Was sehen Sie, wenn Sie auf einen Gletscher schauen?

Die Glaziologin und Geografin M. Jackson untersucht die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Eis – an so unterschiedlichen Orten wie Alaska, der Türkei und Island.

Von Christina Nunez
Veröffentlicht am 21. Nov. 2018, 18:07 MEZ
Die Glaziologin und Geografin M Jackson ist als National Geographic Emerging Explorer ausgezeichnet.
Die Glaziologin und Geografin M Jackson ist als National Geographic Emerging Explorer ausgezeichnet.
Foto von Joe Tighe

Jackson promovierte kürzlich in Geografie und begleitet Studenten und Urlauber auf National Geographic-Expeditionen nach Island und Alaska. Mit Anfang 20 zog sie nach Alaska, und spielte mit dem Gedanken, Bücher zu verlegen. Sie arbeitete als Tourenführerin, Feuerwehrfrau und Sanitäterin. Aber der tägliche Kontakt mit dem Eis und die schnellen Veränderungen, die sie beobachtete, veranlassten sie, Gletscher nicht nur aus naturwissenschaftlicher, sondern auch aus sozialer Sicht zu betrachten. Sie versucht, ein riesiges Buch mit Mensch-Eis-Geschichten über alle Kulturen hinweg zusammenzustellen. „Diese Menge an Geschichten ist wichtig“, sagt Jackson, „denn sie kann uns auch helfen, die Auswirkungen des Klimawandels besser zu verstehen.“

Warum sind Gletscher wichtig?

Die kurze Antwort ist ziemlich einfach: Sie regulieren das globale Klima, beeinflussen das lokales Wetter, gestalten große Landflächen, stellen Wasser und andere lebenswichtige Ressourcen bereit und dienen als Frühindikatoren für erhebliche Umwelt-Ungleichgewichte.

Darüber hinaus bedeuten Gletscher für die Menschheit viel mehr: Sie wurden im Laufe der Zeit von unzähligen Menschen beobachtet und beschrieben. Meine Forschung zeigt, dass Gletscher inspirieren, Erinnerungen wach halten, Kulturen direkt mit Landschaften verbinden, spirituelle Erfüllung bieten und Menschen auf dem gesamten Planeten verbinden.

Was hat Sie zu Gletschern geführt?

Ich habe etwa ein Jahrzehnt im Südosten Alaskas gelebt, dort gibt es wirklich große Eissysteme. Und ich sah, wie sich das Eis verändert. Ich habe viel darüber gelesen, was da draußen passiert, viele dieser Bücher waren von Naturwissenschaftlern geschrieben. Aber mir wurde auch sehr deutlich bewusst, ist, dass es eine menschliche Geografie der Gletscherveränderungen gibt. Die Menschen haben so viele unterschiedliche Meinungen darüber, was mit den Gletschern passiert – entsprechend viele verschiedene Narrative gibt es. Manche erzählen von einem Gletscher in der Nachbarschaft, andere berichten von Gletschern auf globaler Ebene.

Wo es Gletscher gibt, gibt es Menschen – die beiden haben während der gesamten Menschheitsgeschichte interagiert. Aber wir wissen eigentlich sehr wenig über diese Art der Interaktion. Das ist für mich wirklich inspirierend. Es gibt eine unglaubliche Vielfalt darin, wie Menschen in verschiedenen Teilen der Welt zu unterschiedlichen Zeiten Umweltbeziehungen zu Gletschern aufbauen. Aber wir hören nicht viel darüber.

Wenn Sie über Veränderungen im Eis sprechen, wie sehen diese aus? Was sehen Sie da?

Nur ein Beispiel: Ich habe ein Jahr an der Südostküste Islands verbracht. Das ist ein Ort, an dem man entweder den tiefblauen Nordatlantik sieht, das Grün dieser wirklich flachen, sumpfigen Landschaft, und dann man trifft man plötzlich auf große, weiße – oder im Winter blaue – Gletscher, die diese Landschaft dominieren. Das ist zunächst alles, was du siehst.

Ich habe alle ein bis zwei Wochen die gleichen Gletscher besucht. Bei einigen dieser Gletscher waren die Veränderungen so massiv, dass ich meinen Augen fast nicht traute. Ich ging hinaus, stand auf einem kleinen Hügel vor dem Gletscher, machte ein Foto, und dann kam ich ein oder zwei Wochen später zurück und musste mein Handy noch einmal heraus holen und dieses Bild noch einmal suchen, um sicherzustellen, dass ich an der gleichen Stelle stand. Das Eis war dünner geworden oder hatte sich so schnell zurückgebildet, dass es fast nicht mehr zu erkennen war.

Wie hängt das mit den von Ihnen erwähnten Mensch-Eis-Interaktionen zusammen?

Es gibt diese vorherrschende Idee, dass, wenn wir an genau der gleichen Stelle stehen und diesen Gletscher betrachten, wir dasselbe sehen und registrieren werden... dass wir den Klimawandel sehen werden. Das ist der Grund, warum viele Nachrichten über den Klimawandel mit einem bestimmten Bild eines Gletschers versehen sind.

Aber die Arbeit, die ich mache, zeigt, dass es keine einheitliche Geschichte von Gletschern gibt. Du kannst fünf oder sechs Leute an einem Ort nebeneinander stellen und sie auf das Eis schauen lassen und sie werden alle verschiedene, komplexe Geschichten sehen.

Wenn man darüber spricht, dass Gletscher die sichtbarste Erscheinungsform des Klimawandels sind, dann erkennt man auch, wie wir über den Klimawandel generell sprechen.

Wir neigen dazu, über den Klimawandel zu sprechen, als ob es ein Phänomen wäre, das stets allen Menschen an allen Orten widerfährt. Stattdessen ist es ein unglaublich komplexer Vorgang, der auf vielfältige und umfangreiche Weise auf dem ganzen Planeten abläuft. Es gibt viele Menschen, die sowohl von der Gletscherrezession als auch vom Klimawandel profitieren, und im gleichen Maß die negativen Seiten erleben: Ältere Isländer - Isländer über 50 - würden Dinge sagen wie: "Ich schaue, wie das Eis kleiner wird und ich fühle mich so erleichtert", weil sie nicht mehr in einer gefährlichen Landschaft leben. Aber denken Sie daran, wie die Menschen, vor allem in den USA, über die Gletscherveränderungen sprechen: Es ist eine Erzählung von Ruin und Verlust – ganz anders als in Island.

Einige Menschen im Südosten Islands - aber auch im Südosten Alaskas und in vielen verschiedenen Gletscherlandschaften - haben starke Empfindungen im Bezug auf das Eis in ihrer Nachbarschaft. Sie denken, dass das Eis lebendig sein könnte. Das verändert die Art und Weise, wie sie mit ihm interagieren. Das ändert ihre moralischen Ordnungen. Das ändert, wer verantwortlich ist. Das ist alles unglaublich wichtig. Darüber sollten wir reden.

Wenn Sie als Wissenschaftlerin inmitten all dieser verschiedenen Perspektiven sitzen, ist es da nicht Herausforderung, nicht diejenige hervorheben zu wollen, die die größte Gültigkeit hat. Haben Sie damit zu kämpfen?

Es ist ein natürlicher Impuls, komplexe Dinge auf ein erfahrbares Maß zu reduzieren.

Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, wenn wir den Klimawandel auf ein einzelnes Phänomen reduzieren, etwa: "Das Wetter wird viel schlechter werden und wir alle werden eine negative Erfahrung machen". Wenn das nicht dem entspricht, was du vor deinem Fenster siehst, kannst du dich nicht damit beschäftigen. Wenn du dich nicht in dieser Geschichte des Klimawandels wiederfindest, bist du nicht Teil dieser Geschichte des Klimawandels. Wenn wir also versuchen, die Gletscher auf die Summe ihrer Teile und Prozesse zu reduzieren, besteht die Gefahr, dass die Komplexität der Mensch-Eis-Beziehungen noch viel größer wird.

Gletscher gibt es auf allen sieben Kontinenten. wir wissen nichts von der Vielfalt von Menschen und Eis und all diesen Erfahrungen. Ich möchte eine globale Geographie von Menschen und Eis erstellen. Ich beginne zu befürchten, dass mit dem Verschwinden des Eises auch das komplexe Verhältnis von Eis und Menschen verschwinden wird, dass wir diese Geschichten verlieren werden. Das ist doch beängstigend, oder?

Es scheint eine unglaubliche Herausforderung zu sein, diese globale Geografie von Menschen und Eis zu schaffen, wenn sie sich ständig verändert und die Existenz des Eises bedroht ist.

Der Klimawandel zwingt uns zu Veränderungen und verändert gleichzeitig die Umwelt. Wenn wir also wissen wollen, wie dieser Prozess aussieht, können wir uns ansehen, wie die Menschen mit Gletschern an vergletscherten Orten in der gesamten Menschheitsgeschichte umgegangen sind - und sehen, wie die Menschen mit dieser kontinuierlichen Transformation, diesem ständigen Wandel heute umgehen. Ich denke, die Arbeit, die ich mache, ist nicht nur eine Erklärung dessen, was wir verlieren, sondern es ist eine Erforschung dessen, was wir vielleicht noch finden.

Dieser Artikel wurde übersetzt. Lesen Sie auch unsere Geschichte über die Antarktis in Heft 11/2018 des National Geographic-Magazins. Jetzt ein Abo abschließen!

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