Blick von oben: Wie der Mensch die Welt verändert

Luftaufnahmen sind wie „naturierte Landkarten“. Sie zeigen, wie menschliche Aktivitäten die Erde verändert haben.

Von Christof Mauch
Veröffentlicht am 5. Apr. 2024, 16:07 MESZ
Zerstörte Landschaft in Estland von oben

In der Nähe der estnischen Stadt Narva liegt eine leblose Mülllandschaft, geprägt von toxischen Seen, Aschebergen und verschmutztem Wasser. Die Ölgewinnung aus dem Sedimentgestein Kuckersit hinterlässt markante Narben in der Umwelt.

Foto von Bernhard Lang

Die Aktivitäten der ersten Menschen, die sich vor etwa 300 000 Jahren entwickelten, hinterließen lange Zeit nur an ganz wenigen Orten Spuren, die man aus der Luft hätte wahrnehmen können. Menschen nutzten Feuer, holzten Wälder ab, bauten Getreide an, machten Weideflächen frei und domestizierten Tiere. Die Auswirkung ihrer Aktivitäten auf die Erdhülle blieb begrenzt und schrieb sich nur punktuell und an der Oberfläche in die Erde ein. Der Planet bot alles, was die Menschen zum Leben brauchten. Er fungierte als ein Fundament, von dem sich bis weit ins 20. Jahrhundert niemand vorstellen konnte, dass es Risse bekommen und eines Tages für menschliches Leben nicht mehr förderlich sein könnte.

Erst als die Industrialisierung, angeheizt von kohlebetriebenen Maschinen, in großem Stil ein­setzte, begannen Menschen, zuallererst in Europa, ihre Umwelt so massiv zu verändern, dass sich die Aktivitäten auf dem Globus, tief und deutlich sichtbar, in die Kruste der Erde einschrieben: als Kanäle zum Beispiel, durch Gewinnung von Rohstoffen im Tagebau oder durch den Bau von Metropolen und Millionenstädten. Im Laufe der Geschichte haben Menschen Fertigkeiten erlernt, Technologien entwickelt und Höchstleistungen erbracht, die sich noch vor hundert Jahren kaum einer hätte erträumen können. Gleichzeitig hat der Mensch überall auf dem Globus Abfallspuren hinterlassen 2018 entdeckten Meeresforscher im Marianengraben, nahezu 11 000 Meter unter der Meeresoberfläche, eine Plastiktüte. Desgleichen fanden Wissenschaftler auf dem höchsten Berg der Erde menschengemachte sogenannte ewige Chemikalien.

​Draufsicht und Einsicht

Anders als die Landkarten in Atlanten und auf Globen, die staatliche Grenzen markieren und politische Territorien farblich voneinander abgrenzen, zeigen Luftfotografien die tatsächliche Oberfläche der Erde: Formationen, die die Natur über geologische Tiefenzeiten hinweg ausgebildet hat – Wasser und Land, Erhebungen und Ebenen, Sümpfe und Moore, Seen und Flüsse. In diesem Sinne wirken sie einerseits wie „naturierte Landkarten“, andererseits bilden sie all das ab, was menschliche Aktivitäten und Interventionen mit der Erdoberfläche gemacht haben und was neu geschaffen wurde. Der Blick aus der Vogelperspektive gibt manchmal Rätsel auf: Was ist da zu sehen? Wo könnte es sein? Wie und warum ist die Welt so geworden? Hinter dem unmittelbar Sichtbaren gibt es immer versteckte Zusammenhänge, die spannende, oft verblüffende Geschichten auftun.

In meiner Zusammenarbeit mit dem Fotografen Bernhard Lang geht es mir als Umwelthistoriker darum, statische Aufnahmen zu dynamisieren, Geschichten zu erzählen, die die Bilder zum Leben erwecken und größere historische Kontexte einholen. Viele der Bilder, die Bernhard Lang vom Helikopter aus gemacht hat, sind Indizien für den unerhörten Impact des Menschen. Massentourismus und Suburbanisierung, Containerschifffahrt und Aquakultur, Braunkohleabbau und Fracking, Rindermast, Plantagenwirtschaft und Flugzeugfriedhöfe – fast alle seine Aufnahmen zeigen menschliche Aktivitäten, die auf dem rasanten Verbrauch von fossilen Rohstoffen basieren. Alle haben die globale Verfügbarkeit von Produkten beschleunigt, alle haben uns mobiler und das Leben auf dem Planeten komfortabler gemacht. Die Abhängigkeit von Energieträgern hat dabei aber auch große Umwelt- und Gesundheitsrisiken hervorgebracht: die Zerstörung von Landschaften durch Bergbau zum Beispiel, Zerstörung der Böden durch Monokulturen, Erderwärmung und Verlust der Artenvielfalt … Die Liste ließe sich leicht verlängern. Sie benennt die Verletzlichkeiten, die in den letzten Jahrzehnten ein drastisches – und für das Überleben der Menschheit potenziell zerstörerisches – Ausmaß erreicht haben.

​Einfluss des Menschen: Vergleichbar mit der Wucht eines Asteroideneinschlags

Einer der Ersten, der erkannte, dass sich mit der Industrialisierung etwas Fundamentales geändert hatte, war der Meteorologe und Nobelpreisträger Paul Crutzen. Auf einer heute legendären Konferenz im Februar 2000 im mexikanischen Cuernavaca meldete er sich irritiert zu Wort. Ihn störte, dass in den Diskussionen immerzu vom Holozän als der heutigen geologischen Epoche die Rede war: „Wir sind nicht mehr im Holozän“, rief er – und benannte die Epoche, in der wir heute leben, nach einer kurzen Pause als „Anthropozän“, Zeitalter des Menschen. Ob sich der Begriff hält, bleibt abzuwarten. Fest steht allerdings, dass anthropogene Produktionen und Manipulationen die Oberfläche der Erde in den letzten Jahrzehnten ungleich schneller und tiefgreifender verändert haben, als dies Vulkane, Tsunamis und Erdbeben tun. Der Zeitraum, in dem Menschen die Erde radikal verändert haben, ist vor dem Hintergrund der geologischen Zeit nicht viel mehr als ein Wimpernschlag. Wucht und Wirkung sind dagegen so mächtig, dass sie sich allenfalls mit dem Einschlag jenes Asteroiden vergleichen lassen, der vor 66 Millionen Jahren die Dinosaurier zum Aussterben gebracht hat und den Beginn eines neuen Erdzeitalters signalisierte. Der Mensch ist, mit anderen Worten, in neuester Zeit von einem historischen Akteur zu einem unübersehbaren Faktor der planetaren Geologie geworden.
 

Cover Wie der Mensch die Erde verändert

Foto von Frederking & Thaler Verlag / Bernhard Lang

Christof Mauch ist u. a. Direktor des Rachel Carson Centers für Umwelt und Gesellschaft und Professor für Amerikanische Kulturgeschichte an der LMU München. Gemeinsam mit dem Fotografen und Luftbildspezialisten Bernhard Lang ist er Verfasser des neuen Buchs, dem wir Fotos und diesen Textauszug entnehmen: „Wie der Mensch die Erde verändert“, Christof Mauch, Bernhard Lang (Fotos), Frederking & Thaler, 180 S., 49,99 Euro.

 

 

 

 

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