Den Krieg vor Augen
In den Aussenbezirken der afghanischen Hauptstadt führen bürgerliche Familien ein ruhiges und modernes Leben. Doch die Sicherheit ist fragil.
Die Familien von Samim Sediqi (l.) und seinem Freund Iqbal gehören zu den Bewohnern Kabuls, die es sich leisten können, eine der neuen Wohnungen in Qasaba zu mieten. Das Leben am Stadtrand ist komfortabler und sicherer als mitten in der Hauptstadt.
Jeden Freitagteigen die Bewohner von Khwaja Rawash auf die Dächer ihrer Apartmenthäuser, lassen Drachen steigen und genießen die ungetrübte Aussicht am Stadtrand von Kabul. Doch an einem dieser Freitage bot sich den Bewohnern vor Kurzem ein eher unheilvoller Anblick am Horizont. Nicht weit entfernt stieg weißer Rauch auf. Taliban hatten den Flughafen der afghanischen Hauptstadt mit Mörsergranaten beschossen.
Der moderne Apartmentkomplex Khwaja Rawash wurde 2017 im Stadtteil Qasaba eröffnet. Inzwischen leben hier 9 000 Menschen, Angehörige der Mittelschicht, die es sich leisten konnten, die Innenstadt zu verlassen. Der Reiz dieser Siedlung ist schnell erklärt: Sicherheit. Seit dem Abzug ausländischer Truppen mehren sich im Zentrum die Angriffe der radikal-islamischen Taliban. Aber es gibt noch andere Gründe, nach Khwaja Rawash zu ziehen. Die Wohnungen verfügen über fließend Wasser und Zentralheizung. Und Frauen dürfen sich auch außerhalb der Häuser frei bewegen.
Abdul Kabir Ziarkash ist 71 Jahre alt und hat vier Jahrzehnte als Meteorologe im Staatsdienst gearbeitet. Er trägt ein besticktes weißes Hemd, sein Schnurrbart ist sauber gestutzt. Der ehemalige Kommunist teilt sich seine moderne Wohnung im Außenbezirk mit seiner Frau Parwin, seinem jüngsten Sohn Aimal, 34, der Schwiegertochter Khalida, 34, und zwei Enkeln. Aimal und Khalida haben sich beim Informatikstudium kennengelernt.
Aimal ist ein moderner afghanischer Ehemann: Er erlaubt Khalida zu arbeiten. Sie unterrichtet an einer Berufsschule für Mädchen und ist die Ernährerin der Familie, seit Aimal seinen Job im Baugewerbe verlor. Außerdem kocht, putzt und wäscht sie, während ihr Mann lieber mit den Söhnen Videospiele spielt. Einen Job zu suchen, hat er erst einmal aufgegeben.
Die Familie hat sich im Wohnzimmer versammelt. Im Fernsehen läuft eine indische Krimikomödie. Das Familienoberhaupt erinnert sich an die Sechziger- und Siebzigerjahre – eine Phase demokratischer Reformen und Stabilität. „Es war hier nicht schlechter als in Paris“, sagt Ziarkash. Doch „jetzt ist unser Land kaputt“, wirft seine Frau ein. „Aber wir versuchen, ein Zuhause zu schaffen, in dem sich alle wohlfühlen.“ Die Enkel Arshid, zehn, und Rashid, acht, schlafen in Bettwäsche mit Mickymaus-Motiven, die Wände des Kinderzimmers sind mit bunten Comicbildchen beklebt, auf dem Nachttisch steht ein Käfig mit zwei Kanarienvögeln.
Khwaja Rawash ist der jüngste Neuzugang einer Stadt, deren Geschichte sich an der Architektur ablesen lässt. Von seiner chaotischen Altstadt dehnt sich Kabul über ein Netzwerk staubiger Straßen aus, an denen rechteckige, von Mauern umgebene Wohnanlagen stehen. An den Berghängen am Stadtrand wachsen die Elendsviertel. Kabuls Bevölkerung hat sich zwischen 2001 und 2015 verdreifacht, auf mehr als 4,5 Millionen Einwohner. Das Stadtzentrum – vollgestopft mit streng bewachten Botschaftskomplexen, Militärquartieren und Ministerien – sei für Afghanen praktisch „unbewohnbar“ geworden, sagt Jolyon Leslie, ein südafrikanischer Architekt, der seit 1989 in Afghanistan arbeitet: „Mit Ausnahme der Elite, die sich hinter Schutzwällen in ihren Anwesen verschanzt.“
Jahrzehntelange Auseinandersetzungen und Gefechte haben Kabul geformt. Die Gefahr kommt nicht mehr nur von außen, durch Raketen, sondern auch von innen, durch Selbstmordattentäter oder schwer bewaffnete Panzer.
Kabuls Diplomatenviertel liegt in der sogenannten Grünen Zone, einem Hochsicherheitsbereich, der auf mehr als die doppelte Fläche ausgeweitet werden soll, damit alle Botschaften, Ministerien und
Hauptquartiere darin Platz finden. Eine neue Blaue Zone mit strengen Verkehrskontrollen soll fast die gesamte Innenstadt und den Flughafen umschließen. Das bedeutet für die meisten Afghanen, dass sie wichtige kulturelle Stätten nicht mehr besuchen können.
Es sieht nicht danach aus, als ob sich die Lage bald entspannen würde. Und sollte der Krieg zwischen den Taliban und der vom Westen unterstützten Regierung eskalieren, würde das auch Viertel wie Qasaba betreffen, in denen derzeit relative Ruhe herrscht. Wohnkomplexe wie Khwaja Rawash waren während des Bürgerkriegs in den Neunzigerjahren schon einmal Ziel bewaffneter Gruppen. „Qasaba ist durchaus in Gefahr“, sagt Leslie, der Architekt.
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