Gänsehaut durch Musik: Studie enthüllt, wie Hirnareale Emotionen steuern

Einige Menschen erleben beim Hören von Liedern starke körperliche und emotionale Reaktionen. Eine neue Studie zeigt, welche Hirnareale für die intensiven Emotionen verantwortlich sind, die uns beim Hören von Musik überkommen.

Von Sophie-Claire Wieneke
Veröffentlicht am 5. Dez. 2024, 12:25 MEZ
Frau mit Kopfhörern tanzt auf dem Tisch

Ein bestimmtes Lied läuft, sofort werden Erinnerungen an einen bestimmten Tag oder ein Erlebnis aufgewirbelt und Gänsehaut macht sich auf dem gesamten Körper breit? Das zeugt von ganz besonderen Hirnstrukturen, die im Rahmen einer Studie entdeckt wurden.

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Das Hochzeitslied, ein Song, den wir mit dem letzten Urlaub verbinden oder der uns an eine ganz besondere Person erinnert: Musik wird von Menschen im Moment der jeweiligen Situation, oder über einen längeren Zeitraum, mit zahlreichen Emotionen und Erinnerungen konnotiert. Anders als beispielsweise ein Computer speichert das menschliche Gehirn dabei nicht nur einzelne Informationen. Es ist vielmehr in der Lage, ganze Situationen aufzunehmen und sich lange detailliert daran zu erinnern. 

Das ermöglicht es unserem Gehirn, eine Wechselwirkung zwischen Melodien und Erlebtem einzugehen, wobei die Erinnerung durch gezielte Melodien quasi auf Knopfdruck hervorgerufen werden kann. Verantwortlich dafür ist das episodische Gedächtnis, ein Teil unseres Langzeitgedächtnisses.

Ausgeprägte emotionale Trigger: Der Gänsehaut auf der Spur

Aus einigen Menschen platzt es einfach heraus und sie beginnen von ihrer Erinnerung zu erzählen, die sie mit dem gerade gehörten Lied verbinden. Ein wässriger Blick, der bekannte Kloß im Hals oder Gänsehaut am ganzen Körper – diese körperlichen Reaktionen werden allein durch das Hören bestimmter Noten erzeugt. Andere Menschen hingegen empfinden keinen so ausgeprägten emotionalen Trigger bei Musik - aber wieso ist das so? Dieser Frage widmete sich der Harvard-Absolvent Matthew Sachs und fand durch seine angelegte Studie die Antwort darauf.

Die Antwort auf die Frage, wieso einige Menschen bei Musik emotionaler reagieren als andere, müsse im Gehirn zu finden sein - dessen war sich Matthew Sachs, Absolvent der privaten Harvard Universität in Cambridge sicher. Mittlerweile arbeitet er in dem „Department of Psychology“ in New York. Seine Forschung fokussiert sich auf die neuronalen und verhaltensbezogenen Mechanismen, welche die Emotionen und Gefühle bei der Wahrnehmung von naturalistischen Reizen wie Musik und Film beeinflussen.

Unter diesem Forschungsschwerpunkt strebte Sachs eine übersichtliche Studie an. Insgesamt 237 Personen nahmen im Vorfeld an einer Online-Umfrage teil, in welcher sie Angaben zu ihrer Person, ihrem Musikgeschmack und den Reaktionen auf das Hören von Musik machen sollten. Für die Studie wurden schließlich 20 Probanden ausgewählt, da bereits frühere DTI-Studien (Diffusions-Tensor-Bildgebung) mit derselben Personenzahl gearbeitet hatten. Dabei handelt es sich um ein bildgebendes Verfahren, mit welchem nicht nur der Aufbau, sondern auch die mikrostrukturelle Zusammensetzung des Gehirns oder der Nerven dreidimensional dargestellt werden kann.

Die Gruppe wurde halbiert und in eine „Chill-Faktor“- sowie eine No-Chill-Gruppe“ aufgeteilt. Das Wort „Chill“ bezieht sich auf den englischen Begriff für „Schauer“ oder „Gänsehaut“. In der „Chill-Faktor“-Gruppe befanden sich demnach nur Probanden, die angegeben hatten, bei Musik emotionale Reaktionen wie Gänsehaut zu verspüren, während in der „No-Chill-Faktor“ Gruppe solche ohne jegliche emotionale Reaktionen Platz fanden. 

Die Forscher rund um Sachs stellten folgende Hypothese auf: Je emotionaler Menschen auf sogenannte ästhetische Reize wie Musik reagieren, umso mehr Verbindungen weisen diese zwischen dem auditorischen Cortex und solchen Arealen auf, die für das Verarbeiten von Emotionen verantwortlich sind.

Gänsehaut am Arm

Die Hypothese der Studie lautete: Je intensiver die körperlichen Reaktionen beim Hören von Musik sind, um so stärker sind die neuronalen Verbindungen im Hirn.

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Lieblingslieder lassen die Herzfrequenz sinken

Für die Versuche sollte jeder Proband drei bis 5 Musikstücke einreichen, wobei insbesondere die „Chill-Faktor-Gruppe“ solche auswählen sollte, die bei ihnen garantiert zu einer Gänsehaut führen. Zusätzlich gab es sogenannte Kontrollstücke, die den Teilnehmern bekannt waren, jedoch zu keiner ihnen bekannten emotionalen Reaktion führten.

Für die Tests hörte sich jeder Teilnehmer sechs Musikstücke an, die vorher jeweils auf eine Länge von 2 Minuten gekürzt wurden. Während des Hörens wurde jeder Song von den Probanden mittels eines Rechenschiebers bewertet. Die Skala hatte eine Wertung von 0 (neutral) bis 10 (hohes Vergnügen). Zusätzlich wurden die Teilnehmer der „Chill-Faktor-Gruppe“ angewiesen, die Leertaste auf der ihnen vorliegenden Tastatur zu drücken, sollten sie eine Gänsehaut verspüren. Die Leertaste sollte so lange gedrückt bleiben, bis das Gefühl wieder vergangen war. 

Probanden aus dieser Gruppe zeigten deutliche Unterschiede in der Bewertung ihrer Lieblings-Stücke im Vergleich zu den Kontroll-Stücken. Während Lieblingslieder durchschnittlich mit einer 9,49 auf der Skala (eins bis zehn) bewertet wurden, erhielten die Kontrollstücke einen Durchschnittswert von 4,27. 

Des Weiteren konnten körperliche Veränderungen bei der „Chill-Faktor-Gruppe“ während des Hörens der Lieblingslieder feststellen. So sank beispielsweise die Herzfrequenz signifikant, während der SCR-Wert signifikant zum Höhepunkt des Lieblingsliedes anstieg. SCR steht für „Skin Conductance Response“ und beschreibt den Hautleitwert. Je höher der SCR-Wert, umso höher ist die Erregung bzw. der Stress der Person.

Studie entdeckt besondere Hirnstrukturen

In der Neurowissenschaft wird das Gewebe des Gehirns in zwei Gewebetypen bzw. Farben unterteilt: Grau und Weiß. Die zahlreichen Neuronen bilden eine dünne Schicht auf der Hirnoberfläche und als graue Substanz kategorisiert. Diese neuronalen Zellen sind miteinander verbunden und bilden als Verbindungen die weiße Substanz. Sachs und sein Team gehen davon aus, dass die Ausprägung der weißen Substanz, also wie stark die neuronalen Zellen miteinander verbunden sind, ausschlaggebend dafür ist, wie stark die emotionale Reaktion beim Hören von Musik ist. Tatsächlich konnte durch Tests festgestellt werden: Je häufiger eine Person Gänsehaut als Reaktion auf Musik erlebt, umso stärker sind die neuronalen Verbindungen ausgeprägt. 

Die vorangegangene Umfrage, sowie die akustischen Tests zeigen, dass Menschen, die offen für Erfahrungen sind und eine musikalische Ausbildung haben, eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, eine emotional ausgeprägtere Reaktion auf bestimmte Lieder zu zeigen. Dies kann auch Hirnforscher Eckart Müller bestätigen: „Es ist so, dass das Musizieren vor allem assoziative Netzwerke im Gehirn anlegt. Das heißt, wenn ich ein Musikstück höre, dann kann ich gleichzeitig meine emotionalen Erinnerungen dafür aufrufen.“ 

Daneben wurde durch die MDS-Analyse, ein Verfahren zur Darstellung von Ähnlichkeiten oder auch Distanzen in Datensätzen, eine zusätzliche Unterscheidung zweier Gruppen innerhalb der „Chill-Faktor-Gruppe“ deutlich: Während die eine Gruppe primär viszerale emotionale Reaktionen erlebt (Kribbeln im Bauch, Herzklopfen), konnten bei einer anderen Gruppe eher kognitive emotionale Reaktionen wie Verlust des Zeitgefühls oder Gefühle der Ehrfurcht identifiziert werden. Die körperliche Reaktion von Gänsehaut konnte in beiden Gruppen festgestellt werden. 

BELIEBT

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    Neuronalzellen

    Die Studie konnte die Ergebnisse vorangegangener Studien zu diesem Thema bekräftigen. Je stärker die neuronalen Zellen miteinander verknüpft sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für körperliche Reaktionen beim Hören von Musik wie beispielsweise Gänsehaut.

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    Studie bekräftigt andere Studien

    Die Studienergebnisse konnten zum einen zeigen, dass eine erhöhte Konnektivität zwischen der Insula, einem der fünf Großhirnlappen, und dem oberen Temporallappen, maßgeblich für emotionale Reaktionen auf Musik verantwortlich ist. Zum anderen konnte bestätigt werden, dass die Ausprägung der neuronalen Konnektivität der weißen Substanz im Gehirn maßgeblich für das Erleben einer Gänsehaut verantwortlich ist. 

    Wichtig zu erwähnen ist außerdem, dass weder das Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit noch IQ- oder Sprachunterschiede das Studienergebnis beeinflussten. Die klein angelegte Studie konnte Ergebnisse aus früheren Studien bekräftigen. Andere Studien erkannten bereits, dass die Menge an weißer Masse im Gehirn, insbesondere in den Schläfen- und Frontallappenregionen, für emotional besonders empathische Menschen sorgt.

    Cover National Geographic 11/24

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