Das Kilogramm wurde neu definiert

Die Einheit basiert nun auf einer fundamentalen Konstante, die sich im Gegensatz zum physischen Prototyp nicht verändern wird.

Von Maya Wei-Haas
Veröffentlicht am 19. Nov. 2018, 17:27 MEZ
Zylinder
Dieser Zylinder ist eine exakte Nachbildung des Kilogrammprototyps. Diese Reproduktion wird im National Institute of Standards and Technology in Gaithersburg im US-Bundesstaat Maryland aufbewahrt und dient als Vergleichswert für alle Gewichte in den USA.
Foto von Robert Rathe

Unter einem Trio aus ineinander geschachtelten Glasglocken befindet sich ein glänzender Metallzylinder in einem klimatisierten Tresorraum des Internationalen Büros für Maß und Gewicht (BIPM) in Sèvres bei Paris. Le Grande K, dieser einsame Zylinder aus Platin und Iridium, definiert seit mehr als einem Jahrhundert die Masse auf der Welt. An ihm orientieren sich Badezimmerwaagen ebenso wie die exakten elektronischen Waagen in medizinischen Laboren.

Das wird sich nun bald ändern.

Beim 26. Treffen der Generalkonferenz für Maß und Gewicht in Versailles stimmten Vertreter aus mehr als 60 Ländern dafür, das Kilogramm neu zu definieren. Anstatt die Einheit am Gewicht eines physischen Objekts festzumachen, soll sie fortan auf einer fundamentalen Größe der Physik basieren – dem Planck’schen Wirkungsquantum. Die winzig kleine Zahl beginnt nach dem Komma mit 33 Nullen und beschreibt das Verhalten von Photonen.

„Diese fundamentale Konstante ist ein Bestandteil jenes Gefüges, das unser Universum ausmacht“, sagt Stephan Schlamminger, der Leiter des Teams vom National Institute of Standards and Technology. Zusammen mit einer Reihe internationaler Wissenschaftler haben die Forscher daran gearbeitet, das Planck’sche Wirkungsquantum für die Neudefinition des Kilogramms zu verfeinern. Das Wichtigste: Der Wert wird auf ewig gleich bleiben.

Ein gewichtiger Unterschied

Das Kilogramm ist eine der sieben Basisgrößen des Internationalen Einheitensystems, das alle anderen Maßeinheiten definiert. (Die anderen sechs Basiseinheiten sind Meter, Sekunde, Mol, Ampere, Kelvin und Candela.) Es ist einfach, die große Bedeutung von Maßeinheiten zu vergessen – aber letztendlich sind sie die Grundlage für alles in unserem Universum. Auch aus unserem täglichen Leben sind sie nicht wegzudenken. Ohne sie gäbe es keine Einheitlichkeit in der Produktion, im Handel, bei wissenschaftlichen Innovationen und in vielen anderen Bereichen.

Das metrische System, welches später das Internationale Einheitensystem wurde, wurde im 17. Jahrhundert erstellt, um Messungen „für alle Menschen zeitlos“ zu machen, sagt Schlamminger. Ziel war es, das tagtägliche Leben zu vereinfachen. Früher konnte eine Reise in eine andere Stadt schon bedeuten, dass man neue Maßeinheiten lernen musste.

Viele der frühen metrischen Einheiten basierten auf Dingen aus der Natur, erklärt Richard Davis, ein emeritierter Physiker des BIPM. Letztendlich erwies sich das aber als unpraktisch. Ein Meter wurde beispielsweise als 1/10.000.000 der Entfernung vom Nordpol zum Äquator (durch Paris verlaufend) definiert. Das Kilogramm war die Masse von einem Liter destillierten Wassers an seinem Gefrierpunkt.

„Sie hatten einfach nicht die Technologie oder das wissenschaftliche Know-how“, sagt Davis. Im Juni 1799 schmiedete man daher zwei Platin-Prototypen – eine Metermesslatte und einen Kilogrammzylinder –, die den Beginn des metrischen Systems darstellten. Für eine erhöhte Stabilität wurden diese Prototypen 1889 erneuert. Diesmal wurde eine Legierung aus Platin und Iridium benutzt und die Urmaße wurden unter Verschluss gehalten.

Aber dieser Verlass auf physische Gegenstände hatte auch seine Nachteile. „Ein materieller Gegenstand ist nicht für die Ewigkeit gemacht“, sagt Schlamminger. Kaffeetassen zerbrechen, Kleidung reißt und Rohre rosten. Außerdem sind diese Prototypen, die in einem Tresor aufbewahrt werden, auch nicht „für alle Menschen“ zugänglich.

Im letzten Jahrhundert wurden diese physischen Gegenstände nach und nach durch fundamentale Konstanten ersetzt. Das Kilogramm war das letzte Überbleibsel aus den Anfängen des metrischen Systems.

Gewichtsverlust

Mal abgesehen von seiner Unzugänglichkeit machte der Kilogrammprototyp aber einen guten Job. Wissenschaftler fertigen eine Reihe von Reproduktionen für Forscher auf der ganzen Welt an. In den fast 130 Jahren seiner Existenz wurde der Prototyp nur dreimal aus seinem Tresor entnommen, um den wertvollen Zylinder mit seinen Kopien zu vergleichen.

Mit jedem Vergleich stieg aber die Besorgnis der Wissenschaftler: Der Prototyp schien an Gewicht zu verlieren.

Im Vergleich zu seinen Kopien wurde der kleine Zylinder immer leichter. Oder seine Kopien wurden immer schwerer. Das lässt sich schlecht sagen, da der Prototyp per Definition genau ein Kilogramm wiegt. Wenn jemand eine Ecke aus dem Zylinder schlagen würde, würde er immer noch ein Kilogramm wiegen – und die Maße auf der ganzen Welt müssten sich dem anpassen.

Insgesamt besteht zwischen dem Prototyp und seinen Kopien mittlerweile ein Unterschied von 50 Mikrogramm – fast so viel wie ein Salzkorn. Das klingt banal, aber für exakte Felder wie die Medizin ist das ein gewaltiger Unterschied. Außerdem betrifft der Masseverlust auch andere Einheiten wie Newton, die in Relation zu Masse definiert werden.

Wie kommt es dazu?

Um dieses Problem zu beseitigen, beschloss die Generalkonferenz für Maß und Gewicht im Jahr 2011 einstimmig, das Kilogramm sowie drei weitere Einheiten – Ampere, Kelvin und Mol – auf Basis von „unveränderlichen Größen der Natur“ neu zu definieren. Seither haben sich Wissenschaftler auf der ganzen Welt um eine Lösung bemüht.

Am Ende hatten sie zwei Möglichkeiten für das Kilogramm aufgetan, die beide mit dem Planck’schen Wirkungsquantum zusammenhängen. Die erste basiert auf einer sogenannten Watt-Waage oder Kibble-Waage. Die kann man sich ähnlich wie eine klassische Balkenwaage vorstellen, an deren beiden Enden jeweils eine Waagschale hängt. Um das Gewicht eines Gegenstandes zu messen, legt man den gewünschten Gegenstand in die eine Waagschale und ein bekanntes Gewicht in die andere. Dank der Erdanziehungskraft kann man dann erkennen, wie viel der Gegenstand in Relation zu dem Gewicht wiegt.

Für eine Watt-Waage würde eine Waagschale aber durch eine Spule in einem Magnetfeld ersetzt. Anstelle der Erdanziehungskraft würde eine elektromagnetische Kraft die Masse ausbalancieren. Indem die Wissenschaftler eine Masse mit bestimmten Aspekten dieser elektromagnetischen Kraft vergleichen, können sie das Planck’sche Wirkungsquantum exakt bemessen.

Die andere Lösung basiert auf der Erzeugung eines anderen glänzenden Gegenstandes: einer perfekten Kugel aus Silizium 28. Der Idee liegt die sogenannte Avogadro-Konstante zugrunde, die die Anzahl der Atome in einem Mol definiert (etwa 602.214.000.000.000.000.000.000). Indem sie die Anzahl von Atomen in einer Siliziumkugel zählen, die genau ein Kilogramm wiegt, können die Wissenschaftler die Avogadro-Konstante extrem genau berechnen. Diese kann dann in das Planck’sche Wirkungsquantum konvertiert werden.

 Das Warten hat ein Ende

Mit diesen zwei Methoden können Forscher nun mit einer Unsicherheit im Hundert-Millionstel-Bereich ein Kilogramm messen – die Unsicherheit entspricht in dem Fall einem Viertel des Gewichts einer Wimper, so Schlamminger. „Das ist eben die Sache bei der Wissenschaft – so etwas wie Perfektion gibt es nicht“, sagt er. „Es gibt immer zufällige Effekte und ein bisschen Streuung. Man muss sich entscheiden: Ist [das Ergebnis] gut genug?“ Das einstimmige Votum lässt darauf schließen, dass es das ist.

Die Änderung tritt am 20. Mai 2019 in Kraft. „In unserem Alltag wird sich an diesem Tag nichts verändern“, sagt Davis. Das Mehl in unserer Küche werden wir weiterhin genauso abwiegen wie bisher. Aber der neue Standard macht einen gewaltigen Unterschied für die Herstellung von Autoteilen, die Entwicklung neuer Medikamente, die Produktion wissenschaftlicher Instrumente und viele andere Bereiche, in denen Präzisionsmessungen gefragt sind.

Die Abstimmung war aber nicht nur aufgrund ihrer Tragweite bemerkenswert, sondern auch aufgrund der internationalen Zusammenarbeit. Nachdem die Vertreter der Länder der neuen Definition einstimmig zugestimmt hatten, schloss der Präsident der Französischen Akademie der Wissenschaften, Sébastien Candel, mit folgenden Worten: „Ich hoffe, dass das auch für viele andere Probleme auf der Welt möglich sein wird.“

 

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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