Fotografie: Das Arche-Album

Joel Sartore will so viele Tierarten wie möglich fotografieren – ehe sie ausgestorben sind.

Von Rachel Hartigan
bilder von Joël Sartore
Foto von Joël Sartore

Eine Vielzahl unserer Tierarten sind extrem gefährdet. Durch die Einschränkung ihrer Lebensräume sind bereits viele Arten ausgestorben, andere wird es in näherer Zukunft nicht mehr geben. Um das Bewusstsein der Menschen für die Tiere und ihre Gefährdung zu wecken, hält der NATIONAL GEOGRAPHIC-Fotograf Joel Sartore die Arten auf eine ganz neue Weise fest. Nachdem er jahrelang Tiere in freier Wildbahn fotografierte, porträtiert er für sein "Arche-Album" Exemplare in Zoos. Mit den Aufnahmen vor einem schlichten weißen Hintergrund möchte Sartore das Wesen der Arten und ihre Merkmale so deutlich wie nie zuvor einfangen - damit Menschen die Tiere auch dann noch ansehen können, wenn es sie nicht mehr gibt.

Zuweilen sind es Schicksalsschläge, die am Beginn besonderer Projekte stehen. So war es auch bei Joel Sartore. Jahrelang hatte der NATIONAL GEOGRAPHIC-Fotograf weit weg von zu Hause gearbeitet: Er suchte wilde Tiere im bolivianischen Madidi-Nationalpark, stieg in Uganda in Fledermaushöhlen oder kam in Alaska Grizzlybären gefährlich nahe.

Seine Frau Kathy kümmerte sich derweil in Nebraska um die Kinder. „Windeln wechseln war nicht seine Sache“, sagt sie. Dann kam der November 2005. Bei Kathy wurde Brustkrebs diagnostiziert. Sieben Monate Chemotherapie, sechs Wochen mit Bestrahlungen, zwei Operationen. Jetzt hatte Joel Sartore keine andere Wahl: Seine drei Kinder waren zwölf, neun und zwei Jahre alt, sie brauchten ihn, da war keine Zeit zum Reisen und Fotografieren. „Ich hatte zu Hause ein Jahr zum Nachdenken“, erinnert er sich.

Er dachte zum Beispiel an den Ornithologen John James Audubon, der im 19. Jahrhundert in seinen Zeichnungen Vögel verewigt hatte, die heute ausgestorben sind. „Er hat schon damals vorhergesehen, dass es mit manchen Arten zu Ende geht“, sagt Sartore. Der Fotograf dachte auch an George Catlin, einen Zeitgenossen Audubons, der die Ureinwohner Amerikas malte im Wissen, dass sich deren Leben durch die nach Westen vordringenden europäischen Einwanderer „grundlegend ändern“ würde. Er dachte auch an Edward Curtis, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die aussterbenden Bräuche der indigenen Völker filmte und auf Tonbändern festhielt.

„Dann habe ich über mich selbst nachgedacht“, sagt Sartore. „Ich hatte seit fast 20 Jahren in freier Wildbahn fotografiert, aber ich hatte wenig dazu beigetragen, dass Leute beginnen, sich für die Natur einzusetzen.“ Er fragte sich, ob er seine Arbeitsweise nicht ändern sollte, um eine größere Wirkung zu erzielen.

Und er kam zu dem Schluss: Besser als Aufnahmen in freier Wildbahn würden Porträts von Tieren wirken. Er könnte die Gestalt, die besonderen Merkmale besser einfangen – vielleicht sogar Blickkontakt herstellen und so die Aufmerksamkeit des Betrachters gewinnen.

Video: Hinter den Kulissen mit Joel Sartore

Im Sommer 2006 rief Sartore seinen Freund John Chapo an, den Präsidenten des Kinderzoos von Lincoln, und fragte, ob er Porträts von ein paar Tieren machen könne. Der Zoo lag praktisch um die Ecke, so würde der zeitweilige Hausmann trotz Kathys Krankheit ein wenig arbeiten können. Chapo stimmte dem Vorhaben zu, und Sartore legte los.

Er brauche nur zwei Dinge, sagte er: einen weißen Hintergrund und ein Tier, das stillhält. „Wie wär’s mit einem Nacktmull?“, fragte Cheftierpfleger Randy Scheer. So wurde das unbehaarte, unansehnliche Nagetier mit den vorstehenden Zähnen das erste Motiv für Sartores neue Lebensaufgabe: Alle Arten zu fotografieren, die auf der Welt in Gefangenschaft leben, um die Menschen auf das Schicksal aufmerksam zu machen, das die Tiere in der Natur haben.

Der Nacktmull passte gut zu Sartores Philosophie: „Mit solchen Viechern zu arbeiten ist für mich am spannendsten“, sagt er, „denn eigentlich schert sich ja niemand um sie.“

Wie viele Tierarten derzeit auf der Erde leben, weiß niemand, die Schätzungen reichen von zwei bis acht Millionen Arten. Viele werden bis zum Ende unseres Jahrhunderts ausgestorben sein: zum Beispiel wegen der Zerstörung ihrer Lebensräume, wegen des Klimawandels oder des Handels mit Wildtieren. „Wir verlieren sie jetzt“, sagt Jenny Gray, die Direktorin des Zoos von Victoria in Australien. „Täglich. Und wenn eine Art einmal weg ist, ist sie weg.“

Es sei denn, man schafft es eines Tages, sie durch Klonen wiederauferstehen zu lassen. Für einige Tierarten, die an der Schwelle zum Verschwinden stehen, sind Zoos die letzte Chance. Dort können sie weitergezüchtet und vermehrt werden. Und genau dort findet Sartore auch seine Motive. Obwohl nur ein Bruchteil aller Arten in Zoos gehalten wird, dürfte es nach Sartores Schätzung mindestens 25 Jahre dauern, zumindest einen Großteil von ihnen zu fotografieren.

Bislang umfasst das Album seiner Fotoarche mehr als 5600 Zoobewohner, die er im Laufe der vergangenen zehn Jahre fotografiert hat. Kleine Tiere wie einen schwarz-grün gemusterten Baumsteigerfrosch oder eine grünäugige Fliege mit Schmetterlingsrüssel, die Nektar aus Blüten trinkt. Große Tiere wie einen Eisbären oder ein Flusspferd. Skurrile Meerestiere wie das Fuchsgesicht, einen Vertreter der Kaninchenfische, oder den hawaiianischen Zwergtintenfisch. Herrlich bunte Vögel wie den Edwardsfasan oder die Nikobarentaube, die mit dem ausgestorbenen Dodo verwandt ist.

Was diese Fotos bewirken können, hat die Biologin Sandra Sneckenberger von der Jagd- und Fischereibehörde der USA erlebt. Der Bestand des sperlingsähnlichen Florida-Heuschreckenammers war bis auf 150 Paare geschrumpft, die man nur noch an zwei Orten finden konnte. Nachdem Sartore mit seinen Bildern das Bewusstsein für das nahe Ende dieser Vögel geweckt hatte, stiegen die staatlichen Mittel für ihren Schutz von 20.000 auf mehr als eine Million Dollar.

Für andere Arten gibt es aber wenig Hoffnung. Im Sommer 2015 fotografierte Sartore im Zoo von Dvůr Králové in Tschechien eines der fünf letzten weltweit noch lebenden Nördlichen Breitmaulnashörner, eine 31 Jahre alte Kuh. Eine Woche später starb sie an einer geplatzten Zyste. Im Herbst 2015 verendete ein weiteres Nördliches Breitmaulnashorn. Ein Bulle und zwei Kühe sind noch übrig. „Das ist nicht nur traurig“, sagt Sartore. „Das ist eine Tragödie.“

Die meisten Arten in der Fotoarche, die von der National Geographic Society finanziell unterstützt wird, sind zuvor noch nicht auf diese Weise fotografiert worden. Noch nie waren ihre Muster, ihr Fell und ihre Federn so genau zu erkennen. „Wenn es sie nicht mehr gibt, soll man sie immer noch so sehen können, wie sie lebend ausgeschaut haben“, sagt Sartore.

Man kann Tiere auf so viele Weisen fotografieren, wie es Arten gibt, aber Sartore nimmt grundsätzlich alle Porträts vor weißem oder schwarzem Hintergrund auf. „Das ist ein großer Gleichmacher“, sagt er. „Der Eisbär ist nicht wichtiger als die Maus, ein Tiger ist gleichberechtigt mit dem Tigerkäfer.“

Große Tiere nimmt er in ihrem Gehege auf. Als Hintergrund hängt Sartore einen schwarzen Vorhang auf, oder er streicht eine Wand. Im Zoo von Houston drapierte er sechs Meter schwarzen Stoff an einem Ende des Giraffenkäfigs. Kleine Tiere setzt er in einen Kasten mit Stoffwänden, dann steckt er sein Objektiv durch einen seitlichen Schlitz. „Manche schlafen da drin ein oder fressen etwas“, sagt er, „anderen gefällt die Umgebung überhaupt nicht.“ Er hält die Fotosessions kurz, sie dauern nicht länger als ein paar Minuten.

Nie legt er selbst Hand an die Tiere, das überlässt er den Pflegern. „Sobald eines Anzeichen von Stress zeigt, machen wir Schluss“, sagt er. „Das Wichtigste sind Wohlbefinden und Sicherheit der Tiere.“ Nie wurde eines verletzt. So viel Glück hatte der Fotograf selbst nicht. „Einmal wollte ein Kranich mir ein Auge aushacken“, sagt er. Ein Mandrill, ein ziemlich kräftiger Affe, boxte ihm ins Gesicht. Ein Langschopf-Hornvogel – „das frechste Miststück von einem Vogel, mit dem ich je zu tun hatte“ – schlug ihn mit dem Schnabel blutig. „Aber irgendwie bin ich ja selbst schuld, oder?“

Joel und Kathy Sartore sitzen bei gedämpftem Licht an ihrem Küchentisch in Nebraska. Er ist gestern Abend aus Madagaskar zurückgekehrt, seit 2007 reist er wieder. Jetzt soll sie ihm helfen, Fotos von Lemuren und Enten auszusuchen. Kathy fungiert oft als seine Bildredakteurin. „Es ist das Menschliche, das die Leute bei den Tieren anspricht“, sagt sie.

Man muss die Geschichte der beiden kennen, um zu verstehen, was dieses Projekt auch für sie persönlich bedeutet. Sartores Eltern waren Naturliebhaber. Der Vater nahm ihn im Frühjahr mit zum Pilzesammeln, im Sommer zum Angeln und im Herbst zur Jagd. Als er acht Jahre alt war, schenkte ihm seine Mutter ein bebildertes Sachbuch über Vögel. Es veränderte sein Leben. Hinten, im Kapitel über das Aussterben, war ein Bild von Martha zu sehen, der allerletzten Wandertaube auf der Erde. Er erinnert sich, wie er immer wieder die Seite mit diesem Vogel aufschlug: „Ich konnte es nicht fassen, dass ein Bestand, der einst Milliarden zählte, auf ein einziges Exemplar schrumpfen kann.“

Bei Kathy kehrte 2012 der Krebs zurück. Sie ließ sich beide Brüste amputieren. Im gleichen Jahr wurde bei ihrem 18-jährigen Sohn Cole ein Lymphom diagnostiziert. Beide gelten heute als gesund, aber die Krankheiten haben Spuren hinterlassen. „Es gibt nicht mehr viel, über das wir uns noch aufregen“, sagt Sartore.

Auch die Fotoarche hat ihn verändert. „Ich bin mir meiner Sterblichkeit bewusst geworden“, sagt der 53-Jährige. Noch hat er Tausende von Arten zu fotografieren. Falls er die Aufgabe nicht beenden kann, wird Cole weitermachen. „Die Bilder sollen weiterwirken”, sagt Sartore. „Auch wenn ich schon lange tot bin.“

Erfahren Sie mehr über Joel Sartores Projekt „Photo Ark“.

(NG, Heft 5 / 2016, Seite(n) 68 bis 85)

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