Verträumte Fotografien beleuchten das Leben im dunklen arktischen Winter

Eine fotografische Reise in die kanadische Arktis bringt das dynamische Leben in einer der kältesten bewohnten Regionen des Planeten zum Vorschein.

Von Gulnaz Khan
bilder von Acacia Johnson
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:31 MEZ
Joy und Amelia
Joy und Amelia, 10 Jahre, tragen zu einem Tanzabend am Freitag in Arctic Bay herzförmige Brillen. Die Inuit legen viel Wert auf Gemeinschaft und pflegen starke soziale Netzwerke – ein Überbleibsel ihrer uralten Tauschwirtschaft, die ihr Überleben in der rauen Umgebung jahrtausendelang gesichert hat.
Foto von Acacia Johnson

Anfang November verschwindet die Sonne in Arctic Bay hinter dem Horizont und färbt den Himmel violett und blau. Sie wird hier drei Monate lang nicht wieder aufgehen und die Landschaft in ein endloses Zwielicht tauchen.

Inmitten des Meers und der Tundra ist Nunavut („unser Land“ auf Inuktitut) das größte und nördlichste Territorium Kanadas. Dort lebt der Großteil der Inuit-Bevölkerung des Landes und verteilt sich auf abgelegene Küstengemeinden. Die Fotografin und Fulbright-Stipendiatin Acacia Johnson hat sich einem der kältesten und dunkelsten Winter der Welt ausgesetzt, um die Beziehung der Inuit zu ihrer Umwelt in ihrer traumhaften Fotoserie „Under the Same Stars“ zu dokumentieren.

„Die einzige Konstante in der arktischen Landschaft ist, dass sie sich konstant verändert“, sagt Johnson. „Meine [ursprüngliche] Idee war ein Landschaftsprojekt ... Ich kam an und die Realität war dann deutlich anders, als man erwarten würde. Es schien mir dann wichtiger, mich auf die kulturellen Veränderungen zu konzentrieren, die hier passieren.“

Die Gemeinde von Arctic Bay leuchtet in der elfenbeinfarbenen Landschaft. Die Stadt heißt Ikpiarjuk, das aus Inuktitut übersetzt „die Tasche“ bedeutet.
Foto von Acacia Johnson

In den letzten 50 Jahren haben die Inuit eine rasante politische, wirtschaftliche und kulturelle Transformation durchgemacht, die mit der Globalisierung und der Assimilationspolitik des 19. Jahrhunderts in Verbindung steht. Letztere war eine erneute Wiederholung der Gewalt, die indigene Völker auf der ganzen Welt erlebt haben.

Die Inuit wurden gezwungen, von einem autonomen und seminomadischen Lebensstil in Regierungssiedlungen zu wechseln, in denen sie zugunsten einer Anpassung an die westliche Kultur ihrer Identität beraubt wurden. Dieses Vorgehen wurde seither von der kanadischen Regierung als Missbrauch von Rechten, Autonomie und Menschenwürde anerkannt.

Heutzutage balancieren die Inuit weiterhin die komplexen Beziehungen zwischen einem uralten Lebensstil und einem, der ihnen aufgezwungen wurde. Über einen Zeitraum von vier Monaten bemühte sich Johnson, diese neu entstehende Lebensart durch ihre einzigartige visuelle Herangehensweise zu feiern anstatt sie zu pathologisieren. In dieser Zeit begleitete sie die Gemeinde auf North Baffin Island in Arctic Bay.

BELIEBT

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    Die achtjährige Hilary streckt sich im fahlen Dezemberlicht auf dem Meereis neben dem Fell eines Eisbärjungen aus. Das tauende Meereis macht es für die Eisbären zunehmend schwerer, ihre Beute zu erreichen. Viele wandern auf der Suche nach Futter in die bewohnten Küstengemeinden.
    Foto von Acacia Johnson

    „Ich will die Stereotypen über die Arktis hinterfragen. Ich glaube, viele Menschen stellen sich die Region einfach als einen weißen, flachen und leeren Ort vor“, sagt Johnson. Im Gegensatz dazu enthüllt „Under the Same Stars“ eine Landschaft, die in der Tiefe des Winters vor Leben und Farben pulsiert: jugendliche Mädchen werden vom künstlichen Licht von Smartphones beschienen, Jäger durchstreifen die Landschaft unter pastellfarbenem Himmel, Schnee leuchtet unter dem Sternenlicht.

    „Wenn man die Sonne für eine lange Zeit nicht sieht, werden die Augen lichtempfindlicher“, erklärt Johnson. Dunkelheit, die üblicherweise als lebensfeindlich gilt, scheint das Leben aber noch zu betonen. „Meine Wahrnehmung des Mondes und der Sterne war deutlich intensiver, als ich es gewohnt war – ihr Licht war überwältigend.“

    Ihre tiefgreifendste Erfahrung hatte Johnson allerdings, als sie die Inuit während der traditionellen Robbenjagd auf das Meereis begleitete. „Die Jagd auf Meeressäugetiere ist das Kernstück ihrer Kultur“, sagt sie. „Aber in dieser Region ist kein Tier von so einzigartiger Bedeutung wie die Ringelrobbe.“

    Darcy Enoogoo hält Ausschau nach Atemlöchern bei Arctic Bay. Die Inuit sind in hohem Maße auf die traditionelle Jagd angewiesen. Die wärmeren Temperaturen sorgen jedoch für riskante Zustände auf dem Eis und verkürzen die Jagdsaison.
    Foto von Acacia Johnson

    Die Subsistenzjagd der Inuit unterscheidet sich von Kanadas viel kritisierter kommerzieller Robbenjagd. Die Gemeinden der Ureinwohner sind seit Jahrtausenden für die Beschaffung von Nahrung und Kleidung auf die Robbenjagd angewiesen. Angesichts der heutzutage bestehenden Ernährungsunsicherheit und Hyperinflation importierter Waren trägt die Robbenjagd weiterhin dazu bei, das Überleben inmitten der wirtschaftlichen Unsicherheit zu sichern.

    „Es ist wichtig anzuerkennen, dass die Landschaft, die Vielfalt des Meeres und die Beziehung zum Meer und zum Eis sehr lebendig sind. Man sollte Leuten nicht beibringen, dass das primitiv oder rückständig ist“, sagt Johnson. „Es ist vorwärtsgerichtet. Ich finde das faszinierend.“

    Die Kolonialisierung hat die traditionellen landbasierten Fähigkeiten der Inuit erheblich ausgehöhlt und die Weitergabe von wesentlichem Wissen unterbrochen. Die Lebensweisen der Ureinwohner sind auch durch den Klimawandel bedroht. Wissenschaftler haben nun bestätigt, was traditionelle Jäger über Jahrzehnte der innigen Interaktion mit dem Planeten beobachtet haben: Die Arktis taut mit unerwarteter Geschwindigkeit. Die steigenden Temperaturen und extreme Wettervorkommnisse beschleunigen den Zerfall der Küste und das Tauen des Permafrosts – diese Umstände werden die Lebensgrundlage und Gesundheit der einheimischen Bevölkerung, die auf natürliche Ressourcen angewiesen ist, unverhältnismäßig stark treffen.

    „Alles dreht sich um die Stabilität des Meereises. Es bildet im Grunde eine Autobahn zwischen sonst völlig abgelegenen Orten – es fördert Leben“, sagt Johnson. „Ich denke, dass die Klimaerwärmung und das instabile Meereis einen dramatischen Effekt auf die Menschen haben werden, die hier leben.“

    John sagt, dass ihre Fotos letztendlich eine Hommage an die Anpassungsfähigkeit und Unverwüstlichkeit der Inuit sind. Sie glaubt, dass diese Qualitäten die Menschen zusammenschweißen und Nunavut durch eine ungewisse Zukunft führen werden – eine gemeinsame Zukunft.

    „Selbst in den scheinbar entferntesten Winkeln der Welt leben wir auf demselben Planeten, unter denselben Sternen“, sagt Johnson. „Wir sind alle miteinander verbunden.“

    Das Projekt wurde gefördert durch ein Stipendium von Fulbright Canada im Zusammenschluss mit der Universität Ontario College of Art and Design.

    Der Große Wagen, der sich aus den sieben hellsten Sternen im Sternbild des Großen Bären zusammensetzt, leuchtet über Arctic Bay. Dieses Leuchtfeuer unseres gemeinsamen Planeten kann von Nordamerika, Asien und Europa aus gesehen werden.
    Foto von Acacia Johnson
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