Wie fehlende Toiletten und alte Traditionen für Probleme sorgen
Eine Milliarde Menschen verrichten ihre Notdurft im Freien, ein Großteil davon in Indien. Schuld daran hat auch die Macht der Gewohnheit.
Moolchand, 65, weißhaarig und krummbeinig, geht gern im Morgengrauen auf die Pirsch. „Ich lege mich mit meiner Taschenlampe auf die Lauer“, sagt er, leicht aufgekratzt. „Und ich fange Leute mit einer Lota ab.“ Lotas sind Wasserbehälter, ursprünglich aus Messing, heute meist aus Plastik. Wer am frühen Morgen in Gaji Khedi, einem Dorf im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh, eine Lota trägt, geht höchstwahrscheinlich zum Feld oder ins Gebüsch, um den Darm zu entleeren, das mitgebrachte Wasser ist zur anschließenden Säuberung da.
„Wenn ich jemanden sehe, nehme ich die Verfolgung auf“, fährt Moolchand fort. „Ich ziehe meine Trillerpfeife, pfeife den Leuten hinterher und kippe ihre Lota aus.“ Moolchand sieht sich als Hüter einer hart erkämpften Ehre: Der Distrikt hat sein Dorf für „open defecation free“ er klärt – offiziell verrichtet hier niemand mehr sein Geschäft im Freien. „Die Leute werden wütend und schreien mich an, wenn ich sie anhalte“, sagt er. „Aber wir bekommen ja Unterstützung von der Regierung, um Toiletten zu bauen. Es gibt keine Entschuldigung mehr.“
Die Praxis der Notdurft im Freien ist so alt wie die Menschheit. Als die Erde noch dünn besiedelt war, konnte der Boden die menschlichen Ausscheidungen ohne größere Probleme aufnehmen. Doch mit der zunehmenden Verstädterung erkannte man allmählich den Zusammenhang zwischen Hygiene und Gesundheit, speziell die Krankheitsübertragung durch Fäkalien. Obwohl die Zahlen weltweit zurückgehen, erledigen noch immer fast 950 Millionen Menschen ihr Geschäft im Freien, etwa 569 Millionen davon in Indien.
Eine gute Sanitärversorgung, Punkt sechs der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, wäre ein Meilenstein für die globale Volksgesundheit: Jährlich sterben circa 1,4 Millionen Kinder an Krankheiten aufgrund mangelnder Sanitär und Wasserversorgung – mehr als an Masern, Malaria und Aids zusammen. Gleichzeitig lindert eine gute Sanitärversorgung Armut und Hunger und verbessert die Bildungschancen. Kranke Kinder fehlen in der Schule, genau wie Mädchen mit Regelblutung, deren Schule über keine saubere Toilette verfügt. Im Jahr 2015 forderten die Vereinten Nationen ein Ende der Open Defecation bis zum Jahr 2030. Einige Länder wie Vietnam haben das Problem in den letzten Jahrzehnten in den Griff gekriegt, Indien ist weit davon entfernt.
Im Distrikt Khargone, im Südwesten von Madhya Pradesh, laufe ich durch die ungepflasterten Straßen eines kleinen Dorfes, an meiner Seite Nikhil Srivastav. Er ist Politologe und arbeitet für das Research Institute for Compassionate Economics (RICE). Die Non-Profit-Organisation beschäftigt amerikanische und indische Wissenschaftler, die die Lage der Armen und insbesondere der Kinder im Land erforschen. Einige Kinder folgen uns barfuß, als wir über einen stinkenden Bach steigen, in dem sich Mistbienenlarven tummeln. Auf der anderen Seite treffen wir auf einem sauber gefegten Gelände Jagdish, einen Reisebusfahrer im Ruhestand. Er hat gerade 50.000 Rupien (680 Euro) ausgegeben, um eine zwei Meter tiefe Latrine auszuheben – doppelt so tief wie von der Regierung empfohlen.
Doch Jagdish nutzt das hübsche, mit Delfin-Kacheln verzierte Örtchen kaum. „Es ist für meine Frau und meine Schwiegertochter“, sagt er. Wie viele seiner Nachbarn geht er für seine Notdurft lieber ein Stückchen bergauf in den Busch. Auf dem Land gilt das als männlich. Patriarchalische Werbeanzeigen verstärken diese Auffassung indirekt: Sie drängen Männer zwar dazu, Toiletten zu bauen, aber nicht der Gesundheit wegen, sondern um Frauen und Töchter vor sexueller Belästigung zu bewahren und vor der Scham, im Freien ihre Saris zu lüpfen. Eine Kampagne ermutigt Bräute, nur einen Mann zu heiraten, der eine Toilette sein Eigen nennt.
Jagdish ist stolz auf seine Latrine. Er bedauert nur, nicht noch tiefer gegraben zu haben. „Viereinhalb Meter wären besser“, sagt er. Plumpsklos haben nämlich einen großen Nachteil: Sie füllen sich. Und statt die Grube mit einer Schaufel zu leeren oder ein Pumpfahrzeug zu rufen – oder noch einfacher, eine neue Grube zu graben, wie es in anderen Ländern üblich ist –, bauen viele Inder, vor allem im ländlichen Norden, lieber gar keine Latrine.
Vor drei Jahren haben die Forscher der Non-Profit-Organisation Research Institute for Compassionate Economics (RICE) mehr als 22.000 Inder auf dem Land zu ihrer Latrinennutzung befragt. Demnach verrichtet in 40 Prozent der Haushalte mit Toilette mindestens ein Familienmitglied weiterhin die Notdurft im Freien. Den RICE-Experten zufolge waren privat gebaute Latrinen vier- bis fünfmal so groß wie die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen 1,4 Kubikmeter. „Diese Größe ist weltweit Standard“, sagt der Forscher Nikhil Srivastav, „und eine sechsköpfige Familie braucht mindestens fünf Jahre, um sie zu füllen.“ Warum ist für Jagdish also die Größe so wichtig? „Eine kleinere ist in fünf Monaten voll“, glaubt er zu Unrecht. Und dann müsse er einen Dalit aus einer niederen Kaste rufen, damit dieser sie leert.
„Können Sie das nicht selbst machen?“, fragt Srivastav. Jagdish schüttelt den Kopf.
„Die Gemeinde würde das nicht gutheißen“, sagt er. „Wer in seinem eigenen Haus sauber macht, wird geächtet.“
Vielleicht erklärt diese Aussage ein großes Rätsel der sanitären Lage in Indien: Warum ist der Anteil der Menschen, die im Freien ihre Notdurft verrichten, hier so viel höher als in anderen Entwicklungsländern, obwohl Indien reicher ist, höhere Alphabetisierungsraten hat und besseren Zugang zu Wasser? Was Indien unterscheidet, sind die herrschenden Vorstellungen von Reinheit, Verschmutzung und Kastenwesen.
Dieser Artikel wurde gekürzt und bearbeitet. Die ganze Reportage steht in
der Ausgabe 9/2017 von National Geographic. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!