Ultima Thule: Der bislang entfernteste Besuch von der Erde

In mehr als 6,5 Milliarden Kilometern Entfernung konnten Wissenschaftler einen Blick auf ein Urgestein des Sonnensystems werfen.

Von Michael Greshko
Veröffentlicht am 3. Jan. 2019, 15:14 MEZ
Eine Illustration zeigt den Vorbeiflug der NASA-Sonde New Horizons an dem Objekt 2014 MU69, das auch ...
Eine Illustration zeigt den Vorbeiflug der NASA-Sonde New Horizons an dem Objekt 2014 MU69, das auch Ultima Thule genannt wird.
Foto von NASA, Jhuapl, SwRI

Am letzten Abend des Jahres 2018 fand die größte Silvesterparty des Sonnensystems etwa 6,5 Milliarden Kilometer entfernt im Weltall statt. Am 1. Januar um 6:33 Uhr flog die NASA-Sonde New Horizons an einem kleinen Klumpen aus Eis und Gestein mit der Bezeichnung 2014 MU69 vorbei. Der außerirdische Brocken, dessen Spitzname Ultima Thule lautet, ist nun der am weitesten entfernte Ort, der je Besuch von der Erde bekam.

Aufgrund der gewaltigen Entfernung zwischen der Erde und der Sonde wussten die Mitglieder des New Horizons-Teams nicht sofort, ob der Vorbeiflug geglückt war. Aber kurz nach 16:30 Uhr kam das Bestätigungssignal und die jeweiligen Teams, die für die Subsysteme von New Horizons verantwortlich sind, erstatteten unter den wachsamen Blicken eines Plüschtier-Plutos Bericht.

Die versammelte Menge vor den Türen das Kontrollzentrums jubelte, als einer der Wissenschaftler verkündete, dass New Horizons planmäßig Daten gesammelt hatte.

„Unsere Sonde ist wohlauf. Wir haben gerade erfolgreich den bislang entferntesten Vorbeiflug absolviert“, sagte die Missionsmanagerin Alice Bowman mit einem Lächeln.

Zehn Stunden zuvor hatte New Horizons das neue Jahr mit einer Bilderflut von MU69 eingeläutet, als sie mit 16 km/s an ihm vorbeiflog. Auf der Erde waren zu diesem Anlass hunderte begeisterte Weltraumfans, Akademiker und Ingenieure zum Kossiakoff Center des Applied Physics Laboratory an der Johns Hopkins University gepilgert, um diese Meisterleistung in der Ferne zu feiern – und natürlich auch den Beginn des neuen Jahres.

„Das war das nerdigste Silvester, das ich mir vorstellen kann“, scherzte ein Teilnehmer, als sich die Menge im Laufe des Nachmittags versammelte.

Die Stimmung war ausgelassen. Kinder in Astronautenkostümen sprangen durch das Konferenzzentrum, während andere große Hüte mit dem Schriftzug „Happy New Year“ und dem Logo von New Horizons trugen. Unter den Teilnehmern war auch der Astrophysiker und Queen-Gitarrist Brian May, der sogar einen Song über die Mission geschrieben hatte

BELIEBT

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    Auch einige führende NASA-Mitarbeiter waren privat auf der Feier, konnten sich aufgrund des aktuellen Verwaltungsstillstands aber nicht offiziell äußern.

    „Hier dreht sich alles ums Entdecken – um Dinge, die noch nie zuvor gesehen wurden“, sagt Jim Green, der Leiter des NASA-Bereichs für Planetologie.

    Als die Teilnehmer am nächsten Morgen in das Konferenzzentrum strömten, war die Spannung groß. Hatte New Horizons es geschafft? Nachdem Bowman verkündet hatte, dass die Raumsonde wohlauf ist, brach die Menge in einen regelrechten Beifallssturm aus.

    „Wir waren schon richtig am Feiern, dabei hatten wir noch gar kein Signal zurückbekommen“, erzählte Bowman nach dem Vorbeiflug auf einer Pressekonferenz. „Dieses Mal war ich vermutlich ein bisschen nervöser als letztes Mal – aber wir haben es wieder geschafft.“

    We Will Rock You

    New Horizons brach am 19. Januar 2006 zu den Randgebieten unseres Sonnensystems auf und erreichte eine so hohe Geschwindigkeit, dass sie binnen 13 Monaten am Jupiter vorbeigerauscht war. Selbst mit dem Geschwindigkeits-Boost von der Gravitation des Planeten brauchte die Sonde aber noch etliche Monate, um die restlichen 3,2 Milliarden Kilometer bis zum Pluto zurückzulegen. Am 14. Juli 2015 offenbarte New Horizons schließlich den König des Kuipergürtels mit seiner kleinen Schar aus Monden.

    Nachdem die Sonde im Pluto-System Geschichte geschrieben hatte, wurde New Horizons nun zum ersten Weltraumfahrzeug, das ein Objekt besucht hat, welches erst nach seinem Start entdeckt wurde. Als die Sonde 2014 auf ihr Hauptziel zusteuerte, fanden Astronomen mit Hilfe des Hubble-Weltraumteleskops 2014 MU69. Das schwach leuchtende Objekt benötigt etwa 297 Erdjahre für einen Umlauf um die Sonne.

    „Wir hatten keine Ahnung, dass dieses Ding existiert – das ist ja das Verrückte daran“, sagt Marc Buie, der Astronom, der Ultima Thule entdeckt hat.

    Mit einer Entfernung von mehr als 6,5 Milliarden Kilometern zur Sonne ist MU69 damit das am weitesten entfernte Objekt, das je von Menschen erkundet wurde. Da es sich vermutlich schon seit seiner Entstehung vor 4,5 Milliarden Jahren auf seiner Umlaufbahn befindet, ist es die perfekte Zeitkapsel, die einen Blick auf jene Rohmaterialien ermöglicht, aus welchen die Planeten unseres Sonnensystems entstanden.

    Allerdings sind gerade jene Eigenschaften, die MU69 wissenschaftlich so spannend machen, auch der Grund dafür, dass der Brocken ein eher kompliziertes Reiseziel darstellt. Er ist so weit von der Sonne entfernt, dass er nur sehr schwer zu sehen ist. Die Mittagsstunde auf MU69 wäre dunkler als die Abenddämmerung auf der Erde, und seine Oberfläche reflektiert ungefähr so viel Licht wie Asphalt. Die große Entfernung bedeutet auch, dass eine Nachricht von der Erde mehr als sechs Stunden benötigt, um die Sonde zu erreichen. Darüber hinaus ist MU69 ziemlich klein und hat vermutlich nur einen Durchmesser von 25 bis 32 Kilometern.

    „Einen Erfolg kann ich nicht garantieren. Wir strapazieren die Möglichkeiten dieser Sonde“, sagte der Principal Investigator der New Horizons-Mission, Alan Stern, am Montag auf einer Pressekonferenz. „Es gibt keine zweite Chance für New Horizons.“

    Don’t Stop Me Now

    Vor dem Vorbeiflug wussten die Forscher herzlich wenig über MU69. Waren es zwei Objekte, die einander in geringem Abstand umkreisen, oder nur ein Objekt? Warum hat es eine rötliche Färbung? Wie viele Einschlagkrater haben im Laufe der Zeit ihre Spuren auf MU69s Oberfläche hinterlassen?

    Für den Vorbeiflug am Pluto hatte das New Horizons-Team eine Sammlung von Bildern aus sechs Monaten, auf denen der Zwergplanet von einem einzigen Pixel langsam zu einem geologisch aktiven Wunderland aus Eis heranwuchs. Ganz anders sah die Sache bei Ultima Thule aus. Oooh- und Aaah-Rufe begleiteten am Montag auf der Pressekonferenz die Präsentation der besten Aufnahme, die New Horizons vor ihrem Vorbeiflug gemacht hatte: ein länglicher Blob, der gerade mal zwei Pixel groß war.

    „Ich habe noch nie so viele Leute gesehen, die sich so über zwei Pixel gefreut haben“, sagt Stern über jenen Moment, als das Bild empfangen wurde.

    Als Bowmans Team den intakten Zustand der Sonde schließlich bestätigt hatte, präsentierten sie und ihre Kollegen die jüngsten Informationen über Ultima Thule sowie die letzten Aufnahmen, die vor dem Vorbeiflug entstanden waren.

    Darauf konnten die Forscher erkennen, dass die Form des Objekts an einen Bowlingkegel erinnert. Außerdem berechnete das Team, dass die Rotationsrate von MU69 entweder 15 oder 30 Stunden beträgt und seine Rotationsachse genau auf die Sichtlinie von der Erde aus fällt – quasi so, als wäre der Brocken ein Propeller, der uns zugewendet ist. Deshalb sehen wir genau wie beim Mond immer nur eine Seite von Ultima Thule.

    Insgesamt wird es 20 Monate dauern, bis alle Messdaten von New Horizons ihren Weg zur Erde gefunden haben. Die Datenmenge wird Byte für Byte über einen Radiotransmitter übertragen, der nur ein Viertel der Leistungsstärke einer Glühbirne hat. Die ersten Daten, die es ins Kontrollzentrum schaffen, werden dabei helfen, die Oberfläche von Ultima Thule zu kartieren und nach eventuellen kleinen Satelliten im Umkreis zu suchen. Die Bilder mit der höchsten Auflösung werden erst im Februar 2019 erwartet.

    „Bei dieser Mission war Belohnungsaufschub von Anfang an mit eingeplant“, scherzte Stern.

    Another One Bites the Dust

    Jetzt, wo New Horizons an MU69 vorbeigerast ist, hat die Sonde keine Möglichkeit mehr, ihre Geschwindigkeit zu verringern. Sie wird sich weiter mit mehr als 51.000 km/h auf die Grenze des Sonnensystems zubewegen.

    Unterwegs wird sie dabei ihren wissenschaftlichen Auftrag fortführen. Ihre Messinstrumente werden die Staubdichte des äußeren Sonnensystems ermitteln und damit die Daten der beiden Voyager-Sonden ergänzen. Außerdem wird New Horizons mit ihrem Bordteleskop LORRI MU69s Geschwister von einem einzigartigen Aussichtspunkt fotografieren – vom Inneren des Kuipergürtels aus. So kann die Sonde die Brocken aus Eis und Gestein von der Seite oder von hinten abbilden, wodurch Wissenschaftler besser auf die Oberflächenbeschaffenheit der Objekte schließen können.

    Das letztendliche Missionsziel besteht aber darin, an einem anderen Objekt im Kuipergürtel vorbeizufliegen – und zwar an einem, das bisher noch nicht entdeckt wurde. Die Wissenschaftler des Teams suchen den Himmel mit Hilfe des Cerro Tololo Inter-American Observatory in Chile nach ähnlichen Objekten wie Ultima Thule ab, die New Horizons besuchen könnte. Vielleicht wird das Team sogar die Instrumente an Bord der Sonde für die Suche nach neuen Zielen verwenden, obwohl sie dafür eigentlich nicht entwickelt wurden. Wenn das gelingt, wäre New Horizons das erste Weltraumfahrzeug, das sein eigenes Missionsziel entdeckt hätte.

    „Die Chancen dafür stehen ziemlich schlecht, aber einen Versuch ist es trotzdem wert und deshalb werden wir das auch versuchen“, sagt Kelsi Singer vom Missionsteam, die am Southwest Research Institute forscht.

    Je schneller sie ein Ziel finden, desto besser. Mit jeder weiteren Woche schrumpft der Bereich, den New Horizons erkunden kann. Ihr Radioisotopengenerator – eine Art Thermosflasche voller heißem Plutonium, das langsam zerfällt – verliert mit der Zeit an Leistungsstärke. Als New Horizons den Pluto passierte, lieferte er noch 200 Watt an Energie. Mittlerweile ist diese Zahl bereits auf 190 Watt geschrumpft.

    Irgendwann in den 2030ern wird so viel Plutonium zerfallen sein, dass New Horizons ihre empfindliche Elektronik nicht mehr warmhalten kann. Bis zu diesem frostigen Ende wird der Radiotransmitter aber weiterhin Daten zur Erde senden, viele Milliarden Kilometer weit durch unsere kosmische Nachbarschaft.

    „Es wird ein kalter Tod, aber wenigstens werden wir davon erfahren“, sagt Alex Parker vom New Horizons-Team, ein Astronom vom Southwest Research Institute.

    Princes of the Universe

    Zum Glück ist New Horizons nur eine von vielen Sonden, die Weltraumagenturen aus aller Welt zu den kleinen Körpern unseres Sonnensystems entsenden. Von 2014 bis 2016 lieferte die ESA-Sonde Rosetta eindrucksvolle Bilder des Kometen 67P. Vor Kurzem erreichte die japanische Mission Hayabusa 2 den Asteroiden Ryugu und setzte zwei Lander von der Größe eines Eishockey-Pucks auf dessen Oberfläche ab.

    Nur Stunden vor New Horizons’ Vorbeiflug an Ultima Thule trat die NASA-Mission OSIRIS-REx erfolgreich in einen Orbit um den Asteroiden Bennu ein. 2020 wird die Sonde Proben von Bennus Oberfläche nehmen, die bis 2023 dann zur Erde zurückgeschickt werden sollen.

    Weitere Missionen dieser Art sind bereits in Planung. Hal Levison, ein Planetenwissenschaftler vom Southwest Research Institute, leitet die Mission Lucy, deren Ziel die Trojaner sind – ein Asteroidenschwarm auf der Umlaufbahn des Jupiter, der die Sonne umkreist. Einigen Modellen zufolge stammen diese Trojaner aus dem kalten Asteroidengürtel am Rande unseres Sonnensystems, womit es sich um Cousins von Ultima Thule handeln würde.

    Gleichzeitig leitet die Wissenschaftlerin Lindy Elkins-Tanton von der Arizona State University die Psyche-Mission der NASA, die den gleichnamigen Asteroiden besuchen soll – ein gewaltiges Objekt, das zu mindestens 95 Prozent aus Metall besteht. Man vermutet, dass es sich um den Kern eines Protoplaneten handelt, der im frühen Sonnensystem durch einen verheerenden Zusammenprall mit einem anderen Objekt seine äußere Gesteinshülle verlor.

    Für Elkins-Tanton stellen New Horizons und ähnliche NASA-Missionen einen großen Schritt dar:

    „So erforschen wir Menschen heutzutage [das All] – auf die verwegenste und erstaunlichste Art und Weise“, sagt sie. „Wir nutzen technologische Wunder, mit denen wir Raumfahrzeuge Milliarden von Kilometern weit in All schicken, wo sie immer noch funktionieren.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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