. Die Pflanzen werden anfälliger für Krankheiten und vertrocknen eher. Bei direktem Kontakt wirkt das Salz ätzend. Mit dem Schmelzwasser gelangt es außerdem in Flüsse, Seen sowie ins Grundwasser. In vielen Städten und Gemeinden ist Salzstreuen für Privatpersonen explizit verboten.
Mit dem Gurkenwasser sickert zwar weiterhin Salz in die Böden. „Spätestens auf den großen Bundesstraßen und erst recht auf den Autobahnen gibt es bisher leider keine Alternative“, räumt Maier ein. Sand, Splitt oder Sägespäne müssen nach dem Winter aufgekehrt und gewaschen werden, bevor sie deponiert werden dürfen, der Waschschlamm gilt als Sondermüll. „Wir können aber versuchen, den Einsatz von Salz auf ein Minimum zu beschränken.“
Schon durch die Verwendung von Sole lassen sich bis zu 75 Prozent der Salzmenge gegenüber Trockensalz einsparen. Der Einsatz von Gurkengärlake verstärkt den positiven Effekt noch. Insgesamt gelangt weniger Salz in die Umwelt. Und wer sich wegen des Geruchs Gedanken macht, dem versichert Maier: „Man riecht nichts, wir gießen die Lake schließlich nicht direkt aus dem Gurkenglas auf die Straße.“
Dieser Artikel erschien in voller Länge in der Januar 2021-Ausgabe des deutschen NATIONAL GEOGRAPHIC Magazins. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!