Meeresspiegel-Anstieg: Vor uns die Sinflut?

Der Meeresspiegel steigt, Küsten werden überflutet. Was können wir schützen?

Von Tim Folger
Foto von George Steinmetz, Stephen Wilkes

Wassertemperatur und Meeresspiegel steigen an, in der Arktis und Antarktis schmilzt das Eis, während Starkregen, Hitzeperioden und Stürme immer häufiger auftreten.

Hunderte Forscher finden sich alle paar Jahre zusammen, um diese extremen Wetterphänomene zu dokumentieren und gemeinsam einen Bericht über den Erkenntnisstand der Wetterwissenschaft zu schreiben. Als Fachgremium der Vereinten Nationen diskutieren die Experten monatelang über einzelne Formulierungen. Der Name des Projekts: Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), übersetzt „Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen“. Und sie stellen (wenn das Ergebnis schließlich vorliegt) alle ihre Arbeitsdokumente ins Internet, damit jede ihrer Formulierungen nachvollziehbar ist. Das IPCC erstellt im Abstand von fünf bis sechs Jahren einen umfassenden Forschungsüberblick. Heute wird das Gremium die einzelnen Teile seines neuesten Sachstandsberichts zur Klimawissenschaft vorlegen.

NATIONAL GEOGRAPHIC beschäftigte sich bereits im September mit dem Problem des steigenden Meeresspiegels. Was müssen wir aufgeben, was werden – und können – wir schützen?

Als der Hurrikan "Sandy" im Herbst 2012 auf die Küste der USA zuraste, hatte er bereits mehrere Länder in der Karibik heimgesucht und Dutzende Menschen getötet. Angesichts dieses Sturms – des größten, der je im Atlantik entstand – wurden in New York und anderen Städten der Region tiefliegende Gebiete evakuiert. Wer sich dennoch entschloss zu bleiben, erlebte am 29. Oktober einen Vorgeschmack auf unsere Zukunft: eine Zukunft, in der die Erderwärmung zu unerbittlich steigenden Meeren führen wird.

Brandon d’Leo – 43 Jahre, Bildhauer – lebt in einem Apartment auf der Halbinsel Rockaway, einer dicht bevölkerten, 18 Kilometer langen Landzunge Long Islands. Das Apartment ist nur durch eine Straße vom Strand getrennt. «Als sie uns sagten, das Hochwasser werde bei diesem Sturm noch schlimmer steigen als beim Hurrikan „Irene“ im Jahr davor, blieb ich ruhig», sagt er. Das sollte sich bald ändern.

Nachmittags ging er nach draußen. Wellen krachten gegen die Strandpromenade. «Das Wasser stand hier und da bereits jenseits der Promenade», sagt er. «Dabei waren es noch viereinhalb Stunden bis zum Hochwasser.» Zurück in seiner Wohnung, beobachteten d’Leo und eine Nachbarin das Meer. Als es dunkel wurde, sagte sie: «Die Promenade hat sich gerade bewegt.» Minuten später hob eine hohe Welle die hölzerne Konstruktion erneut an. Dann zerbarst sie.

Aus der Straße war ein metertiefer Fluss geworden, und jede Welle schob mehr Wasser auf die Halbinsel. Die ersten Autos trieben in den wirbelnden Fluten, ihre jaulenden Alarmanlagen verstärkten die Kakofonie von Wind, rauschendem Wasser und splitternden Planken. Im Westen leuchtete es am Himmel, als gäbe es dort ein Feuerwerk – es waren Transformatorenstationen, die in der Siedlung Breezy Point am äußersten Ende der Halbinsel explodierten. Mehr als hundert Häuser brannten dort in jener Nacht völlig nieder.

Die Bäume im Vorgarten retteten d’Leos Haus und allen seinen Bewohnern das Leben: d’Leo, seiner Nachbarin sowie zwei älteren Frauen in einer Wohnung im Erdgeschoss. «Es gab keine Chance herauszukommen», sagt d’Leo. Kurz vor Sonnenaufgang ging er vor die Tür. Das Meer hatte sich zurückgezogen, doch in einigen Stra­ ßen stand das Wasser noch mehr als knietief. «Alles war mit Sand überzogen», sagt er. «Es sah aus wie auf einem anderen Planeten.»

Eine interaktive Karte, welche die Konsequenzen eines steigenden Meeresspiegels anzeigt, finden Sie hier.

Video: Schwimmende Häuser sollen der Flut standhalten

Video: Überflutete Städte - welche Metropolen werden betroffen sein?

Eine dramatisch veränderte Erde – das ist es, was unsere von fossilen Brennstoffen ange­triebene Zivilisation derzeit erschafft: einen Pla­neten, auf dem Überflutungen wie nach dem Hurrikan „Sandy“ immer häufiger vorkommen werden – mit zerstörerischen Folgen für die Küs­tenstädte. Durch den Ausstoß von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen in der Atmosphäre hat sich die Erde im vergangenen Jahrhundert um mehr als ein halbes Grad erwärmt und den Meeresspiegel um etwa 20 Zentimeter ansteigen lassen. Selbst wenn wir morgen plötzlich aufhör­ten, fossile Brennstoffe zu nutzen, würden die bereits freigesetzten Treibhausgase den Planeten noch für Jahrhunderte aufheizen. Wir sind un­widerruflich dabei, künftigen Generationen ei­nen wärmeren Planeten zu hinterlassen – und damit auch steigende Ozeane.

Im Mai 2013 erreichte die Kohlendioxidkon­zentration in der Atmosphäre 400 ppm („Teile pro Million Luftpartikel“). Einen so hohen Wert gab es zuletzt vor drei Millionen Jahren. Damals lag der Meeresspiegel wohl bis zu 20 Meter über dem heutigen Stand; die Nordhalbkugel war weitgehend eisfrei. Bis die Weltmeere wieder auf solch katastrophale Höhe ansteigen würden, würde es Jahrhunderte dauern. Prognosen für die nahe Zukunft klaffen weit auseinander, For­scher rechnen mit unterschiedlichsten Szenarien. Doch der Ozeanologe und Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-­Institut für Klima­folgenforschung gibt zu bedenken: «Frühere Prognosen zum Meeresspiegelanstieg sind inzwi­schen von den Messdaten überholt worden.»

Die globale Erwärmung beeinflusst den Mee­resspiegel auf zweierlei Weise. Etwa ein Drittel des gegenwärtigen Anstiegs ist darauf zurückzu­führen, dass das erwärmte Wasser ein größeres Volumen hat. Dazu kommt das Abschmelzen des Inlandeises. Bisher betraf dies vor allem Gebirgs­gletscher, aber die große Sorge gilt den giganti­schen Eisschilden in Grönland und der Antark­tis, in denen das meiste Eis lagert.

Vor sechs Jahren prognostizierte der Welt­ klimarat (IPCC) in seinem Bericht, dass die Weltmeere bis Ende des Jahrhunderts um maxi­ mal 59 Zentimeter ansteigen würden. Doch die­ser Report ließ bewusst die Möglichkeit außer Acht, dass die Eisschilde schneller ins Meer ab­ gleiten könnten: Die physikalischen Prozesse seien nicht hinreichend erforscht.

Ende September will der IPCC einen neuen Bericht herausgeben, in dem vermutlich ein stärkerer Anstieg des Meeresspiegels vorherge­ sagt wird. Klimawissenschaftler schätzen, dass Grönland und die Antarktis zusammen seit 1992 pro Jahr rund 208 Kubikkilometer Eis verloren haben – also rund 200 Milliarden Tonnen Eis jährlich. Viele Experten rechnen damit, dass die Meere bis 2100 um bis zu einen Meter ansteigen werden. Selbst diese Zahl könnte zu niedrig sein. «Letzhin haben wir ein beschleunigtes Abschmelzen der Eisschilde in Grönland und der Antarktis beobachtet», sagt Radley Horton vom Earth Institute der Columbia-Universität in New York. «Falls diese Beschleunigung anhält, ist zu befürchten, dass der Meeresspiegel bis zum Ende des 21. Jahrhunderts um 1,80 Meter steigen könnte.»

Im vergangenen Jahr prognostizierte das pessimistischste von vier Szenarien einer Kommission, die die Wetter- und Ozeanografiebehörde der Vereinigten Staaten (NOAA) berufen hatte, einen Anstieg um zwei Meter. Das Ingenieurskorps der US-Armee empfiehlt Planern, mit einem um 1,50 Meter höheren Meeresspiegel zu rechnen.

Eine der größten Unbekannten in allen Szenarien zum Anstieg der Ozeane ist der gewaltige Thwaites-Gletscher in der Westantarktis. Dessen Eis wird von einem 610 Meter hohen, im Meer liegenden Gebirgszug festgehalten, der sein Abrutschen in den Ozean verlangsamt. Doch durch den steigenden Meeresspiegel könnte mehr Wasser zwischen den Gebirgszug und den Gletscher einsickern und ihn aus seiner Verankerung lösen. Erst im Juli dieses Jahres brach eine Schelfeisfläche von der Größe Hamburgs vom benachbarten Pine-Island-Gletscher ab.

Sollte sich der Thwaites-Gletscher aus seinem felsigen Bett losreißen, würde so viel Eis frei, dass der Meeresspiegel in der Folge um drei Meter ansteigen könnte. «Noch sieht es zum Glück nicht so aus, dass dies in den nächsten hundert Jahren passieren wird», sagt Richard Alley, Gletscherexperte an der Penn State-Universität und einer der Autoren des letzten IPCC-Berichts. «Aber es bleibt eine gewisse Möglichkeit, dass wir eine böse Überraschung erleben.»

Auch ohne eine so dramatische Entwicklung sind die Städte an den Küsten der Erde auf doppelte Weise bedroht: Ansteigende Ozeane werden nach und nach tief gelegene Gebiete überschwemmen; der höhere Meeresspiegel ver­stärkt zudem die zerstörerische Wirkung von Sturmfluten. Um das Jahr 2100 wird eine Jahr­hundertflut wie nach „Sandy“ vielleicht alle zehn Jahre oder öfter losbrechen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick­lung (OECD) schätzt unter der vorsichtigen An­nahme eines nur um einen halben Meter stei­genden Meeresspiegels, dass bis 2070 etwa 150 Millionen Menschen in den größten Hafenstäd­ten der Welt durch Überschwemmungen gefähr­det sein werden – heute sind es 40 Millionen. Dazu kommen Sachwerte von knapp 20 Billio­nen Euro – ein Betrag, der neun Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts entspricht. Wie werden die Städte damit umgehen?

Malcom Bowman lehrt Physik der Ozeane an der Staatsuniversität von New York in Stony Brook. Seit Jahren versucht er die Menschen zu überzeugen, dass New York für seine Hafen­bucht ein Sperrwerk gegen Sturmfluten braucht. Im Gegensatz zu anderen großen Hafenstädten ist New York im Grunde ohne Schutz gegen Hurrikane und Sturmfluten. London, Rotterdam, St. Petersburg, New Orleans und Schanghai ha­ben in den vergangenen Jahrzehnten Deiche und andere Schutzbauten gegen Stürme errichtet. New York hat für sein Versäumnis einen hohen Preis bezahlt. „Sandy“ forderte 43 Menschen­leben in der Stadt; 35 der Opfer ertranken. Der Sachschaden belief sich auf 19 Milliarden Dollar (umgerechnet 14,5 Milliarden Euro).

All das hätte verhindert werden können, sagt Bowman. «Hätte man ein System von sinnvoll konstruierten Sperrwerken gebaut und sie an beiden Enden mit Sanddünen entlang der tief liegenden Küstengebiete verstärkt, hätte es kei­nerlei Flutschäden durch „Sandy“ gegeben.»

Im Juni stellte Bürgermeister Michael Bloom­berg einen Plan vor, wie er New York City gegen das Meer verteidigen will. Rund 19,5 Milliar­ den Dollar soll das Vorhaben kosten. «„Sandy“ hat uns zunächst zurückgeworfen, kann uns letztlich aber voranbringen», sagte er. Sein Vor­schlag umfasst den Bau von Deichen, lokalen Sperrwerken, Sanddünen, Austernbänken und noch 200 weitere Maßnahmen. Er geht weiterals alles, was andere Städte in den USA planen. In der Zwischenzeit wird in den flutgefährdeten Gebieten der Stadt weitergebaut.

Wird New York seine Möglichkeiten nutzen, wenn Bloomberg zum Ende des Jahres sein Amt abgibt? Kann ein einziger Sturm die Politik nicht nur einer Stadt, sondern eines ganzen Landes ändern? Es gibt dafür ein Beispiel: Die Niederlande erlebten ihren stürmischen Weckruf vor 60 Jahren, und er hat das Land verwandelt.

Der Sturm donnerte in der Nacht des 31. Januar 1953 von der Nordsee heran. Ria Geluk war damals sechs Jahre alt und lebte am selben Ort wie heute, auf der Insel Schouwen Duiveland in der südlichen Provinz Seeland. Sie erinnert sich, dass ein Nachbar mitten in der Nacht an die Tür des elterlichen Bauernhauses klopfte: Der Deich sei gebrochen. Die Familie kletterte zusammen mit einigen Nachbarn auf das Dach, wo sie sich mit Decken und dicken Mänteln vor Wind und Regen schützten. Geluks Großeltern wohnten auf der anderen Straßenseite, aber das Wasser schoss mit solcher Gewalt in das Dorf hinein, dass sie in ihrem Haus festsaßen. Sie verloren ihr Leben, als das Gebäude einstürzte.

«Unser Haus blieb stehen», sagt Geluk. «Am folgenden Nachmittag kam das nächste Hochwasser. Mein Vater konnte sehen, wie die Häuser rund um uns verschwanden. Wir wussten, dass die Bewohner nicht überlebt hatten. Von einem Fischerboot wurden wir schließlich gerettet.»

Die Flutkatastrophe forderte allein in den Niederlanden 1836 Menschenleben, fast die Hälfte davon in Seeland. Darunter war auch ein Säugling, der erst in der Sturmnacht zur Welt gekommen war. Weitere 307 Menschen kamen in Großbritannien um, dazu Hunderte auf See.

Nach der Katastrophe nahmen die Niederländer ein ehrgeiziges Küstenschutzvorhaben in Angriff: Sie bauten die Wehre und Deiche der sogenannten Deltawerke. Das dauerte mehr als 40 Jahre und kostete 4,6 Milliarden Euro. Ein entscheidendes Projekt war die acht Kilometer lange Oosterscheldekering – das Oosterschelde- Sturmflutwehr – das vor 27 Jahren fertiggestellt wurde und Seeland vor dem Meer schützt. Der letzte Bauabschnitt der Delta­werke – ein bewegliches Wehr, das Rotterdam und etwa 1,5 Millionen Menschen schützt – wurde 1997 fertiggestellt. Wie andere Außen­deiche in den Niederlanden ist dieses Wehr so ausgelegt, dass es einem Sturm widerstehen kann, wie er nur einmal in 10000 Jahren tobt. Das ist der strengste Standard weltweit.

Auch Städte in anderen Ländern passen ihren Schutz an: Hamburg etwa wird in Zukunft gegen Stürme gewappnet sein, die – statistisch – ein ­mal in 7000 Jahren auftreten. Antwerpen ist für Stürme gerüstet, wie sie alle 4000 Jahre zu er­warten sind. Die niederländische Regierung be­rät derzeit, ob sie die Schutzstufen aufgrund der Prognosen zum Meeresspiegelanstieg weiter erhöhen sollte.

Solche Maßnahmen sind eine Frage der natio­nalen Sicherheit in einem Land, das zu 26 Pro­zent tiefer liegt als der Meeresspiegel. Mit mehr als 16.000 Kilometern Deichen sind die Nieder­lande in einem Ausmaß geschützt, dass kaum jemand noch einen Gedanken auf die Gefähr­ dung durch Wasser verwendet. Ein wesentlicher Grund dafür ist auch, dass viele Schutzbauten so gut in die Landschaft integriert sind, dass sie kaum auffallen.

Arnoud Molenaar ist Manager des Programms „Rotterdam Climate Proof “ („klimasicheres Rot­terdam“). Es soll die Stadt gegen die bis 2025 zu erwartenden Meerespegel sichern. An einem eisigen Februarmorgen läuft er eine Straße neben einem von Rem Kohlhaas entworfenen Museum hoch. «Die meisten Leute hier merken gar nicht, dass dies ein Deich ist», sagt er. Der Westzeedijk schützt die Innenstadt vor der Maas, die ein paar Blocks weiter südlich fließt, aber der geschäftige Boulevard auf der Deichkrone sieht aus wie jede andere niederländische Straße.

Molenaar weist auf verschiedene unauffällige Schutzbauten hin: ein unterirdisches Parkhaus, in dem 10.000 Kubikmeter Regenwasser auf­ gefangen werden können; eine Straße, deren Bürgersteige auf zwei Ebenen angelegt sind, so dass die untere Wasser auffangen kann, während die obere trocken bleibt.

In den Niederlanden hört man oft den Scherz: «Gott hat die Welt erschaffen – aber die Nieder­lande wurden von Holländern gemacht.» Sie haben dem Meer seit beinahe tausend Jahren Boden abgerungen; ein großer Teil von Seeland ist so entstanden. Ein Anstieg des Meeresspiegels versetzt die Niederländer nicht in Panik. Sie ver­suchen, sich darauf einzustellen, und passen sich den neuen Gegebenheiten an.

Später am Nachmittag steht Molenaar vor Rotterdams „schwimmendem Pavillon“, drei verbundenen durchsichtigen Kuppeln, die auf einer Plattform in einer Hafenbucht der Maas verankert sind. Sie sind drei Stockwerke hoch und aus einem Kunststoff gefertigt, der nur ein Hundertstel so schwer ist wie Glas. Von innen hat man einen Rundblick auf die Skyline von Rotterdam. Das Bauwerk wird für Konferenzen und Ausstellungen genutzt, soll aber vor allem das Potenzial schwimmender Stadtarchitektur demonstrieren. Rotterdam braucht an die 1200 Wohnstätten im Hafen.

«Wir glauben, dass diese Bauwerke nicht nur für Rotterdam, sondern für viele Städte auf der ganzen Welt Bedeutung haben», sagt der Archi­tekt Bart Roeffen, der den Pavillon entworfen hat. «Auf dem Wasser zu bauen ist nichts Neues, aber schwimmende Wohnviertel in großem Maßstab und in einem Hafen mit Tidenhub sind bisher nicht entwickelt worden», sagt Molenaar. «Statt uns gegen das Wasser zu wehren, wollen wir mit ihm leben.»

So weit würden deutsche Küstenschützer derzeit nicht gehen. Hier gilt nach wie vor die Devise, das Festland mit Deichen und anderen Bauwerken so zu schützen, dass sie Sturmfluten aushalten. Diese Strategie hat in Deutschland Tradition: Schon im Mittelalter organisierten sich Bauern in Deichverbänden, immer wieder wurde dem Meer Land abgetrotzt. Und doch gab es herbe Rückschläge: Im Jahr 1872 trieb ein hef­tiger Sturm meterhohes Hochwasser an die Ost­seeküste, viele Menschen ertranken oder wurden obdachlos. Knapp hundert Jahre später, im Fe­bruar 1962, wurde die Nordsee von einer beson­ders verheerenden Flutkatastrophe heimgesucht, bei der 340 Menschen ihr Leben verloren – 315 allein in Hamburg, wo die Deiche in schlechtem Zustand waren.

Die dramatischen Szenen der Katastrophe brannten sich in das Gedächtnis einer ganzen Generation ein und wurden ähnlich wie in den Niederlanden zum Anlass, den Küstenschutz nachhaltig zu forcieren. Eine solche Tragödie sollte hierzulande nie wieder passieren. Darum investierten alle Küstenbundesländer in den folgenden Jahren große Summen in Deiche und Schutzanlagen, der Bund verpflichtete sich, 70 Prozent der Kosten zu übernehmen.

Bislang zahlt sich der Aufwand aus: «In den vergangenen Jahrzehnten hatten wir acht Sturmfluten, die höher waren als 1962», sagt Olaf Müller vom Hamburger Landesbetrieb für Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG), der auch für die Küstenschutzanlagen der Stadt zu­ ständig ist. «Unsere Deichbauten haben all diese Sturmfluten abwehren können.» Deutschland, darin sind sich die Experten aus Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Schleswig- Holstein und Mecklenburg-Vorpommern einig, sei derzeit gut gegen Fluten gewappnet. Auch der Klimawandel und der prognostizierte Meeresspiegelanstieg schreckt die Praktiker nicht: «Da der Meeresspiegel ja nur langsam ansteigt, bleibt uns zum Glück genügend Zeit, darauf zu reagieren», sagt Andreas Wurpts von der Forschungsstelle Küste auf Norderney.

Obwohl der Küstenschutz in Deutschland nach wie vor Ländersache ist und es in Bremen, Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommern unterschiedliche Ansätze gibt, haben sich die Bundesländer schon vor Jahren koordiniert und gemeinsame Strategien entwickelt. Dabei stützen sie sich auf die Prognosen des IPCC-Berichts von 2007, der einen maximalen Meeresspiegelanstieg von 58 Zentimetern bis 2100 voraussagt. Entsprechend kalkulieren die deutschen Küstenschützer nun bei geplanten Maßnahmen wie Deichbauten oder der Konzeption von Sperren und Wehren erst einmal mit einem Meeresspiegelanstieg von 50 Zentimetern im Bereich der Nordsee und bis zu 30 Zentimetern für die Ostsee.

Jeder Deich muss um einen entsprechenden „Klimazuschlag“ erhöht werden. Zudem werden alle neuen Bauten so angelegt, dass man sie problemlos erhöhen kann, sollte der Meeresspiegel weiter steigen. «Hier planen wir derzeit mit einem Meter Anstieg bis 2100», sagt Wurpts. Zusätzlich werden diese Bemessungen mindestens alle zehn Jahre überprüft. «So können wir zügig reagieren, sollte sich an den Prognosen der Forscher etwas ändern.»

Bei ihren Berechnungen bewegen sich die Deutschen derzeit in einem eher konservativen Szenario, das von einem möglichen maximalen Anstieg von bis zu zwei Metern weit entfernt ist. Doch die Anpassungen an den Klimawandel sind auch ein Kostenfaktor. Allein Hamburg wird von 2016 an für die Erhöhung seiner 103 Kilometer Deiche um einen Meter 550 Millionen Euro aufwenden müssen. «Da ist es nur natürlich, dass wir konservativ planen, solange sich die Prog- nosen der Forscher nicht deutlich ändern», sagt Olaf Müller vom LSBG in Hamburg.

Dennoch sehen die Forscher für Deutschland keine andere Perspektive als den bereits eingeschlagenen Weg. Zwar rät das Expertengremium des Weltklimarats IPCC in seinem Bericht, bei steigendem Wasserspiegel die Deiche eventuell auch zurückzuverlegen.

Für die deutsche Küste aber würde dies nur weitere Probleme schaffen: Weil unsere Vorfahren dem Meer hier über Jahrhunderte Land abgerungen haben, liegen die Gegenden hinter den heutigen Deichen oft tiefer als der Meeresboden vor den Schutzwällen. «Würde nun ein Deich nach hinten verlegt, müsste er wegen des Gefälles im Inland noch höher sein als der derzeitige Deich», erklärt Wurpts. Auch ein Rückzug aus den bedrohten Küstenregionen auf höher gelegene Gebiete komme nicht in Frage: «Das wären so große Landflächen mit so vielen Menschen, Gemeinden und Sachwerten, das kann einfach keine Lösung sein.»

Für die Niederländer steht ein Rückzug ebenfalls nicht zur Debatte: «Wir können uns nirgendwohin zurückziehen! Wohin sollten wir gehen?» Jan Mulder muss gegen den Wind anschreien. Er läuft den Kijkduin genannten Strand entlang, während der Wind mit Schneegriesel sein Gesicht abschmirgelt. Mulder ist Fachmann für Küstenplanung und arbeitet für Deltares, ein mit Küstenmanagement befasstes Privatunternehmen. An diesem Morgen wollen er und Douwe Sikkema, ein Projektmanager der Provinz Südholland, den letzten Schrei im adaptiven Küstenschutz vorführen: den zandmotor – die Sandmaschine.

Auf dem Meeresboden vor der Küste liege eine Hunderte Meter dicke Sandschicht, die von Flüs­sen und abschmelzenden Gletschern dorthin gespült worden sei, erklären sie. Früher haben Wellen und Strömungen der Nordsee diesen Sand an der Küste verteilt. Aber da der Meeres­spiegel seit der Eiszeit gestiegen ist, reicht die Kraft der Wellen nicht mehr tief genug, um den Sand aufzuwirbeln, und die Strömungen können nicht mehr so viel Sand verteilen. Stattdessen nagt das Meer immer weiter an der Küste.

Die übliche Abhilfe wäre, Sand vor der Küste auszubaggern und ihn auf die erodierenden Strände zu kippen – und diesen Prozess jedes Jahr zu wiederholen, da der Sand nicht liegen­ bleibt. Mulder und seine Kollegen empfahlen eine andere Strategie: Die Provinzregierung solle in einer einmaligen gigantischen Ausbagger­ aktion die Halbinsel aus Sand aufschütten, auf der wir nun laufen. Es ist ein hakenförmiger Strand mit etwa 125 Hektar Fläche. Wenn der Plan funktioniert, werden Wind, Wellen und Gezeiten den Sand über die nächsten zwei Jahr­zehnte 25 Kilometer weit entlang der Küste verfrachten. Dieses Zusammenwirken von Wind, Gezeiten und Sand ist der zandmotor.

Das Projekt scheint zu funktionieren. Mulder zeigt Dünen, die auf einem Strand wachsen, wo zuvor offenes Meer war. «Das Ganze ist sehr fle- xibel», sagt er. «Wenn wir feststellen, dass der Meeresspiegel steigt, können wir die Sandmenge erhöhen», fügt Sikkema hinzu. «Und es ist viel einfacher, die Sandmenge zu justieren, als ein gesamtes Deichsystem aufzubauen.»

Der zandmotor könnte eine Methode auch für Deutschland sein. Nicht für die Küste, sondern für die Regionen, die bislang weiße Flecken im hiesigen Küstenschutz sind. Sie liegen weit jenseits der Deiche, schutzlos im steigenden Meer: die Nordseeinseln. «Hier kann man nicht auf dieselbe Weise mit Deichen arbeiten wie auf dem Festland», erklärt Andreas Wurpts. Die Inseln leben vom stetigen Auf und Ab der Gezeiten, die hier Land wegnehmen, dort Sand anspülen und so die Inseln jeden Tag ein kleines Stück verändern. Herkömmliche Schutzmaßnahmen helfen ihnen wenig. «Wie man hier auf den Klimawandel reagieren kann, ist noch weitgehend ungeklärt», so Wurpts. Derzeit laufen zahlreiche Forschungsprojekte. Doch bis diese Antworten geben, wird es noch dauern. Der niederländische zandmotor könnte eine davon sein.

Städte aus allen Kontinenten suchen Rat in den Niederlanden – von New York bis Ho-Chi-Minh-Stadt. Die niederländische Firma Arcadis hat ein Konzept für ein Sturmflutwehr in der Verrazano-Meerenge entworfen, das New York schützen soll. Dasselbe Unternehmen war am Entwurf einer 3,2 Kilometer langen, 1,1 Milliarden Dollar teuren Barriere beteiligt, die New Orleans vor der vier Meter hohen Sturmflut des Hurrikans „Isaac“ im Sommer 2012 schützte. Das tief liegende Stadtviertel Lower Ninth Ward, das der Hurrikan „Katrina“ so hart traf, blieb unbeschädigt. «„Isaac“ war eine unglaubliche Erfolgsgeschichte für New Orleans», erzählt der Arcadis-Manager Piet Dircke. «Alle Wehre wurden geschlossen, alle Deiche hielten, alle Pumpen funktionierten. Sie haben gar nichts darüber gehört? Es ist ja auch nichts passiert!»

New Orleans ist vielleicht in den kommenden Jahrzehnten sicher, aber die langfristigen Aussichten für die Stadt und andere tief liegende Weltstädte wie Mumbai, Kalkutta oder Shanghai sind düster. In den USA ist Miami am stärksten gefährdet. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Südosten Floridas am Ende unseres Jahrhunderts noch viele Bewohner hat», sagt Hal Wanless, der Vorsitzende des Geologie-Instituts an der Universität von Miami. In seinem Kellerbüro zeigt er Karten von Florida. Mit jedem Mausklick vergeht ein Jahr, ist der Ozean gestiegen und die Halbinsel geschrumpft. Die Süßwasser-Feuchtgebiete und die Mangrovensümpfe überstehen dies nicht – und der tödliche Kreislauf hat an der südlichen Spitze der Halbinsel bereits eingesetzt. Falls, was gut möglich ist, das Meer dort bis 2100 um 1,20 Meter steigt, werden zwei Drittel von Südflorida überflutet sein. Die Florida Keys sind dann beinahe verschwunden, Miami liegt auf einer Insel.

Könnten Sturmwehre Miami retten? Wanless sucht einen 30 Zentimeter langen Bohrkern aus Kalkstein heraus. Er sieht aus wie eine Röhre aus grauem, versteinertem Schweizer Käse. «Versuchen Sie mal, so etwas abzudichten», sagt er. Miami und der größte Teil Floridas sind auf einem Fundament sehr porösen Kalksteins gebaut. Dieser Kalkstein entstand aus den Überresten unzähliger Meeresbewohner, die sich vor 65 Millionen Jahren am Grund eines warmen, flachen Meeres ablagerten, das das heutige Florida bedeckte. Diese Vergangenheit könnte hier die Zukunft sein. «Ein Deich oder ähnliche Barrieren wären sinnlos», sagt Wanless: «Das Wasser würde einfach durch den darunterliegenden Kalkstein sickern.»

Schon heute hat der Anstieg der Meere negative Folgen für Floridas Süßwasserversorgung. Etwa ein Viertel der 19 Millionen Einwohner des Staates sind auf Brunnen angewiesen, die tief hinab in den gewaltigen Biscayne-Grundwasserspeicher gebohrt wurden. Nun sickert dort Salzwasser ein – aus Dutzenden Kanälen, die gebaut wurden, um die Everglades zu entwässern. Jahrzehntelang hat der Staat versucht, das Eindringen des Salzwassers zu bremsen, indem er Dämme und Pumpstationen entlang dieser Entwässerungskanäle errichtete. Diese „Salzwassersperrvorrichtungen“ stauen das Süßwasser auf, damit es als Barriere gegen das Salzwasser wirkt. Da Salzwasser eine höhere Dichte hat, muss der Wasserstand des Süßwassers hinter den Sperranlagen ungefähr 60 Zentimeter über dem des eindringenden Salzwassers liegen.

«Es gibt etwa 30 Salzwassersperrvorrichtungen in Südflorida», sagt Jayantha Obeysekera, federführend für die hydrologischen Modelle des South Florida Water Management District. «Manchmal ist nun der Wasserstand im Meer höher als der Süßwasserpegel im Kanal.» Das beschleunigt nicht nur das Eindringen von Salzwasser, sondern verhindert auch den Abfluss von Niederschlägen. Irgendwann wird es nicht mehr praktikabel sein, das Salzwasser mit dem Süßwasser zu blockieren, denn es wäre so viel davon nötig, dass immer größere Gebiete im Binnenland hinter den Sperrvorrichtungen unter Wasser stünden – faktisch würde man Florida von innen überfluten. «Sobald der Meeresspiegel um 50 Zentimeter steigt, können etwa 80 Prozent der Salzwassersperranlagen in Florida nicht mehr funktionieren», sagt Wanless. «Wir müssen dann entweder Gemeinden überfluten lassen, damit wir den Süßwasserpegel über dem Meeresspiegel halten, oder müssen das Eindringen von Salzwasser hinnehmen.» Wenn der Meeresspiegel um 60 Zentimeter steigt, sagt er, werden Floridas Grundwasserspeicher unwiederbringlich kontaminiert.

Wir müssen also in den kommenden Jahren energisch umsteuern, oder unser Kohlendioxidausstoß wird eine Welt herbeiführen, deren Geographie sich wesentlich von der unterscheidet, in der sich der Mensch bisher entwickelt hat.

«Falls wir nichts ändern, wird die Konzentration des Kohlendioxids in der Atmosphäre zum Ende des Jahrhunderts etwa 1000 ppm erreichen», sagt Gavin Foster, Geochemiker an der britischen Universität von Southampton. Solche Konzentrationen hat es auf der Erde seit dem frühen Eozän, also seit etwa 50 Millionen Jahren, nicht mehr gegeben. Damals war unser Planet eisfrei. Nach Angaben des U.S. Geological Survey läge der Meeresspiegel einer eisfreien Erde bis zu 66 Meter höher als heute. Es könnte Tausende Jahre oder noch länger dauern, um solch eine Welt zu schaffen – aber wenn wir alle fossilen Brennstoffe aufbrauchen, werden wir sie bekommen.

Wie sehr wir auch unsere Treibhausgasemissionen verringern: In jedem Fall steht uns ein deutlicher Anstieg des Meeresspiegels bevor, während unser Planet sich langsam den Kohlendioxidmengen anpasst, die bereits in der Atmosphäre sind. Die jüngste Studie aus den Niederlanden sagt voraus, dass das Land einen Anstieg von bis zu fünf Metern mit verkraftbaren Kosten ingenieurstechnisch ausgleichen könnte. Ärmeren Ländern wird es schwerfallen, auch nur mit einem sehr viel geringerem Anstieg umzugehen. Irgendwann wird dann der Rückzug von den Küsten beginnen. Doch in einigen Gegenden gibt es keine höhergelegenen Gebiete, in die Bewohner ziehen könnten.

Einige Forscher warnen bereits vor einer weiteren dramatischen Flut: einer Welle von Klimaflüchtlingen. «Von den Bahamas über Bangladesch bis zu einem großen Teil von Florida müssen alle umziehen, und das möglicherweise zur gleichen Zeit», sagt Wanless. «Wir werden Unruhen erleben, Krieg. Ich frage mich, wie – oder ob – unsere Zivilisation das verkraften wird. Wie dünn ist das Gewebe, das alles zusammenhält? Wir können uns dies nicht vorstellen. Wie bringt man den Leuten bei, dass Miami – oder London – nicht ewig sind?»

Eine interaktive Karte, welche die Konsequenzen eines steigenden Meeresspiegels anzeigt, finden Sie hier.

Video: Schwimmende Häuser sollen der Flut standhalten

Video: Überflutete Städte - welche Metropolen werden betroffen sein?

(NG, Heft 9 / 2013, Seite(n) 38 bis 74)

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