Energiewende - Vorbild Deutschland
Wir schalten Atomkraftwerke ab und bauen stattdessen Wind- und Solarenergieanlagen. Seit 1990 haben wir unsere CO2-Emissionen um 27 Prozent gesenkt. Ein amerikanischer Journalist erklärt, warum die Welt von uns lernen kann.
Zusammenfassung: Der Klimawandel und die Reaktor-Katastrophen in Fukushima und Tschernobyl haben in Deutschland zur Energiewende geführt. Wir schalten Atomkraftwerke ab und bauen stattdessen Wind- und Solarenergieanlagen. Seit 1990 haben wir unsere CO2-Emissionen um 27 Prozent gesenkt. Der amerikanische Journalist Robert Kunzig suchte nach dem Ursprung des deutschen Umweltbewusstseins und erklärt, warum die Welt von uns lernen kann.
In Hamburg wusste man: Die Bomber würden kommen. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter hatten ein halbes Jahr, um zur Abwehr einen weiteren gigantischen Flakturm zu bauen. Im Juli 1943 war er fertig: Ein fensterloser Würfel aus Stahlbeton mit zwei Meter dicken Mauern und einem noch dickeren Dach erhob sich wie eine mittelalterliche Festung nahe der Elbe. Seine Geschütze würden die Kampfflugzeuge der Alliierten vom Himmel fegen, versprachen die Nazis.
Es kam anders. Nur Wochen nach der Fertigstellung des Hochbunkers im Stadtteil Wilhelmsburg steuerten britische Flieger auf die Kirche St. Nikolai im Zentrum zu. Sie warfen Stanniolstreifen ab, um die deutschen Radaranlagen und die Flak-Schützen zu irritieren. Im anschließenden Feuersturm wurde halb Hamburg zerstört, mehr als 34000 Menschen kamen um. Irgendwie überstand der Turm von St. Nikolai den Angriff. Heute ist er ein Mahnmal für die Schrecken des Krieges und die Terrorherrschaft der Nazis – genau wie der damals nutzlose Flakturm.
Jetzt hat er jedoch eine neue Bedeutung: Die IBA Hamburg, eine Firma, die Stadtentwicklung betreibt, und Hamburgs eigener städtischer Energieversorger, Hamburg Energie, haben das schändliche Bild der deutschen Vergangenheit gewandelt - in eine hoffnungsvolle Zukunft.
Im zentralen Raum des Energiebunkers Wilhelmsburg, in dem einst Tausende Hamburger vor dem Feuersturm Schutz suchten, liefert heute ein sechsstöckiger, zwei Millionen Liter fassender Heißwassertank Wärme und Warmwasser für etwa 800 Haushalte. Beheizt wird es durch die Verbrennung von Gas aus der Abwasseraufbereitung, mit der Abwärme eines nahe gelegenen Industriebetriebs und von Sonnenkollektoren auf dem Dach. Eine Fotovoltaikanlage an der Südseite des Bunkers wandelt Sonnenlicht in Elektrizität um – ausreichend Strom für 1000 Haushalte. An der Nordbrüstung, dort, wo einst die hilflosen Flak-Schützen die Flammen über dem Stadtzentrum auflodern sahen, schaut man aus einem Café mit Aussichtsterrasse über die Skyline, aus der nun 17 Windräder emporragen.
Könnte es sein, dass Deutschland der Vorreiter eines beispielgebenden Wandels ist? Die Deutschen selbst betrachten die eigenen Fortschritte zwar durchaus kritisch, doch viele Wissenschaftler aus dem Ausland sagen: Wolle man eine Klimakatastrophe auf der Erde wirklich verhindern, müssten alle Länder dem deutschen Beispiel folgen – der sogenannten „Energiewende“. Unter den Industrienationen gilt die Bundesrepublik heute als richtungweisend. Im Jahr 2014 lieferten Wind, Sonne und andere Quellen erneuerbarer Energie bereits 27 Prozent des Strombedarfs – dreimal so viel wie noch vor zehn Jahren und mehr als doppelt so viel wie in den USA . Der Umschwung nahm 2011 Tempo auf, nach der Kernschmelze im japanischen Atomkraftwerk Fukushima. Kanzlerin Angela Merkel kündigte damals an, Deutschland werde bis 2022 alle 17 aktiven Atomreaktoren herunterfahren. Neun sind schon abgeschaltet, erneuerbare Energien haben die Lücke mehr als gefüllt.
Welche Bedeutung diese Entwicklung in Deutschland jedoch letztlich für die Welt hat, entscheidet sich bei einer anderen Frage: Kann das Land aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe ebenso konsequent aussteigen? Der Ausstoß von CO2 müsste bis Ende des Jahrhunderts weltweit auf null fallen, um die globale Erwärmung in einem Rahmen zu halten, der katastrophale Änderungen der Ökosysteme höchstwahrscheinlich ausschließt. Deutschland, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, hat versprochen, seine Emissionen im Vergleich zum Jahr 1990 radikal zu senken: um 40 Prozent bis 2020 und um mindestens 80 Prozent bis 2050. Ob es das Versprechen einlösen wird, ist offen.
Konventionelle Versorgungsbetriebe drängen darauf, den Prozess zu bremsen. Das Land gewinnt noch immer viel mehr Strom aus Kohle als aus erneuerbaren Energiequellen. Und auch in den Bereichen Transport, Verkehr und Heizung, die zusammen mehr Kohlendioxid ausstoßen als die Kraftwerke, müsste stark umgesteuert werden.
„Die Energiewende ist ein Generationenprojekt. Sie wird bis 2040 oder 2050 dauern, und es wird nicht leicht“, sagt Gerd Rosenkranz, ehemaliger „Spiegel“-Journalist und jetzt Analyst beim Berliner Thinktank Agora Energiewende. „Sie hat den Strom für den privaten Verbraucher teurer gemacht. Auf die Frage ‚Wollen Sie die Energiewende‘ antworten dennoch neun von zehn mit Ja.“
„Warum?“ Das fragte ich mich, als ich, ein amerikanischer Journalist, in diesem Frühjahr durch Deutschland reiste. Warum geht gerade dieses Land auf dem Weg in die Zukunft voran? Und: Werden andere folgen?
Video: Von Windkraft bis hin zu umfunktionierten AKWs: Deutschland wird grüner
Ein Mythos sagt, der Ursprung der Deutschen liege im Herzen des Waldes . Dieser Mythos lässt sich bis zum römischen Historiker Tacitus zurückverfolgen. Er schrieb vor 2 000 Jahren über die teutonischen Horden, die in ihren Wäldern die römischen Legionen massakrierten. Im 19. Jahrhundert verklärten deutsche Romantiker die Waldeslust. Bis heute, sagt der Ethnologe Albrecht Lehmann, sei „der deutsche Wald“ ein prägender Teil der deutschen Identität, dahin gingen die Deutschen, um ihre Seele zu erneuern. Und in dieser Tradition wurzele die Sorge um die Umwelt.
Als in den späten Siebzigern Abgase aus Autos und Kohlekraftwerken sauren Regen niedergehen ließen und das „Waldsterben“ Schlagzeilen machte, erhob sich ein landesweiter Aufschrei. Schon das Öl-Embargo von 1973, als die arabischen Förderstaaten die Lieferung zeitweise einstellten, hatte die Deutschen über die Zukunft der Energieversorgung nachdenken lassen. Man wollte unabhängig werden. Und nun drohte auch noch der Wald zu sterben, aufgrund von Abgasen. „Weg von Kohle, Öl und Gas!“, so lautete die Forderung. Doch als Regierung und Energieversorger auf die verstärkte Nutzung der Atomenergie drängten – „sauber“, weil frei von CO2-Emissionen – protestierten viele.
In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg musste ein zerstörtes Land wiederaufgebaut werden. Obrigkeit und Vergangenheit wurden deshalb kaum infrage gestellt. Doch in den Siebzigerjahren war der Wiederaufbau abgeschlossen, eine neue Generation begann, unabhängig zu denken. „Es gab eine gewisse Aufmüpfigkeit“, so beschreibt es Josef Pesch heute. „Man akzeptierte die Obrigkeit nicht mehr blind.“
Pesch, ein Mann in den Fünfzigern, ist selbst einer dieser Aufmüpfigen. Ich habe mich mit ihm und dem Ingenieur Dieter Seifried in einem Restaurant auf dem Gipfel des Schauinsland verabredet, am Rand des Schwarzwalds. Ein Stück bergauf stehen zwei 98 Meter hohe Windräder. Pesch hat 521 Bürger überzeugt, in das Projekt zu investieren. Es dürfte ihm nicht schwergefallen sein in dieser Gegend, die man wohl als eine Keimzelle der Energiewende bezeichnen darf.
Die Wende begann hier mit dem Thema Atomstrom, genauer: mit einem Kraftwerk, das nie gebaut wurde. Ohne den Reaktor von Wyhl würden demnächst die Lichter in Freiburg ausgehen, warnte die Landesregierung von Baden-Württemberg damals in den Siebzigern. Bauern und Studenten ließen sich nicht beeindrucken. 1975 begannen sie, die Baustelle am Rhein, 30 Kilometer vom Schauinsland, zu besetzen. Die Proteste dauerten fast ein Jahrzehnt und zwangen die Regierung, ihre Pläne aufzugeben. Es war das erste Mal, dass der Bau eines Atomkraftwerks in Deutschland verhindert wurde.
Die Lichter gingen nicht aus. Aber eine Bewegung war geboren. Freiburg wurde zur Solarstadt. Und Baden-Württemberg zu einer Hochburg für erneuerbare Energien. Das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung ist heute weltweit führend bei der Entwicklung von Sonnenenergie-Systemen. Die Solarsiedlung in Freiburg gilt als Vorzeigeobjekt, sie besteht aus 50 Häusern, die allesamt mehr Energie produzieren, als sie verbrauchen. In der ganzen Region blühen grüne Ideen. Rolf Disch, der Architekt, der die Solarsiedlung geplant hat, hat für sich selbst in der Nähe von Freiburg ein zylinderförmiges Haus entworfen, das sich dreht und wie eine Sonnenblume der Sonne folgt.
„Wyhl war der Anfang“, sagt Seifried. Er hat das Öko-Institut mit gegründet, das 1980 eine Studie mit dem Titel „Energiewende“ publizierte. Damit war der Name für eine Initiative, die noch nicht einmal geboren war, in der Welt.
Als ich im Frühjahr nach Deutschland kam, dachte ich: „Die spinnen, die Deutschen. Wie können sie eine CO2-freie Energiequelle aufgeben, die bis 2011 ein Viertel ihrer Elektrizität produzierte?“ Als ich abreiste, war ich überzeugt: Ohne Anti-Atomkraft-Stimmung hätte es die Energiewende nicht gegeben. Die Angst vor einer atomaren Kernschmelze ist ein viel stärkeres Motiv als die Furcht vor den eventuellen Folgen langsam steigender Temperaturen.
Aber warum kämpfen ausgerechnet die Deutschen so entschlossen gegen Atomkraft, während auf der anderen Seite des Rheins, in Frankreich , weiterhin 75 Prozent der Energie aus Kernkraftwerken kommen? Auch hier landet man wieder beim Thema „Zweiter Weltkrieg“: Nach dessen Ende war Deutschland ein geteiltes Land, es lag direkt auf der Frontlinie des Kalten Kriegs, an der sich zwei Mächte gegenüberstanden, die sich mit den größten Massenvernichtungswaffen bedrohten. Der Kampf gegen Atomstrom ging in Deutschland immer einher mit dem Kampf gegen Atomwaffen. So begann die Bewegung. Und heute richtet sich der Widerstand nicht mehr nur gegen die Nuklearenergie.
Überall in Deutschland höre ich dieselbe Geschichte. Ich höre sie von Seifried und Pesch auf dem Schauinsland. Von Rosenkranz in Berlin, der 1980 monatelang mit anderen eine Stätte für ein nukleares Endlager besetzte. Oder von Wendelin Einsiedler, einem bayerischen Milchbauern, der dazu beitrug, sein Dorf in einen grünen Dynamo zu verwandeln.
Alle sagen sie heute: Deutschland muss beides aufgeben, Atomkraft und fossile Brennstoffe. „Man kann den Teufel nicht mit dem Beelzebub austreiben“, sagt Hans-Josef Fell, ehemals energiepolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. „Beide müssen weg.“ Volker Quaschning, Energieforscher an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin, formuliert es so: „Atomkraft betrifft mich persönlich. Der Klimawandel betrifft meine Kinder.“
Als es 1983 die ersten Vertreter der Grünen in den Bundestag schafften, brachten sie neue ökologische Ideen in die politische Debatte ein. 1986 explodierte schließlich der Reaktor im sowjetischen Tschernobyl, und nun ließ sich auch die SPD zum Anti-AKW-Kurs bekehren. Obwohl Tschernobyl Hunderte von Kilometern entfernt war, erreichte eine radioaktive Wolke Deutschland. Eltern wurden dringend ermahnt, ihre Kinder nicht ins Freie zu lassen. Tschernobyl war ein Wendepunkt.
Doch es musste noch eine weitere Atomkatastrophe geschehen – Fukushima –, um Kanzlerin Merkel und ihre Christdemokraten zur Einsicht zu bewegen, dass alle Atommeiler abgeschaltet werden sollten. Dabei half sicher, dass die erneuerbaren Energien sich auf breiter Linie durchzusetzen begannen. Der Hauptgrund dafür war ein Gesetz, an dem Hans-Josef Fell im Jahr 2000 mitgearbeitet hatte.
Fells Haus im nordbayerischen Hammelburg ist zwischen all dem blassen Nachkriegsverputz leicht auszumachen: Es ist das aus dunklem Lärchenholz, das mit dem Grasdach. An der Südseite ist das Gras zum Teil mit Solarzellen bedeckt, die Strom und heißes Wasser erzeugen. Wenn es nicht genügend Sonne gibt, um Elektrizität oder Wärme zu produzieren, verbrennt ein Blockheizkraftwerk im Keller Sonnenblumen- oder Rapsöl.
Fell ist ein großer Mann, ein grauer Bart rahmt sein Gesicht. Manchmal klingt er wie ein Prediger – aber er ist kein Asket. Im Hof steht neben einem Schwimmteich ein Schuppen mit einer Sauna, die vom selben grünen Strom beheizt wird, der auch sein Haus und sein Auto versorgt. „Der größte Fehler der Umweltbewegung war zu sagen: ‚Schnallt den Gürtel enger. Konsumiert weniger‘ “, sagt er. „Die Menschen verbinden so etwas mit dem Verzicht auf Lebensqualität. Die Botschaft muss lauten: ‚Macht es anders – mit billiger erneuerbarer Energie.‘“
Von Fells Garten aus konnte man die weißen Dampfwolken aus dem AKW Grafenrheinfeld sehen. Sein Vater, der konservative Bürgermeister von Hammelburg, trat für Kernenergie und den örtlichen Truppenstützpunkt ein. Fell junior demonstrierte in Grafenrheinfeld gegen die Atomkraft und ging vor Gericht, um vom Militärdienst befreit zu werden. Jahre später, sein Vater war bereits im Ruhestand, wurde der Sohn in den Hammelburger Stadtrat gewählt.
Es war 1990, das Jahr der deutschen Wiedervereinigung. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit passierte ein Gesetz den Bundestag, das die Energiewende kräftig ankurbelte. Auf nur zwei Seiten verankerte es ein entscheidendes Prinzip: Erzeuger von Strom aus Wind und Sonne bekamen das Recht, den Überschuss ins öffentliche Netz einzuspeisen; die Energieversorgungsunternehmen mussten sie dafür bezahlen.
Im Norden sprießten Windräder aus dem Boden, doch Fell, der bereits Fotovoltaikmodule auf seinem Dach installiert hatte, erkannte: Das Gesetz würde nicht reichen. Privatpersonen wurden zwar für die Produktion von Energie bezahlt, aber nicht ausreichend. 1993 überzeugte er den Stadtrat von Hammelburg, eine Verordnung zu erlassen, die den lokalen Energieversorger verpflichtete, Erzeugern erneuerbarer Energie mehr zu zahlen als nur die entstandenen Kosten. Fell organisierte auch eine Gemeinschaft privater Gesellschafter aus der Region, die in Fotovoltaikanlagen des Ortes investierten. Die Gesamtleistung von 15 Kilowatt war aus heutiger Sicht lächerlich, doch die Gemeinschaft war eine der Ersten ihrer Art. Heute gibt es in Deutschland einige Hundert private Energieerzeuger.
1998 wurde Fell in den Bundestag gewählt. Die Grünen bildeten eine Regierungskoalition mit der SPD. Zusammen mit Hermann Scheer von der SPD, einem Förderer der Solarenergie, entwarf er ein Gesetz, das im Jahr 2000 das Hammelburger Experiment landesweit ausdehnte und seitdem auf der ganzen Welt als Vorbild dient. Profitable Einspeise-Tarife wurden für 20 Jahre garantiert.
„Die Vergütung muss so hoch sein, dass die Investoren eine Rentabilität erreichen können“, sagt Fell: „Das war mein Grundprinzip. Wir leben nun mal in einer Marktwirtschaft.“
„Dass die Idee so einen Erfolg hat, daran habe ich damals nicht geglaubt“, sagt Milchbauer Wendelin Einsiedler. Von seinem Wintergarten im bayerischen Wildpoldsried aus kann man die Alpen sehen, auf einer Anhöhe hinter dem Kuhstall drehen sich neun Windräder. Der Geruch von Stallmist weht herüber.
Einsiedler leitete in den Neunzigerjahren mit einer einzigen Windkraftanlage und einem Gülle-Fermenter seine private Energiewende ein. Er und sein Bruder Ignaz, ebenfalls Milchbauer, verbrannten das im Fermenter entstandene Methangas in einem kleinen Blockheizkraftwerk und produzierten Wärme und Elektrizität für ihre Höfe. „Es ging nicht darum, Geld zu machen“, sagt Einsiedler. „Es war purer Idealismus.“
Aber nachdem das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) im Jahr 2000 durch war, expandierten die Einsiedlers. Heute besitzen sie fünf Fermenter, die sowohl die Maissilage als auch die Gülle von acht Milchviehbetrieben verarbeiten. Sie leiten das Biogas fünf Kilo-meter weit nach Wildpoldsried. Dort wird es in Blockheizkraftwerken verbrannt und versorgt sämtliche öffentlichen Gebäude, einen Gewerbepark und 130 Haushalte. „Es erspart eine unglaubliche Menge an CO2“, sagt Bürgermeister Arno Zengerle.
Mit Biogas, Solarmodulen auf zahlreichen Dächern und Windrädern erzeugen die Wildpoldsrieder fast fünfmal so viel Strom, wie das Dorf verbraucht. Windräder verändern die Landschaft, sie sind nicht überall unumstritten. Gegner sprechen von „Verspargelung“. Doch wenn die Menschen finanziell an dem „Spargel“ beteiligt seien, sagt Einsiedler, dann ändere sich ihre Einstellung. Es sei nicht schwergefallen, Anteilseigner für die Räder zu finden.
Bei einem Einspeisungstarif von Anfangs 50 Cent pro Kilowattstunde ließen sich Bauern und Hausbesitzer auch leicht überzeugen, Solarpaneele auf ihre Dächer zu montieren. Auf dem Höhepunkt des Booms im Jahr 2012 wurden in Deutschland in einem einzigen Jahr Fotovoltaikmodule mit einer Gesamtleistung von 7,6 Gigawatt installiert. Das entspricht der Produktion von sieben Atomkraftwerken. Die deutsche Solarzellenindustrie florierte, bis sie von chinesischen Billigproduzenten unterboten wurde. Schlecht für deutsche Hersteller, aber dafür werden weltweit so viele Solaranlagen installiert wie noch nie.
Dank Fells Gesetz sanken die Kosten von Sonnen- und Windenergie, in vielen Regionen wurden sie im Vergleich zu Kohle, Öl und Gas wettbewerbsfähig. „Wir haben innerhalb von 15 Jahren eine vollkommen neue Situation geschaffen“, sagt Fell. „Das ist der Riesenerfolg des Erneuerbare-Energien-Gesetzes.“
Bei den Wahlen 2013 verlor Fell seinen Sitz im Bundestag. Jetzt lebt er wieder in Hammelburg, aber er hat nicht mehr die Dampfwolken von Grafenrheinfeld vor Augen: Im Juni dieses Jahres wurde der Reaktor vom Netz genommen. Niemand, nicht einmal die Industrie, glaubt, dass die Atomkraft in Deutschland je wieder eine Rolle spielen wird. Doch mit der Kohle sieht das anders aus.
Deutschland bezog im vorigen Jahr noch 44 Prozent seines Stroms aus Kohle – 18 Prozent aus überwiegend importierter Steinkohle und etwa 26 Prozent aus heimischer Braunkohle. Das ist ein Grund, warum das Land Gefahr läuft, sein selbst gesetztes Ziel bei der Reduzierung von CO-Emissionen zu verfehlen.
Deutschland ist der weltweit größte Braunkohleförderer. Um CO2 einzusparen, wäre es sinnvoll, Braunkohle durch Gas zu ersetzen. Doch während erneuerbare Energien das Netz fluteten, ist etwas passiert: Auf der Energiebörse in Leipzig, auf der Stromlieferverträge gehandelt werden, fielen die Preise. Der teure Strom aus gasbetriebenen Kraftwerken ist darum heute nicht konkurrenzfähig. Und so laufen alte Braunkohlekraftwerke mit Volldampf, während moderne Gaskraftwerke, die nur halb so viel Treibhausgas erzeugen, stillstehen.
„Natürlich müssen wir einen Weg finden, um von der Kohle loszukommen“, sagt Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Bundesumweltministerium. „Doch das ist nicht einfach. Wir sind kein Land mit reichen Bodenschätzen. Braunkohle aber haben wir noch jede Menge.“
Aus der Braunkohle auszusteigen ist durch einen weiteren Umstand schwieriger geworden: Deutschlands große Energieversorger schreiben Verluste. Sie behaupten: wegen der Energiewende. Ihre Kritiker sagen: Weil sie versäumt haben, sich auf die Wende einzustellen. E.ON, der größte Energiekonzern, gab für 2014 einen Verlust von mehr als drei Milliarden Euro an.
„In Deutschland hatten die Energiekonzerne nur eine Strategie“, sagt Flasbarth. „Ihren Kurs zu verteidigen: Atomkraft plus fossile Brennstoffe. Sie hatten keinen Plan B.“ Nun hetzen sie dem Zug der Energiewende hinterher und versuchen, noch aufzuspringen. E.ON spaltet sich derzeit in zwei Konzerne auf, einen für Kohle, Gas und Atomkraft, einer für Ökostrom. Geschäftsführer Johannes Teyssen, einst ein Kritiker der Energiewende, wird jetzt Chef der „Erneuerbaren“.
Bei Vattenfall, einem der vier großen Energieunternehmen in Deutschland, versucht man es auf ähnliche Weise. „Wir sind ein Vorbild für die Energiewende“, erklärt mir Konzernsprecher Lutz Wiese gut gelaunt, als er mich in Welzow-Süd willkommen heißt, einem Tagebau an der polnischen Grenze. Hier werden pro Jahr 20 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert. In einer Grube, die 29 Quadratkilometer weit und bis zu hundert Meter tief ist, arbeiten 13 gigantische Schaufelradbagger. Sie legen das Flöz frei, heben die Braunkohle aus, dann kippen sie den Abraum hinter sich, damit das Land wieder bepflanzt werden kann. In einem rekultivierten Areal gibt es einen kleinen experimentellen Weinberg. Auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel steht ein Denkmal für Wolkenberg: Das Dorf war Anfang der Neunzigerjahre dem Tagebau zum Opfer gefallen.
Es ist ein herrlicher Frühlingstag. Am Himmel steht nur die träge wabernde Dampfwolke aus dem Kraftwerk Schwarze Pumpe. Es verbrennt mit seiner Leistung von 1,6 Gigawatt den größten Teil der in Welzow-Süd abgebauten Braunkohle. In einem Konferenzraum erwartet mich Olaf Adermann, zuständig für die Braunkohleförderung. Er sagt, Vattenfall und andere Energieversorger hätten nie erwartet, dass die erneuerbaren Energien sich so schnell durchsetzen würden. Selbst ohne Atomkraftwerke hätte Deutschland zu viel Energie.
„Wir müssen uns auf eine Marktbereinigung gefasst machen“, sagt Adermann. Aber bitte nicht zulasten der Braunkohle. Die sei ein „zuverlässiger und flexibler Partner“, wenn die Sonne nicht scheine und der Wind nicht wehe. Adermann stammt aus der Region. Er ist überzeugt, man werde hier bis 2050 weitermachen – und länger.
Aber vielleicht nicht mehr mit Vattenfall. Der Konzern will sein Braunkohlegeschäft abstoßen. Und sich ganz auf erneuerbare Energien konzentrieren. Er investiert Milliarden Euro in zwei neue Offshore-Windparks in der Nordsee – weil es auf See mehr Wind gibt als an Land und weil ein großes Unternehmen ein großes Projekt braucht, um profitabel zu sein.
Merkels Regierung unterstützt die Verlagerung der Energieerzeugung in Nord- und Ostsee, indem sie den Bau von Solar- und Windkraftanlagen an Land beschränkt hat. Sie hat die Regeln zugunsten großer Konzerne verändert –und zum Nachteil für kleinere Bürgerinitiativen, für jene Bewegung, die einst die Energiewende in Gang gesetzt hat.
Ende April eröffnete Vattenfall DanTysk seinen ersten deutschen Nordsee-Windpark mit 80 Turbinen. Er liegt etwa 80 Kilometer vor der Küste. Die Eröffnungsfeier in einem Hamburger Ballsaal war auch im Süden der Republik, für die Stadt München, Anlass zur Freude. Die Stadtwerke dort halten 49 Prozent an dem Projekt. Damit produziert München jetzt offiziell genug erneuerbare Energie, um seine Haushalte sowie die U-Bahn und die Straßenbahnen zu versorgen. Bis 2025 will die Stadt ihren gesamten Bedarf mit regenerativen Energien decken.
Bei allen Fortschritten: Deutschland gehört in Westeuropa immer noch zu den Ländern mit den höchsten CO2-Emissionen pro Kopf. Gemessen am Vergleichsjahr 1990 hat es allerdings seine Abgase um 27 Prozent vermindert. Das setzt Maßstäbe in der EU und liegt weit vor den Zielvorgaben der Europäischen Union. Dennoch haben Kanzlerin Merkel und ihr Wirtschaftsminister, der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, im letzten Herbst noch einmal ihr Vorhaben bekräftigt, bis zum Jahr 2020 die Emissionen von Treibhausgasen sogar um 40 Prozent zu verringern. Und sich selbst in Zugzwang gebracht.
Im Frühjahr dieses Jahres schlug Gabriel eine Klimaschutzabgabe für alte Kohlekraftwerke vor. Es dauerte nicht lange, bis vor seinem Ministerium 15 000 Bergleute und Kraftwerksarbeiter demonstrierten. Im Juli lenkte die Regierung ein. Statt die Unternehmen zu besteuern, will man ihnen nun Prämien für die Stilllegung einiger alter Kohlekraftwerke zahlen. Das sichert allerdings höchstens die Hälfte der geplanten Emissionssenkungen.
Auch der anfangs euphorisch begrüßte Emissionshandel ist nicht besonders effektiv. Der Plan sah vor, dass Betriebe Zertifikate für CO2-Emissionen erwerben müssen. Wer weniger CO2 ausstößt, könnte die Lizenzen weiterverkaufen. Allerdings wurden viel zu viele Zertifikate in Umlauf gegeben, und sie sind so billig, dass sie der Industrie keinen Anreiz zur Senkung der Schadstoffausstöße bieten.
Auch im Verkehr gibt es Handlungsbedarf. Der Transport produziert fast ein Fünftel aller Emissionen in Deutschland. Die großen Autohersteller – Mercedes, BMW, VW und Audi – hinken wie die Stromkonzerne der Energiewende hinterher. Die Regierung will bis 2020 eine Million Elektroautos auf der Straße haben; bis jetzt sind es etwa 19000. Zum vorgegebenen Ziel fehlen noch 98 Prozent. Das Hauptproblem: Diese Autos sind für die meisten zu teuer, und die Regierung bietet keine Kaufanreize.
Das gilt auch für die Gebäudeisolierung. 30 Prozent der Treibhausgase in Deutschland entstehen beim Heizen. Viele deutsche Architekten entwerfen zwar heute Häuser, die fast keine Energie verbrauchen oder gar Überschuss produzieren. Es wird jedoch zu wenig neu gebaut. Lieber versucht man, alte Gebäude zu modernisieren, indem man sie in 15 Zentimeter dicke Schaumstoffdämmung packt. Niedrigzinskredite finanzieren viele dieser Projekte. Dennoch wird nur ein Prozent des Bestands pro Jahr energetisch optimiert. Sollen alle Gebäude bis 2050 nahezu klimaneutral sein – das offizielle Ziel –, müsste sich die Rate zumindest verdoppeln. „Die gewählte Strategie funktioniert nicht.“, sagt Matthias Sandrock, der am Hamburger Institut für Nachhaltigkeit forscht.
„Fukushima erzeugte vorübergehend eine Art Aufbruchsstimmung“, sagt Gerd Rosenkranz vom Thinktank Agora Energiewende. Alle Parteien in Deutschland waren sich einig. Doch diese Stimmung war nicht nachhaltig. Jetzt bremsen wirtschaftliche Interessen die Energiewende zunehmend aus. „Die Stimmung ist schlecht“, sagt Rosenkranz.
Aber die Deutschen wussten ja, dass die Energiewende kein Spaziergang werden würde. Sie machten sich dennoch auf den Weg. Das ist „typisch deutsch“. Können andere von ihnen lernen? Die deutsche Abneigung gegen die Atomkraft lässt sich zwar nicht transplantieren; auch nicht die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Trotzdem kann die Idee der Energiewende auch die Menschen in anderen Ländern inspirieren.
Der Wirtschaftsforscher William Nordhaus von der Yale-Universität hat sich Jahrzehnte mit dem Klimawandel beschäftigt. In einem Essay benannte er kürzlich ein Haupthindernis für Fortschritte im Kampf gegen die Erderwärmung: das Trittbrettfahrertum. Der Klimawandel ist ein globales Problem, und jede Lösung kostet Geld. Deshalb hofft jedes Land, dass andere zuerst handeln. Während die meisten Länder Trittbrettfahrer sind, ist Deutschland vorangegangen. Und hat anderen damit den Weg gebahnt. Hat gezeigt, dass Wandel möglich ist. Die Frage ist: Werden die anderen folgen?