Präkolumbianische Zivilisation im Amazonas war deutlich größer als gedacht

Kleine Nomadenstämme und unberührter Dschungel? Von wegen! Im südlichen Amazonas gab es wohl einst ein Netzwerk aus großen Dörfern und zeremoniellen Stätten.

Von Erin Blakemore
Veröffentlicht am 29. März 2018, 17:30 MESZ
Landschaft
Die Geoglyphen im südlichen Amazonas weisen auf eine blühende Zivilisation hin, die dort einst existierte.
Foto von University of Exeter

Bevor die spanischen Invasoren Südamerika eroberten, waren nomadische Völker rund um den Lauf des Amazonas versprengt und ließen den umliegenden Regenwald größtenteils völlig unberührt.

So viel zur Theorie.

Neue Forschungsergebnisse malen nun ein ganz anderes Bild: eine Amazonasregion voller Regenwalddörfer und zeremonieller Erdbauten mit einer deutlich größeren Population als bisher vermutet.

Die entsprechende Forschung wurden in Teilen von der National Geographic Society finanziert und im Fachmagazin „Nature Communications“ veröffentlicht. Sie stellt die weit verbreitete Auffassung infrage, dass der präkolumbianische Amazonas nur spärlich besiedelt war. Diese Annahme hatte lange Zeit Bestand – trotz Berichten aus dem 16. Jahrhundert, die von großen, miteinander vernetzten Dörfern erzählen.

„Viele Leute haben diese Vorstellung von einem unberührten Paradies“, sagte Jonas Gregorio de Souza, ein Archäologe der Universität Exeter, der an diesem Projekt mitgearbeitet hat. Ein Großteil der Region ist unerforscht und von dichtem Regenwald bedeckt – und damit unzugänglich für Archäologen, die mehr über das Leben an dem gewaltigen Fluss erfahren wollten.

Bis jetzt. Das Team nutzte Satellitendaten, um alte Geoglyphen – Erdzeichnungen, die vermutlich zeremoniellen Zwecken dienten – in den zuvor unerforschten Bereichen des brasilianischen Bundesstaates Mato Grosso ausfindig zu machen. Mit den Koordinaten der Geoglyphen bewaffnet, zogen sie dann ins Feld – manchmal sogar im wahrsten Sinne des Wortes, da weite Teile der Region landwirtschaftlich genutzt werden. Und tatsächlich: Alle 24 ihrer Ziele stellten sich als authentisch heraus. „Alles machte Sinn“, sagte de Souza. „Wir wussten, dass wir uns in einem besonderen Bereich befanden.“

An einer Stelle grub das Team etwas tiefer. Die Forscher fanden Tongefäße und Holzkohle, was auf ein Dorf aus der Zeit um 1410 n. Chr. schließen ließ.

Zurück im Büro werteten sie ihre Funde aus, um zu eruieren, wo sich die anderen Stätten befinden könnten. Sie erstellten ein Computermodell, welches alle möglichen Faktoren – von der Höhenlage über den pH-Wert des Bodens bis zum Niederschlag – in seine Berechnungen mit einbezog. Das Modell ergab, dass die Geoglyphen wahrscheinlich eher in größeren Höhenlagen angelegt wurden, wo es größere Variationen in Temperatur und Jahreszeiten gab.

Es zeigte außerdem, dass die Menschen nicht zwingend in Flussnähe gebaut haben, was modernen Annahmen widerspricht. Dem Modell zufolge gibt es in einem rund 400.000 Quadratkilometer großen Bereich des südlichen Amazonas wahrscheinlich 1.300 Geoglyphen und Dörfer – zwei Drittel davon wurden bisher noch nicht entdeckt.

Auch die berechnete Populationsdichte übersteigt die Erwartungen bei Weitem. Das Team glaubt, dass einst zwischen 500.000 und einer Million Menschen auf nur 7 Prozent der Fläche des Amazonasbeckens gelebt haben. Bisherige Schätzungen gingen von etwa 2 Millionen Menschen im gesamten Becken aus.

Die Verteilung der potenziellen Stätten lässt auf eine miteinander vernetzte und hoch entwickelte Abfolge befestigter Siedlungen schließen, die sich auf über 1.700 Kilometern erstreckten und zwischen 1200 und 1500 n. Chr. florierten. „Wir müssen die Geschichte des Amazonas neu bewerten“, sagte José Iriarte in einer Pressemitteilung. Der Archäologe der Universität Exeter und National Geographic Explorer ist der Hauptautor der neuen Studie.

Was aber geschah mit den Völkern des Regenwaldes? De Souza zufolge starben sie nach der europäischen Eroberung der Region aus. Der Genozid und die eingeschleppten Krankheiten löschten ganze Dörfer aus, und viele andere mussten die Landwirtschaft gänzlich aufgeben. „Sie mussten ständig in Bewegung bleiben“, so de Souza. Aus den Spuren, die sie hinterließen, können wir noch immer viel über ihre verlorene Zivilisation lernen.

 

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