Vulkane: Das feurige Herz der Erde

Ein Geologe wagt sich dorthin, wo nichts überleben kann. Fast 400 Meter tief im Vulkan Ambrym will er herausfinden, wann dem Pazifik-Inselstaat Vanuatu wieder ein Ausbruch droht.

Von Marlene Göring
Foto von Ulla Lohmann

Die meisten Menschen empfinden aktive Vulkane als bedrohlich. Für den Vulkanologen Thomas Boyer sind sie eine Faszination. Er hat sich auf der südpazifischen Insel Ambrym in einen der brodelnden Vulkane gewagt. Sein Ziel: Proben entnehmen, damit wir Menschen irgendwann besser verstehen können, wann und warum Vulkane ausbrechen. Boyer ist mit seinen beiden Begleitern in den Benbow geklettert, und erlebte in den zwei Tagen einen Drahtseilakt zwischen Lebensgefahr und Einmaligkeit.

Das Herz der Erde ist ein gefährlicher Ort. Es pulsiert und glüht, und wer ihm zu nahe kommt, den verzehrt es. Auf Ambrym, einer kleinen Insel im Südpazifik, kann man das Herz gleich an mehreren Stellen sehen: Hunderte Meter tief im aufgebrochenen Gestein brodeln Lavaseen in Kratern und schießen giftige Gase nach oben.

Wenige wagen sich dorthin. Einer davon ist Thomas Boyer. Im Mai 2015 betritt der Vulkanologe den Schlund des Benbow, dort unten wartet einer der glühenden Seen auf ihn. „Das ist, als sähe man zum ersten Mal die Berge oder Schnee oder Nordlichter. Nur alles auf einmal“, wird sich der Forscher später erinnern.

Rund 7000 Menschen leben auf Ambrym, es gehört zu Vanuatu, einem Inselstaat 2400 Kilometer vor Australien. Der Archipel verdankt seinen Ursprung dem Vulkanismus: Er ragt genau dort aus dem Wasser, wo sich die pazifische Ozeanplatte unter die australische Kontinentalplatte schiebt. Der Franzose Boyer hat diesen entlegenen Ort als seinen Lebensmittelpunkt gewählt. Für Geologen ist Ambrym ein Paradies.

Vanuatu liegt im Pazifischen Feuerring, der Zone mit der weltweit höchsten vulkanischen Aktivität. Der Vulkan Ambrym auf der gleichnamigen Insel ist seit 1996 wieder verstärkt zu Gange. Er spuckt fast ständig Asche und Lava aus seinen beiden Kegeln Benbow und Marum. Die Kegel führen mehrere Krater. In vieren davon brodeln Lavaseen, und das ist extrem ungewöhnlich: Damit ein Lavasee entsteht, müssen einige Bedingungen zusammenkommen. Basaltische Magma sollte vorhanden sein, denn sie ist so flüssig, dass sie vom schmelzenden Erdmantel aufsteigen kann – aus 30 bis 45 Kilometer Tiefe. Sie schafft es aber nur nach oben, wenn das darüberliegende Gestein weniger dicht ist als sie selbst. Steigt keine Magma mehr auf, kühlt der See ab oder sinkt.

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Nur an offenen Vulkanen wie dem Ambrym können Forscher direkt beobachten, was die Erde im Innern bewegt – aber das ist gefährlich. Boyer ist der Erste, der Daten so tief im Benbow sammelt: Er will die Temperatur des Lavasees messen, die Zusammensetzung von Gas und Lava bestimmen, den Aufbau der Kraterwände untersuchen. Gemeinsam mit dem französischen Forschungsinstitut IRD will er all das in einer Datenbank zusammentragen. Denn wer die Gegenwart des Vulkans erkundet, kann seine Geschichte rekonstruieren: Wann erschütterten Ausbrüche die Insel, wann blieb sie verschont? Wer diese Zyklen versteht, kann in die Zukunft schauen: Wann kommt es zu Eruptionen? So rettet man Menschenleben.

Viele Geologen halten es allerdings für unnötig, sich der Gefahr im Vulkan auszusetzen. Gase könne man auch vom Rand des Kraters aus bestimmen, sagen sie, und seinen Aufbau könne man ebenso gut mit Luftbildern studieren. Boyer entgegnet: Messungen aus großer Distanz könnten verfälscht sein, und nur wer ihn gesehen hat, kann sagen, wie groß der Lavasee wirklich ist. Mit diesen Daten könnte man das komplexe System endlich ganz verstehen – auch wenn das Projekt Jahre dauern wird und noch viele Messungen erfordert.

Die Expedition im Mai 2015 ist Boyers zweiter Versuch, in den Benbow einzudringen. Sechs Monate zuvor hatten er und seine Begleiter, die Fotografin Ulla Lohmann und der Alpinist Sebastian Hofmann, es fast bis nach unten geschafft. Sie waren schon tief vorgedrungen, als sich Wolken über den Kegel schoben – das Schlimmste, was Vulkanologen passieren kann. Denn durch die Wolken kann das Gas im Krater nicht abziehen und staut sich: Die Luft wird giftig. Wasser und Dämpfe bilden ein Aerosol, das Niederschlag sauer und ätzend macht. Auf Boyer und seine Begleiter regnete es bald ganze Sturzbäche.

Innerhalb von Minuten waren die Karabiner korrodiert. Wahrscheinlich waren auch die Seile angegriffen. Die Forscher beschlossen umzukehren. Gerade rechtzeitig: Beim Einstieg hatten sie die Seile an Stäbe geknotet, die sie in den trockenen Boden getrieben hatten. Jetzt riss dort schmutzig-graues Wasser alles mit sich. Der Weg aus dem Krater wäre versperrt gewesen – und die Entdecker gefangen.

Wie knapp sie damals dem Tod entkommen sind, hat Boyer nun beim zweiten Versuch deutlich vor Augen. Sein Team schlägt das Basiscamp wieder im Inselinnern auf, wo sich die Kegel des Benbow und des Marum auftürmen. Während an Ambryms Küste Kokospalmen die Dörfer umgeben, wächst hier im Hinterland fast nichts mehr. Nur grünes Moos überzieht die schwarzen Hügel aus kalter Lava und Asche.

Die Entdecker müssen den richtigen Moment erwischen, das richtige Wetter. Aber drei Wochen regnet es fast ununterbrochen. „Meine Schuhe und Bastis Unterhosen auf der Wäscheleine haben schon Schimmel angesetzt“, schreibt die Fotografin Lohmann in ihrem Tagebuch. „Ich komme mir vor wie ein eingesperrtes Tier, und der Regen ist unser Käfig.“

Eines Morgens erwacht Boyer unter blauem Himmel. Endlich. Eilig packen die drei Proviant, Messgeräte und 600 Meter Seil zusammen. Bis zum Benbow sind es fast zwei Stunden Marsch über die aufgeweichte Ebene, die jetzt in der Sonne dampft. Dann stapfen sie den 400 Meter hohen Kegel hinauf. Unter ihnen liegt bald ein 1,5 Kilometer weiter Kessel aus schwarz-grauer Asche und Tuffstein, die der Vulkan nach oben geschleudert hat. In der Mitte klaffen zwei Löcher im Boden: die beiden Schachtkrater des Benbow, seine Ventile, die ständig Rauch und kleine Eruptionen produzieren. In einem der beiden werden Boyer und seine Begleiter gleich verschwinden.

Der Weg ins Innere des Benbow führt über drei Stufen: vom Startpunkt auf 1100 Metern müssen sich Boyer und sein Team erst 150 Höhenmeter auf die erste Ebene abseilen. Dann im Schachtkrater 110 Meter auf die zweite und noch einmal 100 auf die dritte und letzte Ebene.

Näher kann man dem Lavasee nicht kommen. Den Abstieg auf die erste Stufe haben sie in den vorhergehenden Wochen schon oft vor Ort geprobt. Für die nächste Etappe muss Alpinist Hofmann die richtige Abseilstelle erst finden: An ihr dürfen die Felsen nicht zu sehr bröckeln. Darüber vergeht ein ganzer Tag. Die Nacht verbringen die drei mit Gasmasken im Kegel. Der Boden zittert unter den Schlafenden. Das Brummen des Vulkans grollt in der Tiefe. Nur Boyer findet Ruhe, das Geräusch klingt für ihn wie Wellen in der Brandung. Bevor die Sonne aufgeht, sind alle wieder auf den Beinen

Bergsteiger Hofmann hängt sich als Erster in die Seile. Er soll den Weg testen. Gefährlich ist der Vulkan nicht nur, weil er jederzeit ausbrechen könnte. Die Kletterer müssen auch Fumarolen ausweichen. Aus diesen Spalten im Gestein schießen heißer Wasserdampf und Gas.

Gerade deshalb interessiert sich der Geologe Boyer für sie: Mit einem elektrischen Sensor misst er die Temperatur des austretenden Gases. Je heißer es ist, desto aktiver ist der Vulkan. Auf der zweiten Ebene, noch 200 Meter über dem Lavasee, donnert es plötzlich unter den Füßen. Ein Wirbel aus roten Gasen zischt nach oben und umhüllt Boyer und seine Begleiter. Sie können weder sehen noch atmen. „Mein Gesicht verbrennt!“, denkt Lohmann. Bevor sie schreien kann, ist der Wirbel gen Himmel vorbeigezogen.

Weiter unten, im engen Trichter, wären sie erstickt. Boyer misst mit einer Wärmebildkamera die Temperatur auf der nächsten und letzten Ebene: 50 Grad. Nicht zu heiß zum Weiterklettern. „In jeder Sauna ist es wärmer“, macht Lohmann Mut. Genau hier hatten sie beim ersten Mal umkehren müssen. Sie lassen sich die letzten 150 Meter am Seil nach unten gleiten. Der Rauch ist dicht. Ab zehn Meter Abstand sieht man seinen Vordermann nicht mehr. Über Walkie-Talkies hält die Gruppe Kontakt. Ein Funkspruch von Hofmann, der wieder vorangeklettert ist: „Ich bin unten. Es ist verdammt noch mal einmalig.“

Das Grollen des Vulkans ist jetzt so laut wie ein Tornado. Der Boden wackelt wie bei einem Erdbeben. Die drei suchen Schutz am Rande eines flachen Plateaus. Vor ihnen schleudert der 45 Meter breite Lavasee glühende Fontänen in die Luft. „Als ob er seine heiße Zunge nach uns ausstreckt“, denkt Lohmann. Die Felswände hinter ihnen leuchten dunkelrot, aber man kann noch die vielen Schichten erkennen, die den Krater formten. Es ist wieder Nacht geworden, und über Boyer und seinem Team steht der Mond fern und fremd. Das ist kein Ort für Menschen, spürt Boyer.

Er tritt an den Rand des Abgrunds, wo lächerliche 50 Meter tiefer die Hölle tobt. Er richtet etwas auf den See, das aussieht wie eine Pistole: ein Infrarotthermometer, das Temperaturen aus größerer Entfernung bestimmt. 1276 Grad. Fast 200 Grad heißer, als Geologen bisher vermuteten. Boyer weiß: Das heute ist ein Erfolg, aber erst der Anfang. Er wird noch oft hierherkommen müssen, damit die gesammelten Daten ausreichen und vergleichbar werden.

Es fällt ihm schwer, sich zu konzentrieren. Lieber würde er ins Feuer starren und an nichts denken. Aber er ist wegen etwas gekommen, das es nur hier gibt: frische Lavaproben. Boyer vermutet, dass die Krater auf Ambrym unterirdisch miteinander verbunden sind. Bisher konnte das nicht nachgewiesen werden. Aber ein Indiz liefert der Pegel des Lavasees: Der ist im Benbow diesmal tiefer als beim vorherigen Mal. Zwischendurch ist der benachbarte Marum ausgebrochen.

Vielleicht speisen sich beide aus derselben Magmakammer? Hat die Lava dieselbe Zusammensetzung, wäre das ein Hinweis. Boyer und Hofmann steigen in silberne Hitzeanzüge. Hofmann wirft einen Stein an einem Stahlseil hinab. Daran soll die Lava kleben bleiben. Das Seil ist zu kurz. Doch die Männer haben Glück: Wie aus einem riesigen Suppentopf spritzt immer wieder flüssige Lava hoch, bis vor ihre Füße. Boyer sammelt die Schlacken auf. Er wird sie später im Labor untersuchen.

Boyer fühlt weder Müdigkeit noch wie die Zeit vergeht. Aber er kann nicht bleiben. Die Hitze und die ungesunde Luft schwächen das Team, und es hat einen langen Aufstieg vor sich. Erst im Morgengrauen erklimmen die drei wieder die oberste Ebene des Benbow. Am Rand der Felsen mischt sich das Rot der Lava mit dem Lila der Dämmerung. 48 Stunden haben sie im Krater verbracht, 720 Höhenmeter überwunden. Auf wackligen Beinen kehren sie zurück in die Welt der Menschen. Zumindest zwei Dinge sind klar. Erstens: Sie brauchen Schlaf. Und zweitens: Sie kommen wieder. Boyer braucht noch viele Proben.

(NG, Heft 4 / 2016, Seite(n) 66 bis 75)

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