Wie ein „vergessener“ Tsunami vor 600 Jahren die Geschichte veränderte
Neue Belege zeigen, dass ein gewaltiger Tsunami vor Jahrhunderten die Küste Sumatras zerstörte und den Weg für den Aufstieg eines mächtigen Königreichs ebnete.
Am 26. Dezember 2004 krachten bis zu 30 Meter hohe Wellen an die Küste von Aceh, einer indonesischen Provinz an der nordwestlichen Spitze Sumatras.
Kurz vor der Küste hatte sich ein Unterseebeben ereignet, welches einen zerstörerischen Tsunami ausgelöst hatte. Die gewaltigen Wellen trafen die Küstengebiete im Indischen Ozean und wanderten sogar bis nach Somalia. Allein in Aceh starben über 160.000 Menschen. Hunderttausende verloren ihr Zuhause.
Ein ähnlicher Tsunami schien vor mehr als 600 Jahren ganze Küstendörfer ausgelöscht zu haben. Die Katastrophe könnte allerdings eine wichtige Rolle für den Aufstieg des Sultanats von Aceh gespielt haben, wie es in einer aktuellen Studie heißt, die in „Proceedings of the National Academy of Sciences“ erschien.
Im Jahr 2006 arbeitete der Archäologe Patrick Daly mit den Behörden von Aceh daran, die religiösen und kulturellen Stätten zu erhalten, die durch den Tsunami 2004 beschädigt worden waren. Dabei fielen ihm ein paar wunderschön verzierte, alte muslimische Grabsteine auf, die entlang der Küste langsam erodierten.
„Es hat mir das Herz gebrochen, sie dort so umgeworfen und weggespült liegen zu sehen“, sagt er.
Daly fragte sich, wie oft es in der Vergangenheit schon zu solchen Tsunamis gekommen war und wie sie das Leben der Menschen in Aceh beeinflusst hatten.
Vom Meer geschluckt
Die Nordwestspitze Sumatras, auf der sich Acehs heutige Hauptstadt Banda Aceh befindet, war früher entweder der erste oder letzte Anlaufhafen für Schiffe, die den Golf von Bengalen durchquerten. Das Sultanat von Aceh, das dort im 16. Jahrhundert entstand, entwickelte sich zu einer der wenigen südostasiatischen Mächte, die dem Kolonialismus jahrhundertelang erfolgreich widerstanden. Allerdings hatten Archäologen bislang kaum handfeste Belege für Siedlungen in der Region vor dem 17. Jahrhundert.
Daly, der am Erdobservatorium Singapur arbeitet, sowie seine Kollegen von der Syiah Kuala Universität in Aceh begannen daher damit, die Küste systematisch zu untersuchen. Sie besuchten an die 40 Küstendörfer, um dort mit den Dorfältesten zu sprechen und Spuren früherer menschlicher Besiedelung ausfindig zu machen, beispielsweise Grabsteine, Keramikscherben und die Fundamente alter Moscheen.
„Die allererste Karte, die ich daraus erhielt, erzählte fast die ganze Geschichte“, sagt Daly. „Es war verblüffend. Wir sahen all diese separaten Verdichtungen von Material entlang der Küste. Zehn Siedlungen zeichneten sich dabei sehr deutlich ab.“
Anhand des Alters der Keramikscherben in diesen Siedlungen konnten die Wissenschaftler noch etwas viel Verblüffenderes feststellen: Die Küstendörfer schienen alle aus dem 11. und 12. Jahrhundert zu stammen, aber um etwa 1400 herum schienen alle neun tiefliegenden Siedlungen auf einem 40 Kilometer langen Küstenabschnitt aufgegeben worden zu sein.
Kürzlich entdeckte geologische Befunde lassen vermuten, dass ein Tsunami die Region im Jahr 1394 traf. Aber „uns war das ganze Ausmaß gar nicht klar“, sagt Daly, „wie groß, wie stark und wie zerstörerisch er war.“ Die neuen archäologischen Befunde lassen darauf schließen, dass der Tsunami – der sich womöglich mit dem von 2004 messen konnte – alle tiefliegenden Dörfer in der Region zerstörte.
Aufstieg und Fall
Die einzige Siedlung, die der Katastrophe anscheinend nicht zum Opfer gefallen war, befand sich auf einem Hügel, den der Tsunami nicht erreichte. Daly und seine Kollegen konnten diese Siedlung identifizieren: Es handelte sich um Lamri, ein Handelsposten, der aus historischen Aufzeichnungen über die mittelalterliche Seidenstraße bekannt ist. In Lamri fanden die Forscher hochwertige Keramik aus verschiedenen Regionen Chinas und sogar aus Syrien. Solche Funde fehlten in den tieferliegenden Siedlungen.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts befand sich Lamri allerdings bereits im Niedergang. Nur ein paar Jahrzehnte zuvor hatten die Menschen damit begonnen, die Dörfer wiederaufzubauen, die durch den Tsunami zerstört worden waren. Der Handel wurde in diese tieferliegenden Gebiete umgeleitet, was sich in den hochwertigeren Keramikerzeugnissen und den Grabsteinen mit den Namen elitärer Bürger aus anderen Teilen der Straße von Malakka widerspiegelt.
Daly und seine Kollegen glauben nicht, dass die tiefliegenden Küstengebiete von lokalen Überlebenden wiederaufgebaut wurden, die in ihre Heimat zurückkehrten. Stattdessen vermuten sie, dass der Tsunami sozusagen attraktive Immobilien für muslimische Handelsreisende schuf, die andernorts durch europäische Einflüsse in der Region vertrieben worden waren. (Die Portugiesen eroberten beispielsweise das nahegelegene Malakaka im Jahr 1511.) Diese Neuankömmlinge könnten den Kern dessen geformt haben, was sich später zum Sultanat von Aceh entwickelte, einem mächtigen islamischen Königreich.
„Nach einem Tsunami kann es eine Periode der völligen Renaissance und des Wiederaufbaus geben“, sagt Beverly Goodman, eine Geoarchäologin der Universität Haifa in Israel. Sie beschäftigt sich mit historischen Tsunamis, war an der aktuellen Studie jedoch nicht beteiligt.
Fragen für die Zukunft
Die Geologen und Archäologen hoffen, dass die Rekonstruktion vergangener Tsunamis uns dabei helfen kann, die Risiken heutiger Riesenwellen besser abzuschätzen.
„Wenn wir uns nur auf die uns bekannten Aufzeichnungen stützen, unterschätzen wir am Ende signifikant, wie oft es auf der Welt zu Tsunamis kommt und welche Auswirkungen sie haben“, so Goodman.
Sie verweist darauf, dass der Tsunami von 2004 gezeigt hat, wie gefährdet Ace ist. Dieselben Methoden, die in der aktuellen angewendet wurden, können aber auch dabei helfen, die Gefahr für andere Orte festzustellen, die in jüngerer Zeit nicht von einem Tsunami getroffen wurden.
„Diese Art der Forschung ist sehr wichtig dafür, solche alten Aufzeichnungen zu sammeln und so die Risikofaktoren besser zu verstehen“, erzählt Goodman. „Die Nutzung von Sedimenten und archäologischen Befunden ist unerlässlich, um solche Lücken zu schließen.“
Die größere Herausforderung liegt aber vermutlich darin, sich auf solche seltenen Ereignisse angemessen vorzubereiten.
„Wenn man den Leuten erzählt, dass es in den nächsten paar Jahrhunderten wahrscheinlich zu einem weiteren Tsunami kommen wird – wir wissen aber nicht, wann genau – und dass er das gesamte Gebiet zerstören wird, dann sind die meiste Leute gewillt, mit diesem Risiko zu leben“, sagt Daly.
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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