Allein unter allen: Japans soziale Einsiedler

Inmitten der überfüllten Städte leben Hunderttausende Menschen völlig isoliert – als sogenannte Hikikomori. „Mietgeschwister“ helfen den Betroffenen aus der Einsamkeit.

Von Laurence Butet-Roch
bilder von Maika Elan
Veröffentlicht am 15. Jan. 2019, 15:03 MEZ
Fuminori Aoka, 30, hat seine Wohnung seit zwei Jahren nicht verlassen. „Er selbst sagt von sich, ...
Fuminori Aoka, 30, hat seine Wohnung seit zwei Jahren nicht verlassen. „Er selbst sagt von sich, dass er ein großer Mann ist, der Außergewöhnliches tun könnte, aber er gebe nicht immer sein Bestes“, erklärt die Fotografin Maika Elan, die ihn zusammen mit einer Sozialarbeiterin besucht hat. „Er wechselt laufend seine Hobbys oder setzt sich neue Ziele und sagt, dass er sich mit der Zeit verrannt hat.“
Foto von Maika Elan

Laut der Fotografin Maika Elan gibt es in Japan immer zwei entgegengesetzte Seiten. „Es ist sowohl modern als auch traditionell, betriebsam und sehr einsam. Die Restaurants und Bars sind immer voll, aber wenn man genau hinsieht, essen die meisten Besucher dort allein. Und in den Straßen, egal zu welcher Uhrzeit, sieht man erschöpfte Büroangestellte.“

Als Elan das Foto des damals 34 Jahre alten Ikuo Nakamura machte, lebte er schon seit sieben Jahren in seinem Zimmer.
Foto von Maika Elan

Das Gegenstück zu jenen Menschen, die mitten in der Öffentlichkeit ihr einsames Leben führen, könnten die Menschen sein, die sich für ein zurückgezogenes Leben entschieden haben. Sie werden Hikikomori genannt. Sie sind meist männlich und haben seit mindestens einem Jahr nicht aktiv an der Gesellschaft teilgenommen oder zumindest keinerlei Interesse daran gezeigt. Zumeist kümmern sich ihre Eltern um sie. Bei einer Erhebung, die 2016 von der japanischen Regierung durchgeführt wurde, ergab sich eine Ziffer von 540.000 Betroffenen in der Altersgruppe der 15- bis 39-Jährigen. Die Dunkelziffer mag gut und gern doppelt so hoch sein. Da viele von ihnen es vorziehen, im Verborgenen zu bleiben, sind sie ungezählt.

Die Vietnamesin Elan hat zum ersten Mal von den Hikikomori gehört, als sie sechs Monate in einer Künstlerresidenz in Tokio verbrachte. Sie freundete sich mit einer Japanerin namens Oguri Ayako an, die für New Start arbeitet. Die gemeinnützige Organisation versucht, Hikikomori aus ihrer Isolation herauszuholen.

Auf Bitten der Eltern hin – und für etwa 8.000 Dollar pro Jahr – nehmen Frauen wie Ayako regelmäßig Kontakt zu den Hikikomori auf. Anfangs schreiben sie nur Briefe. Der Prozess zieht sich über Monate, während der Betroffene sich von kleinen Schritten hocharbeitet – vom Öffnen des Briefes über das Beantworten bis zu Telefongesprächen. Später folgen Gespräche durch die geschlossene Tür, bevor Ayako auch im selben Zimmer mit dem Betroffenen sprechen kann. Viele weitere Treffen sind nötig, bis er mit ihr zusammen seine Wohnung verlässt. Das letztendliche Ziel ist es, dass er im Wohnheim von New Start wohnt und dort am Jobtrainingsprogramm teilnimmt.

Ayako, deren Rolle als „Mietschwester“ sich am ehesten mit der einer Sozialarbeiterin vergleichen lässt, sagt von sich, dass sie in ihrer zehnjährigen Karriere zwischen 40 und 50 Menschen aus ihrer Isolation geholfen hat.

„Mietschwester“ Oguri Ayako schreibt dem 41-jährigen Kobayashi Haruto einen Brief. Seit elf Jahren lebt er schon zurückgezogen. Auf dem Foto besuchte Ayako ihn das dritte Mal zu Hause. Da er sich weigert zu sprechen, schreibt sie ihm Briefe und legt sie vor seine Zimmertür.
Foto von Maika Elan

Elan begleitete Ayako zu ihren Besuchen bei elf verschiedenen Hikikomori. Nach den ersten fünf oder sechs Treffen durfte sie anfangen, Fotos zu machen. „Zuerst dachte ich, dass sie einfach nur faul und selbstsüchtig sind“, gibt sie zu. Aber mit der Zeit lernte sie sie kennen und verstand nicht nur, wie aufmerksam und nachdenklich sie sind. „Es gibt so viele Menschen, die einfach bis zur Erschöpfung arbeiten. Auf gewisse Weise rücken die Hikikomori Japan wieder ins Gleichgewicht.“

Das Phänomen mag es zwar nicht nur in Japan geben, aber dort scheint es besonders akut zu sein. Elan zählt viele mögliche Gründe dafür auf: die steigende Zahl von Familien mit nur einem Sohn, in den sie all ihre Träume und Hoffnungen legen; die fehlenden männlichen Vorbilder, da die Väter Tag und Nacht arbeiten; fortbestehende Geschlechterrollen, in denen dem männlichen Familienoberhaupt oft die volle Verantwortung für das ökonomische Wohl der Familie obliegt – um nur ein paar zu nennen.

Chuji, 25, ist seit drei Jahren ein Hikikomori. Er träumt davon, Opernsänger zu werden. Da er der älteste Sohn seiner Eltern ist, wollen sie aber, dass er im Familienunternehmen mitarbeitet. Ein Jahr lang hat er im Büro gearbeitet, aber durch den Stress bekam er Magenschmerzen. Er verglich seine Situation oft mit der seines jüngeren Bruder, der machen durfte, was immer er wollte. Das machte ihn wütend, was ihm noch mehr Schelten von seiner Familie einbrachte und ihn noch beschämter zurückließ. Er schloss sich in seinem Zimmer ein. Erst nach einem Jahr zwangen seine Eltern ihn, an einem Förderprogramm teilzunehmen.
Foto von Maika Elan

Eine andere mögliche Erklärung findet sich in der kulturellen Verschiebung des Landes von einer sehr kollektiven Gesellschaft hin zu einer individualistischen – insbesondere bei den jüngeren Generationen, die immer neue Wege suchen, um ihrer Individualität Ausdruck zu verleihen. „In Japan, wo Einheitlichkeit noch immer wertgeschätzt wird, haben der Ruf und die äußere Erscheinung Priorität. Rebellion zeigt sich da eher in stillen Formen wie bei den Hikikomori“, sagt sie.

„Je länger die Hikikomori von der Gesellschaft getrennt leben, desto mehr werden sie sich ihres sozialen Versagens bewusst“, erklärt Elan. „Sie verlieren jegliches Selbstwertgefühl, das ihnen noch geblieben ist, und die Vorstellung, das Haus zu verlassen, wird immer furchterregender. Wenn sie sich in ihrem Zimmer einschließen, fühlen sie sich ‚sicher‘.“

Das ist das Zimmer von Shoku Uibori, 44, der seit acht Jahren ein Hikikomori ist. „Er war ein Geschäftsmann und hatte seine eigene Firma, die dann aber bankrottging. Er schließt sich tagsüber in sein Zimmer ein und liest. Nachts geht er manchmal raus, um Essen und andere Notwendigkeiten zu kaufen“, schreibt Elan.
Foto von Maika Elan

Elan will ihr Fotoprojekt weiterführen und sich dabei stärker auf die Mietschwestern konzentrieren. Diese Frauen, die für die Hikikomori am Anfang nur Fremde sind, könnten letztendlich die Lösung für ihr Problem sein. Bestes Beispiel: Elan erfuhr 2018, dass einer der Hikikomori, die sie fotografiert hat – Ikuo Nakamura –, sich in seine Mietschwester Oguri Ayako verliebt hat. Die beiden wollen heiraten – und Nakamura möchte ein Mietbruder werden und anderen Menschen in seiner Lage helfen.

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

Japan

Japans Geisterinsel Hashima

loading

Nat Geo Entdecken

  • Tiere
  • Umwelt
  • Geschichte und Kultur
  • Wissenschaft
  • Reise und Abenteuer
  • Fotografie
  • Video

Über uns

Abonnement

  • Magazin-Abo
  • TV-Abo
  • Bücher
  • Newsletter
  • Disney+

Folgen Sie uns

Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2024 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved