Einblick in das Leben von Georgiens Kinderbräuten

Georgien hat eine der höchsten Quoten für Kinderehen, und einige Mädchen dort heiraten mitunter schon mit 12 Jahren.

Von Melody Rowell
Veröffentlicht am 13. Nov. 2017, 17:37 MEZ
Foto einer jugendlichen Braut auf einem geblümten Sofa
Eine 17-jährige georgisch-aserbaidschanische Braut in Kachetien wartet auf die Ankunft ihres Bräutigams an ihrem Hochzeitstag. Sie und ihr 22-jähriger zukünftiger Mann haben sich einen Monat früher kennengelernt, als ihre Verlobung bekanntgegeben wurde.
Foto von Daro Sulakauri

Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie viele minderjährige Mädchen in Georgien verheiratet werden.

Laut Aufzeichnungen des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen werden mindestens 17 Prozent der Mädchen in Georgien vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet – dem gesetzlichen Mindestalter für Eheschließungen. Da Familien das Gesetz mitunter umgehen, indem sie die Heirat erst nach einigen Jahren offiziell eintragen lassen, ist eine Nachverfolgung schwierig. Sie halten die Hochzeiten in ländlichen Moscheen oder Kirchen ab und betrachten das Paar kulturell und religiös als vermählt.

Die Fotojournalistin Daro Sulakauri wuchs in Georgien auf und erinnert sich an eine Mitschülerin, die verheiratet wurde, als sie beide gerade einmal 12 Jahre alt waren. „Ich hatte irgendwie dieses beunruhigende Gefühl“, erinnert sie sich. „Ich dachte, dass irgendwas nicht stimmte. Aber ich habe nicht verstanden, was es war.“

Dieses Gefühl kehrte zurück, als Sulakauri damit begann, zu Frauenthematiken in Georgien zu recherchieren, nachdem sie ein Stipendium des Human Rights House Network erhalten hatte. Mit den Gedanken an ihre Mitschülerin hörte sie sich nach Hochzeiten junger Paare um. Kurz darauf erhielt sie eine Einladung zu einer Hochzeit in einem kleinen Dorf, und am Ende der Feierlichkeiten begann die junge Braut zu weinen.

„Es war so schwer, ihre Gefühle zu lesen“, sagt Sulakauri. „War sie traurig? War sie glücklich? Für mich sah sie sehr verwirrt aus. Und dadurch begriff ich, dass ich eine Story darüber schreiben wollte.“

UNICEF bezeichnet Kinderehen als „eine fundamentale Menschenrechtsverletzung“, und Georgien hat eine der höchsten Quoten für Kinderehen in ganz Europa. Es ist eine Tradition, die Jahrhunderte zurückreicht und sich nicht nur auf eine Region oder Religion beschränkt. Während sich die Gründe für solche Ehen von Stadt zu Stadt und von Gruppe zu Gruppe unterscheiden, gibt es trotzdem ein paar Gemeinsamkeiten. Der Bräutigam ist fast immer älter, fertig mit der Schule und volljährig. Üblicherweise ist es die Mutter des Bräutigams, die den Prozess der Eheanbahnung anstößt, aber Sulakauri hat auch Paare getroffen, die sich durch Freunde, die Schule oder online kennengelernt haben. Und auch, wenn die Mädchen nicht notwendigerweise zum Heiraten gezwungen werden, lastet der kulturelle Druck enorm stark auf ihnen.

In Adscharien tanzt die 14-jährige Tamro auf der Verlobungsfeier ihrer Schwester. Während es für Mädchen in ihrem Alter gängig ist zu heiraten, würde sie gerne zuerst ihre Schule beenden.
Foto von Daro Sularkauri

„Sie schwimmen einfach mit dem Strom“, sagt Sulakauri. „Weil ihre Ur-Urgroßmutter das auch so gemacht hat, und weil ihre Großmutter und ihre Mutter auch sehr jung geheiratet haben. Daher denken sie, dass es im Leben eben so funktioniert und es so seine Richtigkeit hat.“

Die Menschen in Sulakauris Fotos sind georgische Aserbaidschanerinnen, Mitglieder einer ethnischen und religiösen Minderheit. Eine der kindlichen Bräute, die sie getroffen hat, ist Layla. Sie war 12 Jahre alt, als sie geheiratet hat, und lebte bei der Familie ihres Vaters. Ihre Geschichte ist Sulakauri besonders im Gedächtnis geblieben. Sie erinnert sich an ihre ersten Gespräche, in denen Layla sehr offen war. „Sie hatte all diese Träume von der Zukunft, was sie werden wollte, zum Beispiel Stylistin“, sagt sie. „Sie wollte weiter zur Schule gehen und alles Mögliche tun.“

Frauen und Mädchen legen eine Pause von den Verlobungsfeierlichkeiten in Adscharien ein.
Foto von Daro Sulakauri

Ein Jahr später kontaktierte Sulakauri Layla wieder – und da sahen die Dinge anders aus. „Sie ist mit 13 Jahren zu einer Hausfrau geworden“, erzählt sie. „Sie wird nicht mehr zur Schule gehen, so viel steht fest. Für sie ist es quasi vorbei.“

Es ist nicht nur der Schulabbruch, der diese Mädchen für immer prägen wird. Sexualkunde gibt es in Georgien praktisch nicht und Sulakauri sagt, dass manche Mädchen bis zu ihrem Hochzeitstag gar nicht verstehen, was eine Hochzeit alles beinhaltet. Eine Umfrage zur Reproduktionsgesundheit aus dem Jahr 2010 hat ergeben, dass „76,6 [Prozent] der verheirateten Frauen von 15 bis 19 Jahren keine moderne Verhütungsmethode verwenden.“ Es überrascht also kaum, dass viele junge Bräute schon kurz nach der Hochzeit schwanger werden, was alle möglichen gesundheitlichen Komplikationen für ihre Körper mit sich bringen kann, da diese sich noch entwickeln.

Adscharien ist bekannt für seine Berglandschaft und leider ebenso für die vielen frühen Hochzeiten, die hier stattfinden.
Foto von Daro Sulakauri

Wenn Sulakauri diese Mädchen trifft, muss sie an ihre eigene Kindheit denken. „Die war sehr anders“, sagt sie. „Ich war ein Kind, so lange ich ein Kind sein konnte.“ Wenn ihre Arbeit den Bräuten, die sie fotografiert, schon nicht dieselbe Kindheit geben kann, so hofft sie doch, dass sie damit vielleicht die Zukunft für andere ändert.

„Ich wollte den Menschen in meinem Land zeigen, dass so etwas hier passiert. Das kann zu Veränderungen führen. Vielleicht werden sie anfangen, darüber zu reden: ‚Vielleicht sollte das nicht passieren. Vielleicht sind sie zu jung.‘“

Artikel in englischer Sprache veröffentlicht am 2. Dezember 2016

Eine georgische Familie in Adscharien lebt während des Sommers in diesem Haus, was eine gängige Praxis von Bauern in dieser Gegend ist. Normalerweise sind die Häuser über hundert Jahre alt und die Nutztiere leben im Erdgeschoss, während die Familie im ersten Stock wohnt.
Foto von Daro Sulakauri
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