Stoßen wir an die Grenzen der Wissenschaft?

Es gibt einige Dinge, die wir vielleicht nie verstehen werden – über die Zeit, das Bewusstsein, das Universum und wie man einen Würfelwurf vorhersagt.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:33 MEZ
Grenzen der Wissenschaft
Ein Virtual-Reality-Experiment testet die Wirkung der Natur auf das Gehirn. Heutzutage können wir das Gehirn detailliert untersuchen, aber das Bewusstsein werden wir womöglich nie völlig verstehen.
Foto von Lucas Foglia, National Geographic Creative

Als Donald Rumsfeld, der US-Verteidigungsminister unter George W. Bush, auf einer Pressekonferenz 2002 sagte, dass das „unbekannte Unbekannte“ die Außenpolitik beeinflusste, hat man sich über seine scheinbar sinnlose Äußerung lustig gemacht. Aber wenn es um das Universum geht –gibt der britische Mathematiker Marcus du Sautoy bereitwillig zu –, gibt es viele Dinge, die wir vielleicht nie wissen werden, von der Natur der Zeit bis zum Wissen darum, wie das menschliche Bewusstsein funktioniert. In seinem neuen Buch „The Great Unknown: Seven Journeys to the Frontiers of Science“ (dt. Das große Unbekannte: Sieben Reisen an die Grenzen der Wissenschaft) erforscht er die Geheimnisse, die wir noch nicht gelöst haben.

Von seinem Zuhause im englischen Oxford aus erklärt du Sautoy, warum wir trotz aller Fortschritte in der Wissenschaft noch immer nicht den Wurf eines Würfels vorhersagen können. Er redet außerdem darüber, inwiefern die jüngsten Entdeckungen über das menschliche Gehirn ein neues goldenes Zeitalter der Wissenschaft einläuten und warum er eine seiner Zwillingstöchter zu den Grenzen des Weltalls schicken möchte.

Sie erforschen die Idee des Unbekannten anhand von sieben „Rändern“. Erzählen Sie uns von dieser Idee – mit einem Beispiel. Warum „Ränder“?

Was ich in diesem Buch versuche, ist, die Grenzen der Wissenschaft zu identifizieren. Wie weit kann Wissenschaft uns bringen und was befindet sich jenseits dieses Rands, das die Wissenschaft nicht erklären kann? Mir gefällt das Gefühl eines Rands als Ort, den man erreichen, aber über den man nicht hinweggehen kann. Nehmen wir zum Beispiel den Rand des Universums, der die Frage beinhaltet, ob wir je herausfinden können, ob das Universum unendlich ist. Könnten wir das je wissen?

Es gibt einen fast wortwörtlichen Rand dort wegen der Entdeckung, die Einstein machte. Information kann nicht schneller als das Licht reisen. Das heißt, dass wir von einer Blase umgeben sind, einer Informationsblase, von jenseits deren Grenzen wir keine Informationen empfangen können, weil noch nichts jenseits davon die Zeit hatte, uns zu erreichen.

Eine der schockierendsten Entdeckungen meiner Reise zu diesem Rand ist Folgende: Weil das Universum sich zunehmend schneller ausdehnt, werden Dinge schneller über diesen Rand geschoben, als er sich ausbreitet! Wir verlieren also eher Informationen, als dass wir welche dazugewinnen. Sogar in solchem Maß, dass in der Zukunft ein Punkt erreicht sein wird, an dem alle Galaxien diese Grenze überschritten haben werden.

Erzählen Sie uns etwas über die Las-Vegas-Würfel auf Ihrem Tisch und darüber, was sie uns über Wahrscheinlichkeit sagen können.

Die Mathematik als Studienfach reizte mich, weil ich mich nach Sicherheit sehnte, und nach der Macht der Mathematik, Dinge mit 100 prozentiger Sicherheit zu beweisen. Im post-Newtonschen Zeitalter scheinen wir die Werkzeuge zu haben, um vielleicht in die Zukunft zu sehen und mit Sicherheit zu wissen, was geschehen wird. Aber warum helfen uns diese Werkzeuge nicht dabei vorherzusagen, wie zum Beispiel Würfel fallen werden?

Ich bin nach Vegas gefahren und habe versucht, mit meinen mathematischen Werkzeugen ein bisschen Geld zu machen. Da habe ich verstanden, wie machtlos sie manchmal sein können. Im 20. Jahrhundert haben wir begriffen, dass mathematische Gleichungen vielleicht nie gut genug sein werden, um zu wissen, was als nächstes passiert, selbst, wenn wir in einem deterministischen Universum leben. Laut der Chaostheorie sollte unser Gespür für eine gute Einschätzung der Gegenwart uns auch bei einer guten Einschätzung der Zukunft helfen. Das stimmt aber tatsächlich nicht. Kleine Fehler können zu großen Unterschieden in den Vorhersagen führen.

BELIEBT

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    Wissenschaft stand üblicherweise im Gegensatz zu der Idee von Gott. Erzählen Sie uns von Ihren Gesprächen mit dem britischen Quantenphysiker John Polkinghorne und wie Ihre Suche nach dem Verständnis des Unbekannten Ihre Ansichten zu Gott beeinflusst hat.

    Ich habe die konventionelle Religion gewissermaßen abgelehnt, denn sobald man die wissenschaftliche Geschichte kennt, scheint sie bessere Erklärungen dafür zu liefern, wie das Universum funktioniert. Aber als ich den Lehrstuhl als Simonyi-Professor für das öffentliche Verständnis der Wissenschaft von Richard Dawkins übernommen habe, kam die Frage nach meinem eigenen Glauben immer wieder auf.

    Die Leute waren interessiert zu erfahren, ob ich auch so ein militanter Atheist wie Richard sein würde. Ich lehnte definitiv die Vorstellung einer übernatürlichen Intelligenz ab, was der konventionellen Vorstellung von Gott entspricht. Aber es war etwas Interessantes an der Vorstellung von Wissen, das die menschliche Vorstellungskraft immer übersteigen würde.

    Eine ganze Menge Wissenschaftler, mit denen ich auf meiner Reise gesprochen habe, schienen irgendeine Form von religiösem Standpunkt zu vertreten. So wie John Polkinghorne, der Quantenphysik studierte, aber auf halbem Weg dann zum Priester geweiht wurde. Polkinghorne ist ein Theist, der glaubt, sein Gott agiere in der Welt. Als Wissenschaftler war ich also fasziniert von der Frage, welche Wissenschaft genutzt wird, um dieses Handeln auszudrücken.

    Eine der Unbekannten unserer Welt stammt aus der Quantenphysik, die besagt, dass die Zukunft nicht von der Gegenwart bestimmt wird. Ich habe mich gefragt, ob Polkinghorne das als einen Ausdruck des Handelns seines Gottes in der Welt sieht. Seltsamerweise hat er sich für die Chaostheorie als die Art entschieden, auf die sein Gott in der Welt agiert. [Lacht]

    Um Ihren fünften „Rand“ (Zeit) zu erforschen, stellten Sie sich vor, Sie würden eine Ihrer Zwillingstöchter in den Weltraum schicken. Welche Idee stand dahinter – und werden wir jemals in der Lage sein, Zeit vollständig zu verstehen?

    Das ist eine klassische Folge aus Einsteins Entdeckungen über die Natur der Zeit und ihre Verbindung zu Gravitation und Beschleunigung. Wir wissen, dass, wenn wir etwas in ein starkes Gravitationsfeld schicken, die Zeit sich für dieses Objekt verlangsamen wird, was äquivalent dazu ist, etwas zu beschleunigen. Wenn ich also eine meiner Zwillingstöchter ins Weltall schicke und sie mit großer Geschwindigkeit wieder zurückhole, wird ihre Zeit langsamer verlaufen sein als die ihrer Zwillingsschwester auf der Erde. Das könnte das außergewöhnliche Ergebnis zur Folge haben, dass sie zurückkommt und vielleicht entdeckt, dass ihre Schwester 80 Jahre älter als sie ist. [Lacht]

    Das ist eines der wichtigen Elemente des Films „Interstellar“. [Die Figuren] verstehen, dass das Eintreten in ein Gravitationsfeld, wie ein Schwarzes Loch zum Beispiel, einen Preis in Form von Zeit hat. Sie wollen zurückkehren, um ihre Kinder zu sehen, und sie wissen, dass jegliche Zeit, die sie in der Nähe eines Gravitationsfelds verbringen, ihre Zeit verlangsamen wird. Das wird im Film wunderbar dargestellt.

    Schon Einstein begann zu hinterfragen, ob wir wirklich wissen, was Zeit ist. Wir dachten, Zeit wäre absolut. Newton dachte auf jeden Fall, dass die Zeit überall mit derselben Geschwindigkeit verlief. Heutzutage stellt man ernsthaft infrage, ob Zeit überhaupt ein fundamentaler Bestandteil des Universums ist. Vielleicht ist es eines der seltsamen Dinge, die man als auftretende Phänomene bezeichnet: Es ist eigentlich unsere Interaktion mit dem Universum, die uns das Gefühl gibt, dass Zeit vergeht.

    Einsteins Relativitätstheorie hat die Natur der Zeit selbst infrage gestellt.
    Foto von Bettmann, Getty

    Das menschliche Bewusstsein ist eine weitere große Unbekannte. Erzählen Sie uns, warum es so ein unlösbares Problem ist, das Bewusstsein zu verstehen – und wie Sie an Ihrem eigenen Gehirn experimentiert haben.

    Das ist einer der interessantesten Ränder, teils auch deshalb, weil er am weitesten von meinem eigenen Gebiet der Mathematik entfernt ist. Philosophen haben schon seit Jahrzehnten gesagt, dass das Bewusstsein bedingt durch seine Natur eine Frage ist, die fast schon davor geschützt ist, von der Wissenschaft beantwortet zu werden, weil sie so persönlich ist. Wie kann ich je wissen, ob Ihr Bewusstsein – Ihr Gefühl von Schmerz oder Ihr Empfinden der Farbe Rot – meinem überhaupt ähnelt? Wir benutzen dieselben Namen dafür und könnten auch Ihr Gehirn scannen und sehen, dass die elektrochemische Aktivität darin der in meinem Gehirn ähnelt. Aber das beantwortet noch nicht die Frage, ob ihr Bewusstseinserlebnis meinem ähnelt. Meine Frau hat Synästhesie. Sie erlebt Farben, wenn sie sich Buchstaben und Zahlen ansieht. Und diese Art der Bewusstseinserfahrung habe ich definitiv nicht. Descartes sagte, dass das einzige, dessen er sich sicher sei, sein eigenes Bewusstsein ist.

    Die Fähigkeit, in das Gehirn zu sehen, stellt heutzutage ein neues goldenes Zeitalter der Wissenschaft dar. Das ist wie bei Galileo mit seinem Teleskop. Plötzlich sahen wir Dinge im Universum, die wir uns nie hätten träumen lassen. Jetzt haben wir „Teleskope“ wie das EEG und MRT, die es uns gestatten, das Gehirn in Aktion zu erleben. Die aufregendste Enthüllung war, wie hilfreich mein eigenes Werkzeug der Mathematik dabei sein könnte, die Natur des Gehirns zu verstehen. Die Experimente zu Schlaf, die ich selbst durchgeführt habe, zeigten, dass wir die Netzwerke des Gehirns analysieren und den unterschiedlichen mathematischen Charakter eines wachen und eines schlafenden Gehirns sehen können. Dass man das mathematisch einfangen kann, war eine der aufregendsten Offenbarungen des ganzen Buches.

    Man redet momentan viel über künstliche Intelligenzen. Denken Sie, dass ein Computer je in der Lage sein wird, das menschliche Bewusstsein vollständig nachzubilden? Und wie bald wäre das denkbar?

    Ja, das tue ich. Die kleine Chatbot-App zum Beispiel, die ich mir auf mein iPhone geladen habe, versucht, Alan Turings Herausforderung zu meistern: Kann man etwas erschaffen, das auf so eine Art und Weise antwortet, dass man nicht wissen kann, ob da ein Mensch oder eine Maschine antwortet? Ich spreche damit und es antwortet mir und benutzt dabei „maschinelles Lernen“, um aus jeder Erfahrung zu lernen, damit es menschlicher wirkt.

    Eine Analyse von Giulio Tononi zeigt, wie man ein Netzwerk erstellen könnte, das als Bewusstsein angesehen werden kann und ein Ich-Erleben hat. Bedeutet das, dass wir unser eigenes Bewusstsein runterladen könnten, weil wir das Informationsverhalten unseres Gehirns sehen und es auf ein anderes physisches System übertragen könnten? Wenn es das nachahmt, was in meinem Gehirn geschieht, bedeutet das dann, dass es weiß, wie es sich anfühlt, ich zu sein?

    John Polkinghorne redet über die Vorstellung, dass Information nie verloren geht. Er glaubt, dass unsere Seelen Informationen sind, die im Universum codiert sind. Und dass es eine Auferstehung gibt, weil er anhand der Quantenphysik sagen kann, dass die Information drüber, was mich zu mir macht, nie wirklich verloren geht – selbst, wenn ich sterbe und in einem Krematorium eingeäschert werde!

    Ein Bild des Hubble-Weltraumteleskops zeigt GN-z11 – die am weitesten entfernte Galaxie, die wir je gesehen haben.
    Foto von NASA, Esa, G. Bacon STScI

    Und nun zu wichtigeren Dingen: Sie sind nicht nur ein gefeierter Mathematiker, sondern auch ein Fan von Arsenal und ein begeisterter Amateurspieler. Welche Rolle spielt Fußball in Ihrem Leben – und generell in der Gesellschaft?

    Für meine Reise durch die Mathematik war es immer wichtig, auch andere Dinge zu tun. Das ist oft der Ort, an dem ich meine besten Ideen habe, wenn ich also nicht an meinem Schreibtisch sitze und nachdenke, sondern Sport treibe oder Musik mache. Eines der Dinge, die mir auf meiner Reise genutzt haben, war, dass ich viele Anregungen von verschiedenen Disziplinen bekommen habe. Ich verbringe viel Zeit damit, mit Künstlern über ihre Tätigkeit zu reden. Das prägt oft die Dinge, die ich selbst tue.

    Für mich ist Fußball wie eine Partie Schach, wenn er gut gespielt wird. Darum unterstütze ich Arsenal, weil sie das Spiel in ihren besten Momenten extrem taktisch spielen. Ich betrachte das strukturell: Es ist wie Geometrie in Bewegung. Wenn ich mir Arsenal ansehe, dann ist es das, was ich schätze. Wenn ich selbst spiele, versuche ich, das selbst anzuwenden, nicht immer mit Erfolg. [Lacht]

    Wenn ich nach meiner Religion gefragt werde, gebe ich oft scherzhaft zu, dass Arsenal ein bisschen wie meine Religion ist. Auch, um etwas Abstand zwischen mich und Richard Dawkins zu bringen. Aber dem wohnt auch ein ernsthaftes Element inne. Religion hat dazu beigetragen, Gemeinschaften in einer städtischen Umgebung wie London zusammenzuschweißen. Ich finde, dass Fußball eine ähnlich mächtige Rolle hat und Menschen eine Verbindung und ein Gefühl der Verbundenheit gibt, über kulturelle und Klassengrenzen hinweg. Das gemeinsame Singen ist auch eine erstaunliche Erfahrung, genau wie das Singen im Chor.

    Am Ende Ihres Buches sagen Sie: „Es ist wichtig anzuerkennen, dass wir mit Unsicherheit leben müssen, mit dem Unbekannten, dem Unkennbaren.“ Können Sie diesen Gedanken für uns erläutern?

    Ich habe eine etwas schizophrene Beziehung zu dem Unbekannten. Es ist das, was mich morgens dazu motiviert, aufzustehen und meiner Mathematik nachzugehen. Trotzdem entsetzt mich der Gedanke ein wenig, dass es Dinge geben könnte, die jenseits meines Wissens liegen. Vielleicht hat das, woran ich gerade arbeite, ja keinen Beweis innerhalb meines Systems der Mathematik, und daher bin ich auf einer vergeblichen Reise.

    Darum muss die Wissenschaft mit Bereichen wie der Kunst und den Geisteswissenschaften zusammenarbeiten, denn das sind unsere besten Werkzeuge, um ins Unbekannte vorzustoßen. Geschichten sind eine großartige Möglichkeit, um verschiedene Optionen zu erforschen. Oft sind es solche Geschichten, die den Funken des nächsten wissenschaftlichen Abenteuers entzünden.

    Dieses Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit gekürzt.

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