Aufnahmen unkontaktierter Stämme könnten helfen, sie zu retten

Zwei kürzlich veröffentlichte Videos isolierter Stämme im Amazonas haben eine Debatte über deren Rechte und Bedürfnisse ausgelöst.

Von Scott Wallace
Veröffentlicht am 10. Sept. 2018, 14:01 MESZ
Der „einzige Überlebende“ eines Stammes im Tanaru Indigenous Land im brasilianischen Bundesstaat Rondônia.
Der „einzige Überlebende“ eines Stammes im Tanaru Indigenous Land im brasilianischen Bundesstaat Rondônia.
Courtesy Acervo, Funai

Der Beschluss der brasilianischen Regierung, Videoaufnahmen isolierter Ureinwohner zu veröffentlichen, hat in den letzten Wochen zunehmend Unbehagen darüber ausgelöst, dass die Zeit für den Schutz der letzten unkontaktierten Stämme des Amazonas und ihrer Heimatwälder ausläuft.

Brasiliens Behörde für die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen mit Bezug zu indigenen Völkern (FUNAI) hat seit Juli insgesamt zwei Videos veröffentlicht, die bei Feldeinsätzen aufgenommen wurden, deren Zweck die Beobachtung und der Schutz einheimischer Völker sind, welche in Reservaten von der Außenwelt abgeschnitten sind.

 

Das erste Video zeigt einen kräftigen Mann, der tief im Wald einen Baum fällt. Es wurde heimlich aus geringer Entfernung von dem FUNAI-Team aufgenommen, dem sein Schutz obliegt. Der Mann hat die letzten 22 Jahre allein in einem knapp 80 Quadratkilometer großen Bereich des Tanaru Indigenous Land im westlichen brasilianischen Bundesstaat Rondônia gelebt. Das Reservat wurde ausgewiesen, um ihn vor Holzfällern und Viehzüchtern zu schützen, die den Rest seines Stammes in den Achtzigern und Neunzigern mutmaßlich ausgelöscht haben. Niemand kennt den Namen des einzigen Überlebenden oder den Namen des Stammes, dem er einst angehörte.

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    Zehn Wochen später, am 21. August, veröffentlichte FUNAI ein weiteres Video, das mit einer Drohne gemacht wurde. Darin sind mehrere Menschen zu sehen, die über eine große Dschungellichtung laufen, auf der sie Feldfrüchte angepflanzt hatten. Unter ihnen befand sich auch ein Mann mit einem Langbogen und einigen Bambuspfeilen. Der Behörde zufolge wurde es letztes Jahr bei einer Expedition in die Tiefen des Vale do Javari Indigenous Land ganz im Westen Brasiliens aufgenommen. Die Mitglieder des Expeditionsteams sollten Gerüchten über ein Massaker nachgehen, das an dem Stamm verübt worden sein soll, der als Flecheiros oder „Menschen des Pfeils“ bekannt ist.

    Beide Videos wurden ohne das Wissen oder Einverständnis der gefilmten Menschen gemacht und werfen daher ethische Fragen über ihre Rechte auf – aber auch Bedenken, dass solche Aufnahmen Abenteurer anlocken könnten, die die isolierten Stämme auf eigene Faust erkunden wollen.

    Den Mitarbeitern von FUNAI zufolge wurde der Beschluss zur Veröffentlichung der Videos gefasst, nachdem langjährige Außendienstmitarbeiter sich darauf geeinigt hatten, dass das Bewusstsein für die Existenz isolierter Stämme und ihre zunehmend heikle Lage sowohl in Brasilien als auch im Rest der Welt gestärkt werden müsste.

    „Je mehr die Öffentlichkeit weiß und je mehr Debatten es über dieses Thema gibt, desto mehr Chancen haben wir, sie und ihr Land zu beschützen“, sagte Bruno Pereira in einem Telefoninterview. Pereira ist der neue Direktor der Behörde für isolierte Ureinwohner. „Da die Grenzen der landwirtschaftlichen Nutzflächen und andere Aktivitäten wie Bergbau und Holzfällerei sich im Amazonas immer weiter ausbreiten, könnten diese Völker verschwinden, bevor die Öffentlichkeit überhaupt von ihrer Existenz erfährt“, so Pereira.

    Foto von NGM Maps

    Er gibt zu, dass Kritiker die Nutzung von Drohnen zur Erforschung des Lebens der Flecheiros als aggressive Taktik bezeichnen könnten. Allerdings sei die Drohne letztes Jahr eingesetzt worden, um den Gerüchten über das Massaker nachzugehen, und nicht, um die Privatsphäre der Gruppe zu verletzen. Das ferngesteuerte Gerät lieferte die ersten Aufnahmen des isolierten Stammes, die je per Drohne gemacht wurden – eine einzigartige Gelegenheit, um Informationen über die Flecheiros zu gewinnen, die letztendlich zu ihrem Schutz beitragen könnten.

    Den Mitarbeitern von FUNAI zufolge wurde die Behörde in den letzten Jahren zunehmend durch wirtschaftliche Interessen und Politiker unter Druck gesetzt. Ihr wird vorgeworfen, die Erschließung des Amazonas mit zweifelhaften Behauptungen über die Existenz unkontaktierter Stämme zu behindern. Die großen Budgetkürzungen unter der Regierung des Präsidenten Michel Temer haben es FUNAI erschwert, das Land der Ureinwohner vor profitorientierten Außenseitern zu schützen, die die rohstoffreiche Wildnis erschließen wollen.

    Die indigenen Führungspersönlichkeiten Brasiliens loben FUNAIS Entscheidung als einen Schritt vorwärts im Schutz dieser isolierten Gemeinden, die durch ansteckende Krankheiten und gewaltsame Handlungen von Außenseitern noch immer stark gefährdet sind.

    „Die bloße Tatsache, dass diese Gruppen noch nie kontaktiert wurden, macht sie angreifbar, da sie für den Großteil der Öffentlichkeit unsichtbar sind“, sagte Beto Marubo. Er ist Teil einer stetig steigenden Zahl von Aktivisten, die im Namen ihrer isolierten Brüder und Schwestern sprechen.

    Sein Volk, die Marubo, ist einer von sechs kontaktierten Stämmen im Vale do Javari Indigenous Land, das es sich mit mindestens elf isolierten Gemeinschaften teilt, darunter auch mit den Flecheiros. „Die Schwächung der einzigen Regierungsinstitution, die für ihren Schutz verantwortlich ist, vergrößert die Gefahr für diese isolierten Gruppen“, schrieb Marubo aus Brasilien.

    Nach wie vor gibt es viele Unklarheiten im Fall des einzigen Überlebenden in Rondônia und bei den Flecheiros im Vale do Javari. Weder sie noch der Mann hatten je einen direkten friedvollen Kontakt mit der Außenwelt. Genau wie bei dem Überlebenden weiß man auch bei den Flecheiros nicht, wie sie sich selbst bezeichnen. Ihren Spitznamen erhielten sie dank ihres Rufs als geschickte Bogenschützen. Damit heben sie sich von den anderen isolierten Gruppen im Javari-Reservat ab, die als Waffen eher Knüppel benutzen.

    Etwa 800 Kilometer entfernt im Tanaru-Reservat meidet der einzelne Überlebende nach wie vor den direkten Kontakt mit Außenseitern. Er läuft vor den FUNAI-Mitarbeitern weg, die seine Bewegungen überwachen, ihm Saatgut und Werkzeuge als Geschenk dalassen und die Grenzen seines Reservats patrouillieren, um ihn vor gefährlichen äußeren Einflüssen zu schützen.

    Die Geschenke der FUNAI-Mitarbeiter scheinen aber auch ein gewisses Maß an Vertrauen geschaffen zu haben, wie Pereira erzählt. Es kam schon vor, dass der Mann die Patrouillen auf Gruben hinwies, die er als Verteidigung gegen Eindringlinge oder als Fallen für wilde Tiere gegraben hatte.

    Außerdem gräbt er tiefe, schmale Löcher in den Hütten, die er sich baut, während er das Reservat allein durchstreift. Die FUNAI-Mitarbeiter haben im Verlauf ihrer Beobachtungen Dutzende solcher Unterkünfte entdeckt, in deren Mitte sich jedes Mal eine schmale Grube befand. Die Behörden sind ein wenig ratlos ob dieser Löcher, aber manche glauben, dass sie ein Überbleibsel der spirituellen Praktiken seines Stammes sein könnten. Da sie den Namen seines Stammes nicht kennen, bezeichnen die Mitarbeiter ihn einfach als „o índio do buraco“, was so viel bedeutet wie „der Mann des Lochs“.

    „Ich fühle mich dazu verpflichtet, dem Mann auf jede mir mögliche Weise für das zu entschädigen, was ihm und seinem Volk widerfahren ist“, schrieb Altair Algayer in einer E-Mail an National Geographic. Der FUNAI-Mitarbeiter war die letzten 13 Jahre für den Schutz des Mannes verantwortlich.

    Algayer hofft, dass die Veröffentlichung des Videos von dem einzigen Überlebenden die brasilianischen Regierungsvertreter dazu motivieren wird, „Verantwortung zu übernehmen“ und der Behörde dabei zu helfen, den Mann und andere Stammesgemeinschaften des Amazonas zu beschützen.

    „Die Unversehrtheit dieser Gesellschaften ist eine wichtige Angelegenheit, nicht nur für Brasilianer, sondern für die ganze Menschheit“, sagte Felipe Milanez. Der Professor für Geisteswissenschaften an der Universidade Federal da Bahia hat die FUNAI-Mitarbeiter zweimal auf Expeditionen durch das Gebiet begleitet, in dem der Mann lebt.

    „Man sollte ihn nicht als Einsiedler betrachten, der sich vor der Welt versteckt. Der Mann ist der Überlebende eines Völkermords. Er hat es sich nicht ausgesucht, allein zu leben.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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