Vulkanforschung extrem! Wie in der Antarktis Eis auf Feuer trifft

Forscher wollen einen bisher unbekannten Lavasee im Krater eines Inselvulkans ergründen. In den extremen Weiten des Südpolarmeers treffen sie auf erbarmungslose Kälte und brodelnde Hitze.

Von Freddie Wilkinson
Veröffentlicht am 25. Okt. 2023, 12:34 MESZ
Aufstieg am Mount Michael

Während des ersten Versuchs, den Kraterrand des Mount Michael zu erreichen, erkundigt sich Autor Freddie Wilkinson über Funk beim Team der Australis nach dem Wetterbericht. Ein heftiger Schneesturm erschwert den Aufstieg, und starker Wind macht es dem Team unmöglich, eine Drohne in den Krater zu steuern, um den Lavasee zu lokalisieren.

Foto von Renan Ozturk

Auf einem eisverkrusteten Bergrücken, etwa 900 Meter über der gewaltigen Dünung des Südatlantiks, holt Emma Nicholson unter ihrem Atemgerät noch einmal tief Luft und überprüft ihren Klettergurt. Dann tritt sie in den klaffenden Schlund eines aktiven Vulkans. Es ist kurz nach 16 Uhr, und wir befinden uns auf dem windgepeitschten Gipfelrand des Mount Michael, der sich über Saunders Island erhebt. Das Eiland gehört zum unbewohnten Archipel der Südlichen Sandwichinseln im subantarktischen Atlantik und ist einer der isoliertesten Orte der Erde – rund 800 Kilometer von der nächsten ständigen Siedlung auf Südgeorgien und mehr als 1600 Kilometer von den nächsten Schiffsrouten entfernt.

Nach jahrelanger Planung und einer strapaziösen, 2250 Kilometer langen Fahrt durch stürmische See mit vielen Eisbergen steht die 33-jährige Vulkanologin endlich kurz davor, die erste wissenschaftliche Erkundung des Kraters von Mount Michael zu leiten. Doch der Mount Michael ist kein Vulkan, der seine Geheimnisse leicht preisgibt. Auf den ersten Blick wirkt der innere Teil des Kraterrands harmlos, zumal er in einen sanften Schneehang übergeht. Emma und ihr Forschungspartner João Lages seilen sich vorsichtig ab. Beiden ist bewusst, dass dieses scheinbar ungefährliche Terrain in einer nicht stabilen Eisklippe enden könnte, die über den inneren Rand des Vulkans hinausragt. Während sie sich langsam abwärts bewegen, bessern sich die Bedingungen: Der Wind lässt nach, die Wolkendecke reißt auf. Hinter ihrem Gesichtsschutz erkennt Emma ein Rund nahezu senkrecht abfallender Wände aus aschebedecktem Fels und Eis. Computer und Wärmebildkamera fest im Griff, steigen João und Emma tiefer in den gähnenden Schlund. Vor ihnen fällt der Hang abrupt ab, geht über in eine düstere Leere.

​„Die fürchterlichste Küste der Welt“

Die Entfernung zum Kraterboden ist nicht erkennbar. Emma begreift, dass sie sich am Rand eines Erdschlots befinden – einem Ort, der die Narben einer der gewaltigsten Machtdemonstrationen der Natur trägt. Für eine Vulkanologin ist es der Höhepunkt ihrer Karriere, als Erste durch ein obskures Portal ins Innere des Planeten zu blicken. Nur eines entzieht sich ihr, und zwar genau das, was sie an diesen gottverlassenen Ort gebracht hat: Wo ist der Lavasee? Ein sanfter Ruck zieht an ihrem Gurtzeug. Das Seil, so weiß Emma, verbindet sie mit einer äußerst zuverlässigen Person auf dem Gipfel: der Bergführerin Carla Pérez. Im Laufe der letzten Wochen sind Emma und Carla Freundinnen geworden. Auch ohne Blickkontakt weiß Carla, dass irgendwo vor Emma eine überhängende Eisklippe lauern könnte, die möglicherweise ohne Vorwarnung nachgeben könnte. Der leichte Ruck ist eine kleine Mahnung an Emma: nicht leichtsinnig werden und aus Unachtsamkeit einen Schritt zu weit gehen.

An dem sonnigen Tag, an dem das Team seine Ausrüstung auf die Insel bringen will, stößt der Mount Michael ein Gasgemisch aus. Ben Willis, der Kapitän der Australis, hat ein wachsames Auge auf das Wetter, das im südlichen Atlantik extrem unbeständig ist. Fehler darf man sich keine erlauben: „Wenn man hier in Schwierigkeiten gerät, gibt es niemanden, der einen rausholt.“

Foto von Renan Ozturk

Am 2. Februar 1775 stand ein erschöpfter Kapitän James Cook an der Heckreling seines Schiffes, der Resolution, und starrte auf eine kahle, schneebedeckte Insel. Der Seefahrer befand sich auf seiner zweiten Entdeckungsreise, und die düstere Geografie passte zu seiner Stimmung. „Die fürchterlichste Küste der Welt“, schrieb Cook über den Archipel. Diese Inseln, so notierte er, seien „von der Natur dazu verurteilt, [...] niemals die Wärme der Sonnenstrahlen zu empfangen“. Jahrzehnte sollten vergehen, bevor Wissenschaftler erkannten, dass eine der Inseln, Saunders Island, über eine eigene Wärmequelle verfügt. Und selbst dann zeigte niemand ernsthaft Interesse, diese eisige, windgepeitschte Insel am Ende der Welt zu besuchen. „Es ist schwierig, zu den Südlichen Sandwichinseln hinzukommen, schwierig, dort an Land zu gehen, und schwierig, dort zu arbeiten“, sagt John Smellie, Geologieprofessor an der University of Leicester. „Es braucht also einen sehr guten Grund, um hinzufahren.“

Und der ist, dass die Inseln, die durch Abtauchen der Südamerikanischen Platte unter die Südliche Sandwichplatte entstanden, einer der bestgeeigneten Schauplätze weltweit sind, um Vulkanologie zu studieren. „Man kann untersuchen, was mit den Magmen passiert, von der Entstehung bis zu ihrem Aufsteigen an die Oberfläche, weil es dort so wenige Variablen gibt.“ Smellie ist einer der wenigen Menschen, die Saunders Island besucht haben. 1997 nahm er im Rahmen einer Expedition am Nordende der Insel Proben, als ihm auffiel, dass die Vulkanfahne des Mount Michael ungewöhnlich dicht war. Ihr Blähen und Dampfen erinnerte ihn an den Mount Erebus, einen Vulkan in der Antarktis, der einen ständig aktiven Lavasee enthält. Smellie fragte einen Bekannten beim British Antarctic Survey, ob Satellitenaufnahmen thermische Anomalien feststellen könnten.

​Die Suche nach Naturgewalten

Mithilfe eines satellitengestützten Radiometers ermittelten sie eine charakteristische Wärmesignatur, die mit dem Gipfelkrater des Mount Michael übereinstimmte. Sie vermuteten, dass bei Temperaturen von mehr als 300 Grad ein Lavasee existieren müsse – eines der seltensten Phänomene in der Vulkanologie. Zwar gibt es weltweit um die 1350 potenziell aktive Vulkane, doch nur acht davon besitzen einen bis dato nachweislich aktiven Lavasee – ein Becken mit permanent glutflüssigem Gestein. Im Normalfall kühlt nach einem Ausbruch die Lava an der Luft rasch ab und erstarrt zu Gestein. Hitze und Gase bleiben im Inneren des Vulkans eingeschlossen und schaffen die Voraussetzungen für eine neue Eruption. Bei Vulkanen mit offenem Schlot bleibt die Verbindung zwischen Oberfläche und Magmakammer offen.

BELIEBT

    mehr anzeigen

    Beim Abstieg in den Krater des Mount Michael versuchen Nicholson und der Vulkanologe João Lages, einen Blick auf den Lavasee im Inneren des Feuerbergs zu erhaschen. Die steilen Wände und Ascheschichten des Kraters zeugen von früheren Ausbrüchen. „Er hatte eindeutig eine viel aktivere Vergangenheit als heute“, sagt Nicholson.

    Foto von Renan Ozturk

    Damit sich ein Lavasee bilden kann, muss der Druck hoch genug sein, um Lava bis an die Oberfläche zu pressen – wie der Wasserdruck bei einem Springbrunnen. Bei einem permanent tätigen Lavasee muss der Druck aufrechterhalten werden, und das Verhältnis zwischen der im Inneren der Magmasäule aufsteigenden Hitze und der Abkühlungsrate muss im Gleichgewicht sein, damit die Lava in flüssigem Zustand verbleibt. „Temperamentvoll“ findet Smellie ein passendes Wort, das die Druckverhältnisse beschreibt, die Lava in den Krater des Mount Michael pressen. „Es kommt und geht, mitunter monatelang, aber dann wieder zeigt unsere Forschung, dass es über mehrere Monate am Stück anhält.“ Weil offene Schlotsysteme den Forschern Gelegenheit bieten, sowohl Gas als auch Lava zu beproben und zu analysieren, sind sie ein begehrtes Studienobjekt zum besseren Verständnis vulkanischen Verhaltens und können auch dazu beitragen, damit verbundene Gefahren vorherzusagen und möglicherweise vorzubeugen.

    2019 aktualisierte ein Vulkanologenteam mittels höher auflösender Satellitendaten die Ergebnisse von Smellies Team und berechnete eine mehr als 9940 Quadratmeter große thermische Anomalie auf der Krateroberfläche. Wie Smellie schätzten sie es als Lavasee ein. Ihre Studie erregte die Aufmerksamkeit von Emma Nicholson, junge Vulkanologieprofessorin am Londoner University College. Aber so präzise die Satellitenbilder auch waren, so war ihr doch klar, dass sie zum Kraterrand hinaufsteigen und im Inneren Proben nehmen musste, um das Vorhandensein eines Lavasees im Mount Michael zu bestätigten. „Als Kind habe ich mich regelmäßig verlaufen, weil ich immer irgendwo Neues erforschen wollte“, erzählt Emma. Ein Ausflug während eines Familienurlaubs in den USA, sie war damals sechs Jahre alt, sollte ihren Lebensweg prägen: eine Wanderung zum Mount St. Helens. „Sämtliche Bäume lagen umgestürzt in eine Richtung“, erinnert sich Emma. „Überall war Asche, selbst mehr als zehn Jahre nach dem Vulkanausbruch. Ich weiß noch, dass ich unbedingt wissen wollte, welche Naturgewalten eine solche Landschaft formen konnten.“

    2020 schloss Emma sich als Forscherin einer Expedition zu den Südlichen Sandwichinseln an. Nachdem sie vor Saunders Island geankert hatten, versuchten Emma, ihr Forschungspartner Kieran Wood und andere Wissenschaftler sich an der Erstbesteigung des Mount Michael. Sie mussten jedoch wegen zunehmend schlechter Witterungsbedingungen kehrtmachen. „Innerhalb von Minuten zog ein heftiger Schneesturm auf“, berichtet Emma. Der Entschluss, „unverrichteter Dinge“ umzukehren, fiel ihnen immens schwer.

    Das National Geographic Magazin 11/23 ist seit dem 20. Oktober im Handel erhältlich.

    Foto von National Geographic

    Das Team startete jedoch einen neuen Versuch. Wie es weitergeht, erfahren Sie im NATIONAL GEOGRAPHIC Magazin 11/23. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis! 

    loading

    Nat Geo Entdecken

    • Tiere
    • Umwelt
    • Geschichte und Kultur
    • Wissenschaft
    • Reise und Abenteuer
    • Fotografie
    • Video

    Über uns

    Abonnement

    • Magazin-Abo
    • TV-Abo
    • Bücher
    • Disney+

    Folgen Sie uns

    Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2024 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved