Wir sind zum Laufen geboren – aber wir machen es falsch

Unser Autor empfiehlt, Laufen eher als langsame Meditation zu begreifen. Das würde mehr Vorteile bringen, als es wie einen Sport zu betreiben.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:38 MEZ
Rennen der Chinesischen Nationalspiele
China hofft, auf dem Gebiet der Leichtathletik bald mit den Topnationen der Welt mithalten zu können. Das Foto wurde bei einem Rennen der Chinesischen Nationalspiele gemacht.
Foto von Michael Nichols, National Geographic Creative

Heutzutage scheint Laufen kaum noch dem Überleben zu dienen – es geht um Sport, Fitnesstracker und Kalorienverbrennung.

Aber unseren frühen Vorfahren verlieh die Fähigkeit, Beute wie Strauße und Antilopen über lange Strecken zu verfolgen, einen evolutionären Vorteil – und eine Achillessehne, die ideal für das Zurücklegen solcher Entfernungen ist. 

In seinem neuen Buch „Footnotes: How Running Makes Us Human“ (dt. Fußnoten: Wie uns das Laufen zu Menschen macht) erinnert uns der Forscher Vybarr Cregan-Reid von der Universität von Kent an diese oft vergessene Geschichte. Für ihn geht es beim Laufen letztendlich um Freiheit und darum, die ganzen modernen Spielzeuge hinter sich zu lassen, um sich auf eine Verbindung mit der Natur einzulassen (Laufbänder nennt er das „Junk-Food des Sports“).

Von London aus erzählt er National Geographic per Telefon, wie er von seinem irischen Onkel inspiriert war, der bei den Olympischen Spielen lief, und warum er glaubt, dass barfuß zu laufen natürlich ist und ein geringeres Verletzungsrisiko birgt.

Sie haben definitiv den ungewöhnlichsten Namen, den wir bei unseren Buch-Interviews bisher hatten. Erzählen Sie uns ein bisschen was über sich und darüber, wie Sie zum Laufen gekommen sind.

Meine beiden Eltern sind irisch und Vybarr kommt von einem irischen Namen, Finbar. Es ist aber eine Art Familienmysterium, warum ich Vybarr heiße. Es gibt einige Geschichten darüber, woher der Name kommt, aber keine davon macht so richtig Sinn.

Ich bin immer wieder mal gelaufen, seit ich Anfang 20 war. So richtig habe ich damit aber erst vor zehn bis 15 Jahren angefangen. Jetzt bin ich fast 50. In meiner Familie gab es Läufer. Mein Onkel mütterlicherseits hieß Jim Cregan. Er fand, dass er mit diesem Namen nicht antreten konnte, wenn er für England und nicht für Irland lief. Also lief er unter dem Namen Jim Hogan für Großbritannien. Er stammte aus den 30ern, aus einer ländlichen Gegend in Irland. Meine Großeltern hielten ihn für verrückt, weil er so gern lief. Er lief und lief, die meiste Zeit barfuß. Er rannte bei zwei Olympiaden für Irland und dann später für Großbritannien. 1966 holte er bei den Europäischen Meisterschaften die Goldmedaille.

Ich muss zugeben: Ich mag alle möglichen Sportarten, aber Laufen kann ich absolut nicht ausstehen. Bekehren Sie mich!

Als erstes würde ich sagen, dass Sie es vermutlich nicht richtig machen. Die meisten Menschen mögen es nicht zu laufen, weil es sie vielleicht daran erinnert, wie sie gerannt sind, um einen Bus noch zu erwischen. Diese Art des Laufens ist für gewöhnlich extrem unangenehm, fast schon Übelkeit erregend. Die meisten Anfänger geben auf, wenn sie sich verletzten, weil sie zu früh zu viel gemacht haben. Der meiste Nutzen, den einem das Laufen bringt, kommt daher, dass man es sehr langsam angeht.

Ich betrachte es auch mit Misstrauen, dass man es als Sport ansieht. Es sollte nicht wie einer betrieben werden. Es ist etwas, das uns als Art angeboren ist. Es ist eine Möglichkeit, mit unserer Umwelt und unseren eigenen Gedanken in Verbindung zu treten. Es ist auch eine Möglichkeit, einige der körpereigenen Endorphine auszuschütten, eine Art legaler Rauschzustand, der im Grunde sogar gut für uns ist.

Foto von How Running Makes Us Human“ (dt. Fußnoten: Wie uns das Laufen zu Menschen macht)

Sie schreiben: „Wir sind zum Laufen geboren.“ Erzählen Sie uns, welche Rolle das Laufen in unserer Evolution spielt und wie es sich in unserer Anatomie widerspiegelt.

Viele Teile unserer Anatomie – von unseren Zehenspitzen bis zum Kopf – sind speziell darauf ausgerichtet, uns zu guten Läufern zu machen. Unser sogenanntes Nackenband [an der Halswirbelsäule] hilft unserem Kopf dabei, nicht ständig nach vorn zu kippen. Unsere flachen Gesichter und unsere Zähne, die sich so weit hinten in unserem Kopf befinden, helfen auch dabei, beim Laufen einen guten Körperschwerpunkt zu behalten.

Weil wir auf zwei Beinen und Füßen laufen, sind nur 40 Prozent unseres Körpers der Mittagssonne ausgesetzt. Bei den meisten anderen Säugetieren sind es 70 Prozent. Dadurch können wir unsere Körpertemperatur besser kühl halten. All diese Dinge halfen unseren Vorfahren dabei, gute Jäger zu sein. Was das Sprinten angeht, sind wir im Vergleich zu den meisten anderen Tieren furchtbar. Aber über bestimmte Distanzen sind wir besser als alle anderen Lebewesen auf der Erde.

Wenn wir eine Antilope oder ein Zebra jagen würden, würden uns diese Tiere über die ersten paar Hundert Meter völlig abhängen. Aber weil wir viel effektiver als ein Vierbeiner Wärme abgeben können, wurden wir über längere Strecken zu effektiveren Jägern. Ein Nervensystem zu haben, das schmerzstillende Endorphine produzieren kann, hat auch geholfen.

Wann – und warum – begann der moderne Laufwahn?

Im 19. Jahrhundert gab es das schon ein bisschen, aber da hätte man keine Jogger auf der Straße gesehen. Man braucht eigentlich keinen Sport, bis man eine Arbeitskultur entwickelt, in der die Menschen vorwiegend sitzen - und darum gibt es jetzt Sport.

Laufen ist außerdem einfach und preiswert. Niemand muss erst lernen, wie man das macht. In einer Kultur, in der wir immer mehr Zeit mit Arbeit verbringen, haben wir auch immer weniger Zeit, unseren Körpern die Bewegung zu verschaffen, nach der sie sich sehnen. Vor 20 bis 30 Jahren gab es auch noch nicht so viele Sportstudios.

Läufer warten auf den Beginn eines Rennens über zehn Kilometer.
Foto von Skip Brown, National Geographic Creative

Sie sind nicht gerade der typische Jogger, oder? Eigentlich hassen Sie den Begriff. Sie laufen außerdem barfuß und haben sich mit der Zeit der meisten technischen Spielereien entledigt. Warum?

Tatsache ist, dass ich schon ein Jogger bin. Aber das hat solchen Konnotationen von pastellfarbenen Trainingsanzügen und Schweißbändern aus den 80ern. Es stinkt nach Thatcherismus und Reagans Wirtschaftspolitik und diesem ganzen Individualismus. Läufer klingt einfach cooler, oder? Die nackten Füße sind eine lange Geschichte. Als Läufer habe ich mir wiederholt Verletzungen zugezogen. Als ich die Schuhe ausgezogen habe, war das einer der Wege, auf die ich gelernt habe, wie man richtig läuft.

Das hat für mich deshalb funktioniert, weil man keinerlei Polsterung hat. Man wird richtig gut darin, das haptische Feedback vom Boden zu interpretieren, das einem etwas über den eigenen Laufstil verrät. Gepolsterte Schuhe ermöglichen uns einen schlechten Laufstil. Nackte Füße erzählen uns viel mehr über die Welt um uns herum. Etwas im Gehirn legt sich um wie ein Schalter, sobald man nichts an den Füßen hat.

Eines der Dinge, die ich am Laufen liebe, ist, dass ich es nicht tue, um fit zu werden. Das ist nur ein Nebeneffekt. Ich mag die Zeit offline, daher möchte ich auch, dass meine Läufe entspannt sind, nicht hektisch. Sobald ich die Zeit stoppe, in der ich die letzte Meile laufe, oder nachsehe, wie viele Schritte ich gelaufen bin, wird das Ganze weniger entspannend. Es prüft ja auch niemand, wie viele Kalorien er beim Meditieren verbraucht hat. Für mich ist das Laufen eher wie eine Meditation und weniger wie ein Sport, der mich fit halten soll.

Sie haben auch eine Abneigung gegen Laufbänder in Fitnessstudios. Woher kommt das und warum ist es so viel besser, draußen zu laufen?

Das Laufband wurde Anfang des 19. Jahrhunderts erfunden, als man darüber nachdachte, welche Bestrafungen so nah wie möglich an die Todesstrafe kämen. Mehr als ein Jahrhundert lang waren Laufbänder also etwas, mit dem man Menschen bestraft hat! Oscar Wilde war einer von ihnen. Er wurde 1895 zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt und musste für bis zu sechs Stunden täglich auf dem Laufband laufen. Das hat ihn praktisch umgebracht. Als er aus dem Gefängnis kam, starb er etwa drei Jahre später.

Ein Kunde läuft auf einem Laufband in einem Fitnesstsudio. Laufkurse vor Sonnenaufgang oder am Nachmittag werden in den Fitnessstudios Manhattans angeblich immer beliebter bei Bankern, die Kontakte knüpfen wollen, ohne sich dabei mit Alkohol und fetthaltigen Nahrungsmitteln vollzustopfen.
Foto von Scott Eells, Bloomberg via Getty Images

Dann hat man phänomenale PR-Arbeit für das Laufband geleistet. Nachdem es für fast 40 Jahre verschwunden war, hat man ihm nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Image verpasst. Für mich sind Laufbänder wie Junk-Food, in dem die ganzen guten Dinge im Essen fehlen – Ballaststoffe, Vitamine und Mineralien. Alles, was noch übrig bleibt, sind Fett und Zucker.

Aber alles, was es den Leuten ermöglicht, ihre Bewegung zu genießen, sollte gefördert werden, ob es sich nun um Technologie handelt oder nicht.

Sie beginnen Ihr Buch mit der Frage „Warum laufe ich?“ und beenden es in Detroit.  Haben Sie dort eine Antwort gefunden?

In Boston gibt es überall Läufer. Aber als ich eine Woche in Detroit verbrachte, habe ich nicht einen einzigen gesehen. Ich bin sicher, dass es dafür eine ganze Menge Gründe gibt, aber einer davon ist definitiv finanzieller Natur. Es ist nicht einfach, Zeit zum Laufen zu finden, wenn man zwei Jobs hat oder wenn man nicht den Eindruck hat, dass die Umgebung um einen herum besonders lauffreundlich ist.

Ich möchte weiter so frei und demokratisch wie möglich laufen können. Es gibt mir viel zu viel, als dass ich einfach damit aufhören könnte. Es macht uns intelligenter, fitter und entspannter. Es bringt uns von der Technologie weg und ermöglicht unserem Gehirn etwas Ruhe. Außerdem fördert es Kreativität. All das vermag das Laufen zu tun.

Dieses Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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