Paralympische Spiele: Ein Sportereignis schreibt Geschichte

Was 1948 als Wettbewerb im Bogenschießen für 16 Veteranen mit Wirbelsäulenverletzung begann, ist inzwischen zu einem sportlichen Großereignis geworden, dass sich hinter den Olympischen Spielen nicht verstecken muss.

Von Tucker C. Toole
Veröffentlicht am 7. Sept. 2021, 09:39 MESZ
Die Brasilianerin Jardenia Felix Barbosa da Silva feiert den Sieg ihrer Bronzemedaille nach dem 400m, T20-Rennen ...

Die Brasilianerin Jardenia Felix Barbosa da Silva feiert den Sieg ihrer Bronzemedaille nach dem 400m, T20-Rennen der Frauen bei den Paralympischen Spielen in Tokio, Japan. T20 ist eine der Behinderungssportklassifikationen, die bei dem Wettbewerb angewandt werden.

Foto von Kiyoshi Ota, Getty Images

Die 16. Paralympischen Spiele in Tokio haben wieder einen Rekord gebrochen: Nie zuvor gab es so viele Teilnehmer Paralympischen Spielen wie im Jahr 2021. 4.500 Athleten aus 163 Ländern trafen in 22 Wettbewerben aufeinander, darunter 134 Sportler aus Deutschland.

Jessica Long ist eine der erfolgreichsten Athletinnen der USA. Mit 29 Jahren ist es der Schwimmerin in ihrer Karriere 28 Mal gelungen, olympisches Gold zu gewinnen. Vier der Medaillen holte sie bei den Paralympischen Spielen in Tokio. Der Wettbewerb bedeutet ihr viel, denn er gibt ihr die Möglichkeit, sich auf höchstem Niveau mit anderen Athleten zu messen – und etwas, worauf sie sich alle vier Jahre freuen kann.

„Seit ich mit zwölf Jahren in Athen zum ersten Mal Gold geholt habe, war es mir ein Anliegen, dass mehr Leute erfahren, was die Paralympics sind“, sagt sie. Sie wurde mit einer Fehlbildung geboren, die dazu führte, dass ihre Unterschenkel bereits im Babyalter amputiert werden mussten. „Mit jedem Jahr wird bei mir die Vorfreude auf die Spiele größer und größer – die in Tokio haben mir mit am meisten Spaß gemacht.“

Jessica Long vom US-Team tritt während des 34-Punkte-Finales der 4x100-Meter-Medley-Staffel der Frauen an, wo sie bei den Paralympischen Spielen 2020 in Tokio die Goldmedaille gewann.

Foto von Naomi Baker, Getty Images

Die Paralympischen Spiele, die sich traditionell an die Olympischen Spiele anschließen, sind eine vergleichsweise neue Institution. Doch von seinen Ursprüngen bis in die heutige Zeit hat das Sportereignis bereits große Veränderungen durchlaufen – und wurde zu einem der bekanntesten unserer Zeit. Das International Paralympic Committee (IPC) ermöglicht Jahr für Jahr mehr Athleten aus immer mehr Ländern die Teilnahme, fügt laufend neue Disziplinen hinzu und erteilt Teilnahmeberechtigungen für eine wachsende Bandbreite verschiedener Behinderungen.

Die ersten Paralympischen Spiele wurden im Jahr 1948 ausgetragen, sportliche Wettkämpfe für Athleten mit Behinderung existierten allerdings schon mindestens 60 Jahre zuvor: In Berlin gründeten gehörlose Sportler bereits 1888 erste eigene Sportvereine.

Die Idee, sportliche Wettkämpfe für Athleten mit Behinderung ins Leben zu rufen, war trotzdem zunächst nicht weit verbreitet. Erst im Zweiten Weltkrieg stellte man fest, welchen großen Nutzen das sportliche Miteinandermessen für verletzte Kriegsveteranen und Zivilisten mit sich brachte. Ludwig Guttmann, Neurologe und Leiter einer Spezialklinik für Wirbelsäulenverletzte in Großbritannien, stand damals an der Spitze der Bewegung. Er war davon überzeugt, dass sportliche Aktivität seinen Patienten bei der geistigen und körperlichen Genesung helfen konnte. Darüber hinaus wollte er etwas für die Menschen mit Behinderung tun, die in der Gesellschaft oft ins Hintertreffen gerieten. Für Ludwig Guttmann war Sport Teil „der sozialen Rückführung und Integration gelähmter Menschen in die Gesellschaft.

„Meiner Meinung nach hat der Sport für Menschen mit Behinderung einen enormen Einfluss auf die gesellschaftliche Wahrnehmung“, so Ludwig Guttmann in einem früheren Interview. „Nachdem ich festgestellt habe, wie offen gelähmte Menschen für das Ausüben von Sport sind, war die Gründung einer Sportbewegung für mich der nächste logische Schritt.“

Im Jahr 1948 organisierte er für denselben Tag, an dem die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in London stattfand, den ersten Sportwettbewerb für Athleten mit einer Behinderung. Er gab ihm den Namen „International Wheelchair Games“. Sechzehn Veteranen in Rollstühlen, sowohl Frauen als auch Männer, traten damals im Bogenschießen gegeneinander an.

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    Das italienische Team versammelt sich vor Beginn der ersten internationalen Paralympischen Spiele im Jahr 1960 in Rom, Italien im Olympischen Dorf. 400 Athleten aus 23 Ländern nahmen damals an dem Wettbewerb teil.

    Foto von Keystone, Hulton Archive/Getty Images

    Der Wettbewerb fand daraufhin einmal im Jahr statt und jedes Mal nahmen mehr Athleten teil. Speerwurf wurde als Disziplin aufgenommen, die Spiele erhielten einen neuen Namen: „Stoke Mandeville Games“, benannt nach der Klinik, deren Direktor Ludwig Guttmann war. Im Jahr 1952 ergänzte ein Sportlerteam aus den Niederlanden das Teilnehmerfeld und machte den Wettbewerb somit international.

    1960 war das Jahr, in dem aus den Stoke Mandeville Games schließlich die Paralympischen Spiele wurden: Mehr als 400 Athleten mit Behinderung aus 23 Ländern versammelten sich im Anschluss an die Sommerspiele im olympischen Stadion in Rom. Die Disziplinen, in denen sie gegeneinander antraten, waren vielfältig: Bogenschießen, Basketball, Schwimmen, Fechten, Speerwurf, Kugelstoßen, Weitwurf, Tischtennis, Fünfkampf und sogar Snooker.

    Seitdem finden die Paralympics traditionell im Anschluss an und am selben Austragungsort wie die Olympischen Spiele statt. Das Wort „paralympisch“ spiegelt diese Verbindung wider: Der Wortteil para stammt aus dem Griechischen und bedeutet „neben“. Olympische und Paralympische Spiele begegnen sich auf Augenhöhe.

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    In den folgenden Jahren durchliefen die Paralympischen Spiele ein rasches Wachstum. An den Spielen in Toronto im Jahr 1976 nahmen 16 Jahre nach den ersten Paralympischen Spielen bereits mehr als 1.500 Athleten aus 40 Ländern in 13 Disziplinen teil. Im selben Jahr wurden in Schweden die ersten Paralympischen Winterspiele ausgetragen. Seit den Sommerspielen in Seoul im Jahr 1988 werden für die Paralympischen Spiele dieselben Sportsstätten genutzt wie für die Olympischen. Die Paralympics in Atlanta im Jahr 1996 wurden unter dem Slogan „Das zweitgrößte Sportereignis der Welt“ angekündigt und waren die ersten, die im Fernsehen übertragen wurden.

    Die gesteigerte Reichweite führte zu mehr Inklusion. Ludwig Guttmann hatte den Wettbewerb ursprünglich für Veteranen mit Wirbelsäulenverletzungen ins Leben gerufen und obwohl bald auch Zivilisten für die Teilnahme zugelassen waren, blieb das Teilnehmerfeld noch lange auf Menschen mit Wirbelsäulenverletzungen begrenzt. Ab dem Jahr 1976 war es dann auch Athleten mit Amputationen, Sehbehinderungen und anderen Beeinträchtigungen möglich, gegeneinander anzutreten.

    Dadurch wurde jedoch die Etablierung eines Systems nötig, das dafür sorgte, dass die Chancengleichheit gewährleistet blieb und nicht der Teilnehmer mit der geringsten Beeinträchtigung automatisch gewann. Die Organisatoren der Paralympischen Spiele begannen deswegen, die Athleten nach Stärke und Art ihrer Behinderung zu kategorisieren. Durch diese Klassifizierungen, die bestimmen, ob ein Sportler zur Teilnahme an einer Disziplin berechtigt ist und in welcher Gruppe er antreten darf, wurde die Grundlage für einen fairen Wettbewerb geschaffen.

    Die Niederländerinnen Larissa Klaassen und Pilotin Imke Brommer nehmen an der 3000 Meter Einerverfolgung der Frauenklasse B bei den Paralympics in Tokio teil. Bei Rennen dieser Klassifizierung wird das Tandem eines Athleten mit Sehbehinderung von einem sehenden Piloten gesteuert.

    Foto von David Fitzgerald, Sportsfile/ Getty Images

    Für Jessica Long sind die Paralympics ein Geschenk. Sie hat die zweitmeisten Goldmedaillen aller Teilnehmer der Paralympischen Spiele gewonnen – und damit genauso viel Gold gesammelt wie der US-amerikanische Schwimmstar Michael Phelps bei Olympischen Spielen. „Ich weiß nicht, wohin mein Leben mich noch führen wird“, sagt sie. „Aber ich weiß, auf welch eine wilde, fantastische Reise mich die Paralympics mitgenommen haben.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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