Leben mit Demenz: So entscheidend sind soziale Kontakte

Weltweit steigt die Zahl an Patienten mit einer Demenzerkrankung. Die Krankheit ist zwar unheilbar, doch Pflegekräfte und Familien finden neue Wege, um den Betroffenen ein Leben in Würde zu ermöglichen.

Von Claudia Kalb
Veröffentlicht am 4. März 2024, 14:37 MEZ
Die 90-jährige Eleanor Padula steht vor einem Spiegel.

Eleanor Padula, 90, wurde früher schnell wütend, aber die Demenz hat sie überraschenderweise milder gestimmt. „Sie hat eine Lebensfreude, von der ich nie wusste, dass sie existiert“, sagt ihre Tochter Cynthia Lacasse, die Padula in ihr Zuhause in Lake Balboa, Kalifornien, aufgenommen hat.

Foto von Isadora Kosofsky

Jackie Vorhauer und ihre Schwester bemerkten 2012, dass sich das Verhalten ihrer Mutter Nancy zu verändern begann. Die Glaskünstlerin, damals Anfang 70, vergaß, Jackie an ihrem Geburtstag anzurufen. Sie verlor ihr Telefon, bezahlte ihre Rechnungen nicht und ließ mehrere Kopien ihrer Schlüssel anfertigen. Als sich die Symptome verschlimmerten, reiste Jackie aus Los Angeles nach Millville, New Jersey, um nach ihrer Mutter zu sehen. Eines Abends kam Jackie zur Wohnung und fand die Tür verschlossen. Ein paar Stunden später, gegen 22.30 Uhr, tauchte Nancy mit einem Rollkoffer auf – darin ein Stapel Busfahrpläne, ein Katzenspielzeug, zerbrochener Weihnachtsschmuck und eine Handvoll Glasmurmeln, Nancys charakteristische Kunstwerke.

„Hallo Jack“, sagte sie beiläufig zu ihrer Tochter. „Was machst du denn hier?“ Später erzählte Nancy ihren Töchtern, dass sie das Gefühl hatte, es gäbe ein „schwarzes Loch in ihrem Gedächtnis“. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Demenz. Nach ihrer Diagnose verbrachte Nancy vier Jahre in zwei Pflegeeinrichtungen. In der ersten setzte man stark auf antipsychotische Medikamente, die zur Behandlung von Verhaltensproblemen bei Menschen mit Demenz eingesetzt werden. In der zweiten gab es zwar wunderbare Betreuer, sie kannten sich aber nicht wirklich mit Demenz aus. Außerdem war alles sehr institutionalisiert. Wenn Nancy etwa in den Garten gehen wollte, lösten die schweren Türen einen Alarm aus. Die Pflegesituation für Demenzkranke sei nicht nachhaltig, sagt die 43-jährige Jackie. „Es funktioniert nicht für all jene Menschen, die jetzt in Demenzeinrichtungen leben, und es wird sicher nicht für meine Generation funktionieren.“

​Bewegung für mehr Menschlichkeit in der Pflege

Heute leben weltweit geschätzt 57 Millionen Menschen mit Demenz, in Deutschland etwa 1,8 Millionen. Bis 2050 wird die Zahl laut Hochrechnungen weltweit auf 153 Millionen ansteigen, in Deutschland auf 2,8 Millionen. Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) beziffert die Kosten für Demenz in Deutschland derzeit auf mehr als 80 Milliarden Euro. Nach Prognosen könnten sie bis 2060 auf rund 195 Milliarden Euro anwachsen. Zahlreiche Faktoren tragen zu diesem Anstieg bei, vor allem die wachsende Alterung der Bevölkerung. Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen an Risikofaktoren wie Übergewicht und Diabetes leiden. Auch die Luftverschmutzung soll Studien zufolge das Gehirn schädigen. Addiert man zu diesen Faktoren die sinkende Geburtenrate (was effektiv weniger finanzielle und personelle Unterstützung bedeutet), erkennt man die sich anbahnende Krise.

„Es wird immer schwieriger, wenn die Zahlen steigen“, sagt Kenneth Langa, Demenzforscher an der Universität von Michigan. „Wir dürfen davor nicht die Augen verschließen.“ Diejenigen, die heute mit Demenz leben, wünschen sich vor allem eins: dass die Pflege menschlicher wird. Angehörige wissen, wie quälend es ist, eine Mutter zu sehen, die nicht mehr sprechen kann, oder einen verwitweten Großvater, der glaubt, dass seine Frau zum Abendessen nach Hause kommt. Sie sehen die Betroffenen als Menschen und nicht als eine Konstellation aus Symptomen und Zahlen. Dieses Grundverständnis ist der Motor einer Bewegung, die sich von veralteten Behandlungsmethoden verabschiedet und ganzheitlichen Ansätzen zuwendet. Es gehe nicht ums Sterben, sagt Elroy Jespersen, Mitbegründer des kanadischen Village Langley, des ersten groß angelegten Demenzdorfes in Nordamerika. Es gehe um ein „bereichertes Leben“. Das könnten wir erreichen, meint er, „wenn wir uns einfach auf den Menschen konzentrieren – wer er ist, wer er noch sein möchte und was ihm Freude bereitet“.

​Die Hoffnung auf neue Medikamente

Demenz, die typischerweise nach dem 65. Lebensjahr auftritt, ist ein Oberbegriff für zahlreiche Erkrankungen, darunter die Alzheimer-Krankheit, vaskuläre Demenz, LewyBody-Demenz und Frontotemporale Demenz. Eine seltene Form, bekannt als familiäre oder vererbte Alzheimer-Krankheit, tritt in der Regel zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr auf und beruht auf einer Genmutation, die von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Die Krankheiten unterscheiden sich biologisch. Alzheimer ist beispielsweise durch Ablagerungen im Gehirn gekennzeichnet, die durch ein Protein namens Beta-Amyloid gebildet werden, während die vaskuläre Demenz durch eine Blockade des Blutflusses zum Gehirn verursacht wird. Menschen können von mehr als einer Form betroffen sein. Das Ergebnis ist jedoch dasselbe: ein Zusammenbruch der Kommunikation zwischen den Nervenzellen, der Tod dieser Zellen und schließlich der Verlust der Gehirnfunktionen. Gedächtnislücken wie das Vergessen eines Namens sind im Alter häufig. Problematisch werden sie, wenn sie den Alltag beeinträchtigen – wenn jemand nicht mehr weiß, wie er seine Rechnungen bezahlt oder in vertrauter Umgebung die Orientierung verliert.

Solche Symptome sind typisch für eine leichte kognitive Beeinträchtigung (LKB), eine Vorstufe oder leichte Form von Alzheimer, das erste Stadium der Krankheit. Verschlimmert sich die Demenz, werden die Betroffenen zunehmend verwirrt, unruhig oder sogar aggressiv. Schwere Demenz führt häufig zu Sprachverlust, Halluzinationen und Inkontinenz. Im Endstadium der Krankheit kann die Schädigung der Gehirnzellen zentrale Funktionen wie Herzschlag und Atmung beeinträchtigen und die Wahrscheinlichkeit von Infektionen erhöhen, mit fatalen Folgen. Aufgrund der Komplexität der Krankheit ist Demenz schwer zu behandeln. Zwischen 2021 und 2023 hat die US-Arzneimittelbehörde FDA zwei neue Alzheimer-Medikamente zugelassen, die Wirkstoffe Aducanumab und Lecanemab. Es sind die ersten Präparate, die auf die zugrunde liegenden biologischen Prozesse der Krankheit abzielen, die Plaques im Gehirn. Die Studien zu Lecanemab zeigen eindeutig eine Verlangsamung des kognitiven Abbaus bei Menschen mit leichter Alzheimer-Krankheit, während die Daten zu Aducanumab uneinheitlich sind. Beide Medikamente sind jedoch nicht für andere Formen der Demenz vorgesehen. Sie werden als teure Infusionen verabreicht – der Listenpreis von Lecanemab liegt in den USA bei 26500 Dollar pro Jahr –, und beide können schwere Nebenwirkungen haben, darunter Hirnblutungen. Eine Entscheidung über die Zulassung von Lecanemab in Europa soll voraussichtlich dieses Jahr fallen.

Die Bewohner einer Demenzstation der Seniorenresidenz Kontu in Tampere, Finnland, besuchen das Mittsommerfest in einer nahe gelegenen Stadt. Sie tragen die traditionellen Blumenkränze im Haar und führen ein sehr aktives Leben, sagt Mitarbeiter Iiwo Ahola (in der gestreiften Jacke).

Foto von Isadora Kosofsky

Soziales Miteinander im Demenzdorf

„Demenz wird uns dennoch auf absehbare Zeit begleiten, selbst mit diesen potenziellen Durchbrüchen“, sagt Langa. Die herkömmliche Pflege konzentriert sich auf medizinische Bedürfnisse und vernachlässigt oft die Identität, die Persönlichkeit und die Wünsche der Betroffenen. Das 2019 eröffnete Village Langley basiert hingegen auf einer Philosophie, die individuelle Vorlieben der Bewohner berücksichtigt. Man ist es gewohnt, bis zehn Uhr morgens zu schlafen? Kein Problem. Man genießt einen Spaziergang am Nachmittag? Nur zu. Auf dem Gelände gibt es einen Stall mit Hühnern und Ziegen sowie Beete, auf denen Gurken und Tomaten angebaut werden.

Jeannette Wright, eine langjährige Gärtnerin mit leichter Demenz, ist besonders stolz auf die Sonnenblumen, die sie gepflanzt hat. „Ich weiß nicht, warum sie wie verrückt wachsen“, sagt die 84-Jährige, „aber sie tun es.“ Studien haben gezeigt, dass soziale Kontakte Ängste und Depressionen reduzieren. Jedes der sechs Cottages im Dorf verfügt über eine offene Küche und ein Wohnzimmer mit Kamin als Treffpunkte, die die Bewohner aus ihren Zimmern locken. Im Gemeinschaftszentrum gibt es einen Friseursalon, einen kleinen Laden und ein Café, in dem die Bewohner bei Cappuccino und Zitronenkuchen plaudern können. Natürliches Licht, das die Stimmung hebt und den Schlaf reguliert, ist ein wichtiges Gestaltungselement. Eine Wand des Zentrums besteht aus raumhohen Fenstern. Die Sonne tanzt auf den Tischen und dringt in die kleinen Häuser ein, die an einer mit Fichten, Ahornbäumen und Glyzinien gesäumten Allee stehen. Einmal überlegten die Mitarbeiter, Vordächer für schlechtes Wetter zu errichten, doch eine Einwohnerin war dagegen: „Ich will den Regen spüren“, sagte sie.

Jespersen arbeitete 30 Jahre in der Altenpflege und kannte sich entsprechend mit der Krankheit aus. Doch als bei der Tante seiner Frau Demenz diagnostiziert wurde, merkte er, dass die traditionellen Pflegekonzepte nicht gut genug sind. Es gab zu viel Reglementierung, mit Mahlzeiten zu bestimmten Zeiten und festgelegten Aktivitäten. Jespersen missfielen vor allem die verschlossenen Türen. „Wenn wir uns zu sehr darauf konzentrieren, die Menschen sicher zu verwahren, wird ihre Umgebung steril, ohne Leben“, sagt er. Als der 75-jährige Jespersen schließlich eine Vortrag über das weltweit erste Demenzdorf De Hogeweyk in den Niederlanden besuchte, nahm seine eigene Vision eines neuen Pflegekonzepts Gestalt an. De Hogeweyk ist wie eine holländische Kleinstadt gestaltet, mit einem zentralen Brunnen, einer Kneipe und einem Theater. Die Bewohner kochen oder helfen bei der Wäsche, was ihnen ein Gefühl von Unabhängigkeit und Sinn gibt. Diese Art von Freiheit, sagt Jespersen, sei „ein wichtiger Bestandteil eines guten Lebens“. Durch die Kombination verschiedener Modelle schuf Jespersen das Village Langley, das heute mit 75 Bewohnern voll ausgelastet ist.

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    Foto von National Geographic

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