Tante Emma 2.0

Immer mehr Dorfläden schließen. Um die Versorgung ihres Dorfes zu sichern, gründeten die Bewohner im niedersächsischen Otersen ihren eigenen Laden. Ein Konzept, das in ganz Deutschland Schule macht.

Von Ines Bellinger
Foto von Enver Hirsch

Spekulanten könnte man sie nennen, die Bürger von Otersen in Niedersachsen.
 Ihr Plan war riskant. In Zeiten der Landflucht gründeten sie ihren eigenen Dorfladen. Mit Erfolg. Als Dividende wird nachhaltige Lebensqualität ausgeschüttet.

Günter Lühning handelte im Eigeninteresse, als er die Idee für den „Wirtschaftlichen Verein Dorfladen Otersen“ lieferte. „Ich möchte hier alt werden. Dazu gehört, dass ich mich selbst versorgen kann“, sagt der „Ureinwohner“ des Dorfes am Westrand der Lüneburger Heide. Lühning, 53, Sparkassen­ Betriebswirt und Vater von zwei Söhnen, ist ein kühler Rechner, aber auch ein leidenschaftlicher Ehrenamtler: Gemeinderat, Kreistagsabgeordneter, Vorsitzender des Heimat­ und Fährvereins. Kein Wunder, dass auch das Problem der drohenden Unterversorgung vor seine Tür gekippt wurde.

Otersen war in den achtziger Jahren auf dem Weg zum sterbenden Dorf. Dann kam das niedersächsische Dorferneuerungsprogramm. Wohnraum wurde saniert
 und neu geschaffen; die Bürger
 bauten eine Solarfähre für die 
Aller, die hier vorbeifließt. „Es war
 alles schön, und wir dachten, das
 bleibt die nächsten tausend Jahre
 so“, sagt Lühning. Doch 2001
 wollte die Eigentümerin des letzten Ladens im Dorf aus Alters
gründen dichtmachen. Der Bäcker acht Kilometer entfernt, der nächste Supermarkt zwölf Kilometer weit weg. Diese Aussichten reichten den rund 500 Einwohnern von Otersen, um ins Risiko zu gehen. Sie wollten ihren Dorfladen selbst betreiben.

„Uns war klar: Wenn wir uns auf den Weg machen, können wir verlieren. Wenn wir es nicht tun, haben wir schon verloren“, sagt Lühning. Sie brauchten 70.000 Mark Eigenkapital. Der Verkauf von Anteilsscheinen zu je 500 Mark sollte die Summe zusammenbringen. „Als wir auf der entscheidenden Bürgerversammlung die Absichtserklärungen eingesammelt hatten, habe ich trotz meines anständiges Gewichts einen Luftsprung gemacht“, erzählt Lühning. „60 verschiedene Gesellschafter mit einer Gesamtsumme von 103.000 Mark. Das war die Geburtsstunde des Dorfladens Otersen.“ Am 1. April 2001 kauften die Oterser erstmals Brötchen in ihrem eigenen Laden, den sie von der Vorbesitzerin gemietet hatten. In den ersten drei Jahren schrieben sie rote Zahlen. Die Stromkosten für die gebrauchten Kühltruhen, die sie gekauft hatten, fraßen ihnen die Haare vom Kopf. Ein paar Einwohner zeichneten Anteile nach, danach konnte ein modernes Kühlsystem angeschafft werden, und der Laden berappelte sich. Bis es 2008 zu Problemen mit dem Warenlieferanten kam.

Der Dorfladen schloss einen neuen Vertrag mit einem Lebensmittelhändler aus Schleswig-Hol­stein. Der lässt seine Sattelzüge seither zweimal wöchentlich ein paar Rollcontainer in Otersen abladen, bestückt nach der Zwei­-Produkt­-Strategie: Neben der Marken ­Bockwurst gibt es auch die günstigere Eigenmarke. An den 
2700 verschiedenen Artikeln im Sortiment schätzen die Kunden aber vor allem die von den regionalen Lieferanten: Backwaren vom Bäcker Wöbse in Kirchlinteln, Eier vom Hof Poppe in Hedern, Bio­-Rindfleisch vom Hof Jacobs aus Eitze, Obst und Gemüse vom ortsansässigen Biohof Scharein.

Als das Krisenjahr gemeistert war, tauchte bald ein neues Problem auf: Der Mietvertrag für den Laden war auf zehn Jahre befristet. Wie sollte es danach weitergehen? Wieder spekulierten die Oterser richtig. Sie kauften für 73.000 Euro ein Grundstück mit einem 200 Jahre alten Fachwerk­haus. Die Bürger – inzwischen auch Nachbarn aus Wittlohe und Häuslingen – hatten für 50.000 Euro weitere Anteile erworben. Trotzdem mussten sie ein Darlehen aufnehmen. Mitentscheidend
 war, was 80 Oterser leisteten: 5.000 Arbeitsstunden halfen sie auf dem Bau. Lühning zeigt stolz auf ein Foto vom Tag, als das Dach gedeckt wurde. Es zeigt eine Menschenkette, Frauen und Männer, Junge und Alte, die rote Dachziegel bis zum First hinaufreichen. Zusammenhalt wird hier seit je großgeschrieben: im Schützenverein, in der Theatergruppe „Oterser Speeldeel“, im Knüddelclub, wo ältere Frauen den jungen das Stricken beibringen, oder in der Männerrunde „Endlich allein“. Wo Geld übrig bleibt, spenden sie es für die Kita.

Zehn Jahre nach seiner Eröffnung zog der Dorfladen Otersen in sein neues Domizil: 180 Quadratmeter hinter einem schmucken Fachwerkgiebel, auf dem Dach eine Fotovoltaikanlage. Daneben das Aller-Café. Das heißt so wie der Fluss, aber auch, weil es aller Café in Otersen ist, genau wie der Laden.

Die Wohnung im Obergeschoss ist an eine junge Familie vermietet. Die Einnahmen fließen mit 
in die Tilgung des Darlehens. 
Der Bruttoumsatz des Ladens
betrug im vergangenen Jahr
 370.000 Euro, das sind 40 Prozent 
aller Aufwendungen für Lebensmittel im Ort. „Ein Wert, mit dem wir in der Spitzengruppe der Dorfläden mitspielen“, sagt Lühning, der einer von drei Vorsitzenden des Dorfladen-Vereins ist.

Die Oterser hegen und pflegen ihr Schmuckstück, das heute gut 600.000 Euro wert ist, bessern Fachwerkfugen aus, legen ein Kiesbeet an. Und wenn Willy Spöring kommt mit seinen fast 90 Jahren, dann zieht er vor dem Laden die Schuhe aus. „Weil er vorher im Stall war und nichts dreckig machen will“, erzählt Ladenchefin Petra Hünecke-Zarbock. „Seinen Enkel hat er auch schon dazu gebracht.“ Sie mag die liebenswerten Macken ihrer Kunden, den Klönschnack am Tresen: „Ich möchte keine anonyme Nummer sein.“ Natürlich hält sie Anteile am Laden. Ein Dorfladen-Seminar hat sie ebenfalls schon besucht. In Bayern. Der Austausch kam über das Netzwerk zustande, das die Oterser für die etwa 200 bürgerschaftlich organisierten Dorfläden in Deutschland gegründet haben. Auf der Website gibt es Tipps zur Finanzierung, „Dorfladen TV“ mit Videos von Vorreitern und ein Dorfladen-Handbuch. Lühning hat das Standardwerk für „Tante Emma 2.0“ geschrieben. Es kann gegen eine Schutzgebühr von 30 Euro heruntergeladen werden. Die zwischenzeitlich hundert verlorenen Einwohner hat Otersen durch Zuzüge wettgemacht – gegen den Trend.

Mit Landleben-Romantik hat ein Dorfladen wenig zu tun, eine nüchterne Risiko-Nutzen-Analyse ist unverzichtbar: „Es bringt nichts, den Pastor dazu zu verpflichten, von der Kanzel zu predigen: Leute, ihr müsst im Dorfladen einkaufen“, sagt Lühning. „Unser Erfolgsgeheimnis ist, dass wir den Laden von vornherein auf ein breites Fundament gestellt haben. Die Leute haben das Gefühl, sie kaufen bei sich selbst ein.“

Weitere Informationen zur Dorfladen-Initiative finden Sie hier.

(NG, Heft 12 / 2014, Seite(n) 24 bis 26)

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