Bernardinelli-Bernstein kommt uns näher: Riesenkomet auf Kurs Richtung Sonne
Der neuentdeckte Komet aus der Oortschen Wolke kommt vom äußersten Rand des Sonnensystems. Dass der Weltraumriese so früh entdeckt wurde, verschafft Astronomen viel Zeit, um ihn zu erforschen.
Von dem hier illustrierten Kometen Bernardinelli-Berstein wird vermutet, dass er ungefähr tausendmal größer ist als ein gewöhnlicher Komet.
In einer Entfernung von über 4,3 Milliarden Kilometern zur Sonne trifft ein kleiner Lichtstrahl auf etwas, das sich mit großer Geschwindigkeit auf unser Zentralgestirn zubewegt: Es ist eiskalt, gigantisch groß und unvorstellbar alt.
Ungefähr vier Stunden später, am frühen Morgen des 20. Oktobers 2014, richtet ein Teleskop in der Atacama-Wüste Chiles seinen Blick zu den Sternen und macht eine hochauflösende Großaufnahme des südlichen Nachthimmels. Darauf auch zu sehen: die Reflektion des Lichtstrahls.
Von diesem Moment bis zur Identifikation des seltsamen Lichtpunkts, vergingen fast sieben Jahre. Doch nun steht fest: Es handelt sich dabei um einen primordialen Kometen – den vermutlich größten, der jemals mithilfe moderner Teleskope beobachtet wurde. Im Juni 2021 wurde die Existenz des Himmelskörpers mit dem Namen Bernardinelli-Bernstein der zuständigen Stelle gemeldet. Alle bisher gesammelten Informationen zu dem Kometen wurden nun zusammengetragen und im Rahmen einer Studie bei der Zeitschrift „The Astrophysical Journal Letters“ zur Veröffentlichung eingereicht.
„Das Telefon hat gar nicht mehr aufgehört, zu klingeln. Ich hätte nie damit gerechnet, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft so extrem auf unsere Entdeckung reagieren würde“, sagt Pedro Bernardinelli, Postdoktorand an der University of Washington in Seattle. Er befand sich gerade in den letzten Zügen der Forschung für seine Doktorarbeit, als er den Kometen gemeinsam mit seinem damaligen Studienberater Gary Bernstein entdeckte. „Das alles ist einfach überwältigend.“
Laut neuesten Schätzungen hat der Kern des Kometen einen Durchmesser von ungefähr 150 Kilometern. Damit ist er der größte, der in den vergangenen Jahrzehnten entdeckt wurde. Der Komet 67P/Churyumov–Gerasimenko, der von 2014 bis 2016 von der Raumsonde Rosetta der European Space Agency (ESA) begleitet wurde, hatte im Vergleich nur einen Durchmesser von drei bis fünf Kilometern – aufgrund seiner unregelmäßigen Form abhängig von der Messstelle.
„Von den stadtgroßen kommen wir jetzt zu den inselgroßen Kometen“, sagt Michele Bannister, Astronomin an der University of Canterbury in Christchurch, Neuseeland, die an der Studie nicht beteiligt war. Hinsichtlich seiner Größe könnte Bernardinelli-Bernstein einen Platz in der historischen Reihe der „Großen Kometen“ finden, zu denen auch ein extrem heller – und vermutlich riesiger – Komet zählt, der 1729 das innere Sonnensystem durchquert hat.
Im Laufe der nächsten zehn Jahre wird auch Bernardinelli-Bernstein diesem immer näherkommen und dabei zunehmend heller leuchten. Irgendwann wird er von unten in die Umlaufbahnen der Planeten eintauchen - am dichtesten wird er der Sonne am 21. Januar 2031 sein, wenn die geschätzte Entfernung zu ihr nur noch 2 Milliarden Kilometer beträgt, was in etwa dem durchschnittlichen Abstand der Sonne zum Orbit des Saturns entspricht. In diesem Moment hat Bernardinelli-Bernstein das Perihel – seinen kürzesten Abstand zur Sonne – erreicht und wird sich auf den Rückweg an den äußersten Rand des Sonnensystems machen. Sichtbar wird er mindestens bis ins Jahr 2040 bleiben, wenn nicht sogar noch einige Jahrzehnte darüber hinaus.
Abhängig davon, wie viele Gase entstehen, wenn die eisige Oberfläche durch die Hitze der Sonne verdampft, könnte Bernardinelli-Bernstein am Nachthimmel so hell leuchten wie Titan, der größte Mond des Saturns. Wenn das der Fall sein sollte, könnte der Komet im Jahr 2031 von jedem, der ein einigermaßen gutes Hobby-Teleskop besitzt, beobachtet werden.
Besonders ist an Bernardinelli-Bernstein auch, wie weit er noch von der Sonne entfernt war, als er zum ersten Mal bemerkt wurde. Der vereiste Himmelskörper stammt vermutlich aus der Oortschen Wolke, einer hypothetischen Ansammlung astronomischer Objekte am äußersten Rand des Sonnensystems in ungefähr 1,6 Lichtjahren Entfernung zur Sonne.
Entsprechend astronomischer Berechnungen dauert es mehrere Millionen Jahre, bis der Komet die Sonne einmal umkreist hat. Bisher sind nur drei solcher langperiodischen Kometen aus der Oortschen Wolke bekannt. Dass Bernardinelli-Berstein bereits auf eine Distanz von 4,3 Milliarden Kilometern zur Sonne bemerkt wurde, ist ein echter Rekord. Seine frühzeitige Entdeckung wird es mehreren Generationen von Astronomen möglich machen, seine Geheimnisse nach und nach zu lüften.
Kleiner Lichtpunkt im Weltraum
Die Menschheit wäre niemals auf Bernardinelli-Bernstein aufmerksam geworden, wäre nicht in dem 4m-Viktor M. Blanco Teleskop des Cerro Tololo Inter-American Observatory in der chilenischen Atacama-Wüste eine hypersensible Digitalkamera verbaut.
Dabei ist das Auffinden von weitentfernten Objekten in unserem Sonnensystem gar nicht die Hauptaufgabe dieser Kamera. Vorrangig soll sie Daten für die Dark Energy Survey (DES) liefern, ein Himmelsdurchmusterungsprojekt, das Informationen über die beschleunigte Ausbreitung des Universums und den Einfluss von Dunkler Materie sammelt. Für DES wurden zwischen 2013 und 2019 80.000 Aufnahmen breiter Felder des südlichen Nachthimmels gemacht, die nicht nur für die Erforschung Dunkler Materie hilfreich sind, sondern auch, wie der Fall von Bernardinelli-Bernstein gezeigt hat, zu der Entdeckung von bisher unbekannten Objekten im Weltraum führen können.
Pedro Bernardinelli nutzte die Daten aus der Dark Energy Survey, um im Rahmen seiner Doktorarbeit bisher unentdeckte Objekte zu finden, die die Sonne oberhalb des Neptuns umkreisten. Eine große Aufgabe, denn jedes Bild ist so riesig, dass 275 HD-Fernsehbildschirme nötig wären, um es in höchster Auflösung anzuzeigen. Pedro Bernadinelli musste Zehntausende dieser Aufnahmen nach Lichtpunkten durchsuchen, die nur wenige Pixel klein waren.
Dieses zusammengesetzte Bild aus der Dark Energy Survey zeigt den Bernardinelli-Bernstein-Kometen im Oktober 2017, als er 25 Astronomische Einheiten (ungefähr 3,7 Milliarden Kilometer) von der Erde entfernt war.
Um auf den DES-Bildern Punkte zu finden, die sich vor dem Hintergrund weit entfernter Sterne bewegen, schrieb er einen Computercode, der ihn bei der Suche unterstützen sollte. Ein halbes Jahr lang arbeitete sich ein Verbund aus etwa 200 Computern am Fermi National Accelerator Laboratory in Batavia, Illinois, durch den riesigen Datensatz. Am Ende der Berechnungen lag eine endgültige Liste mit 817 bisher unbekannten Objekten vor, deren Umlaufbahnen mit keiner Umlaufbahn der bekannten Himmelskörper im Sonnensystem übereinstimmten.
So kam es zu der Entdeckung dieses neuen Himmelskörpers, der nicht nur extrem hell leuchtete, sondern auch eine extrem weitläufige Umlaufbahn aufwies. Diese ließ darauf schließen, dass sein Ursprung, wie der anderer langperiodischer Kometen, mehrere Billionen Kilometer von der Sonne entfernt liegen musste.
Den Kometen zu finden, war „eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, sagt Pedro Bernstein. „Aber es ist uns gelungen – und das Ergebnis ist wirklich atemberaubend.“
Koma und Schweif: Berechnungen aus der Ferne
Pedro Bernardinelli und Gary Bernstein reichten ihre Belege für die Existenz des Kometen beim Minor Planet Center (MPC) in Cambridge, Massachusetts, ein, einem Archiv für die Umlaufbahnen von Kometen, Asteroiden und anderen kleineren Himmelskörpern im Sonnensystem. Am 19. Juni 2021 bestätigte das MPC zunächst, dass das Objekt eine Neuentdeckung sei, fünf Tage später dann, dass es sich bei dem Objekt um einen Kometen handele, der zu Ehren seiner Entdecker den Namen Bernardinelli-Bernstein erhielt.
Die Nachricht von der Entdeckung des Kometen verbreitete sich schnell. Nur wenige Tage nach Bekanntwerden suchten Astronomen auf der ganzen Welt den Himmel nach Bernardinelli-Berstein ab, und in ihren Archiven nach Aufnahmen, auf denen der Komet zu sehen aber bisher nicht bemerkt worden war. Dabei fanden sich Daten aus dem Jahr 2010, durch die die Umlaufbahn des Kometen noch präziser berechnet werden konnte.
Bereits an dem Tag, an dem die Existenz des Kometen offiziell wurde, wurde von mehreren Astronomen bestätigt, dass dem Kometen ausreichend Staubteilchen und Gase entweichen, um eine sichtbare Koma und damit einen Kometenschweif entstehen zu lassen. Da Bernardinelli-Bernstein zu diesem Zeitpunkt noch mehr als 3 Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt war, war diese Nachricht eine große Überraschung.
Erst wenn Kometen der Hitze der Sonne ausgesetzt sind, beginnt die Sublimation – die Umwandlung gefrorene Komponenten in Gas. Bernardinelli-Bernstein scheint jedoch über eine große Menge gasproduzierender Bestandteile zu verfügen, die bereits in den eiskalten Region weit hinter Neptun sublimieren. Dadurch lässt sich ableiten, dass der Komet in der Vergangenheit noch nicht oft der Wärme des Inneren Sonnensystems ausgesetzt war.
Auch dem Transiting Exoplanet Survey Satellite (TESS), einem Weltraumteleskop der NASA, das den Weltraum nach Exoplaneten durchsucht, gelangen zwischen 2018 und 2020 Aufnahmen von Bernardinelli-Bernstein, die weitere Informationen zu dem Kometenschweif liefern konnten. Die Wissenschaftler wunderten sich zunächst darüber, dass der Komet auf den Bildern von TESS sehr viel heller aussah, als auf denen der DES. Die Erklärung dafür ist, dass die Pixel in den Aufnahmen von TESS größere Bereiche des Himmels abdecken was den Rückschluss erlaubt, dass der Schweif des Kometen extrem groß und diffus sein muss.
Pedro Bernardinelli und Gary Bernstein prüften das Bildmaterial der DES daraufhin erneut auf den nach ihnen benannten Himmelkörper, um weitere Hinweise zum Schweif des Kometen zu finden. Sie stießen auf ein extrem schwaches Signal in den Daten, das zeigte, dass der Komet in einer Entfernung von etwa 3,8 Milliarden Kilometern begonnen hatte, Gas abzugeben.
Durch die Datenerhebung zur Veränderung der Koma und die wachsende Helligkeit während der Annäherung an die Sonne war es dem Team von Pedro Bernardinelli möglich, ein Modell der chemischen Zusammensetzung des Kometen zu erstellen. In Anbetracht der Schwäche des Sonnenlichts in dieser extremen Entfernung kamen sie zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Gasen Bernardinelli-Bernsteins entweder um Kohlendioxid oder Stickstoff handelt.
„Ist es nicht beachtlich? Dieses Ding ist wirklich weit weg, ein halbes Sonnensystem entfernt, und trotzdem haben wir Informationen über seine Zusammensetzung“, sagt Co-Autor Ben Montet, Planetenwissenschaftler an der University of New South Wales in Sydney, Australien. Er ist auf die Arbeit mit TESS-Daten spezialisiert. „Es ist erstaunlich, was schon mit relativ wenigen Photonen möglich ist.“
Ein Komet für alle
Die Wissenschaftler prüfen bereits, ob es möglich ist, Bernardinelli-Bernstein mit einer Raumsonde zu begleiten. Noch ist keine offizielle Mission geplant, doch wenn die Weltraumorganisationen schnell sind und die Mission nicht später als 2029 startet, könnte der Komet schon im Jahr 2033 Besuch bekommen.
Gleichzeitig wird erforscht, wie die Reisewege des Kometen durch das Sonnensystem in der Vergangenheit aussahen, und wie er sich durch die Hitzeeinwirkung der Sonne bereits verändert hat. Pedro Bernardinelli und Gary Bernstein haben gemeinsam mit ihrem Team berechnet, das der Komet der Sonne im Jahr 2031 so nah kommen wird, wie in den letzten drei Millionen Jahren nicht.
So weit in die Vergangenheit zurückzublicken, ist jedoch extrem schwierig. Die Kometen der theoretischen Oortschen Wolke sind so weit entfernt, dass sehr wahrscheinlich ist, dass sie auf ihrer Umlaufbahn durch den Einfluss der Sterne abgelenkt werden. Bei der Berechnung ihrer Umlaufbahnen müssen deswegen auch zwangsläufig die Sternbewegungen in der Milchstraße berücksichtigt werden. Neuen Daten zufolge gibt es aber einen bestimmten Stern, der in dieser Hinsicht besonders großen Ärger macht und die Bemühungen, den Orbit des Kometen festzustellen, möglicherweise zunichtemachen könnte.
Galerie: Rätselhafte Galaxie ohne Dunkle Materie gefunden
Schon seit mehreren Jahren ist Forschern bekannt, dass dieser sonnenähnliche Stern mit dem Namen HD7977 vor 2,8 Millionen Jahren das Sonnensystem durchquert hat. Allerdings weiß niemand, auf welchem Weg. Für eine Studie, die in der Zeitschrift „Astronomy & Astrophysics“ erschien, untersuchten die Forscher Piotr Dybczyński and Sławomir Breiter von der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen, Polen, HD7977. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass nicht einmal bekannt ist, auf welcher Seite des Sonnensystems er unterwegs war.
Indem er immer näherkommt, könnten sich in Hinblick auf die Größe von Bernardinelli-Bernstein noch Änderungen ergeben. Die Schätzung des Durchmessers auf 150 Kilometer beruht auf der aktuellen Helligkeit und auf den Berechnungen der Staubpartikel- und Gasmengen, die er abgibt. Doch die Größe eines Kometen auf diese Weise zu berechnen hat seine Tücken. Ist das Abgasmodell nicht vollständig, hat das einen zu großen Kometenkern zum Ergebnis.
„Die Forscher haben wirklich großartige Arbeit geleistet. Trotzdem glaube ich, dass sich das Objekt als um einiges kleiner herausstellen wird, als sie das jetzt veröffentlicht haben“, sagt Luke Dones, Kometendynamiker am Southwest Research Institute in Boulder, Colorado.
Die gute Nachricht ist, dass Bernardinelli-Berstein die Astronomen der Welt mit einem seltenen Luxusgut beschenkt: Zeit. Das Vera C. Rubin Observatory in Chile, das im Oktober 2023 seinen Betrieb aufnehmen soll, wird den Kometen mindestens für die Dauer eines Jahrzehnts beobachten können. Das dortige Teleskop ist auf dem neuesten Stand der Technik und wird ganz neue Einblicke in das Sonnensystem ermöglichen – und wahrscheinlich weitere Kometen wie Bernardinelli-Bernstein entdecken.
Währenddessen kommt der neuentdeckte Komet dem inneren Sonnensystem immer näher und gibt Wissenschaftlern und interessierten Menschen überall auf der Welt Gelegenheit dazu, ihre Teleskope gen Nachthimmel zu richten, und diesen außergewöhnlichen Besucher zu beobachten: einen gigantischen Eisball, der einen riesigen, nebligen Schweif hinter sich herzieht. „Das wird ein spektakulärer Anblick“, sagt Ben Montet.
Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.