Sind „übermenschliche“ Fähigkeiten genetisch bedingt?

Das berühmte Sprichwort „Übung macht den Meister“ ist nur die halbe Wahrheit.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 17. Okt. 2018, 11:47 MESZ
LeBron James schläft um die zwölf Stunden pro Tag, was wohl auch zu seinem Erfolg auf ...
LeBron James schläft um die zwölf Stunden pro Tag, was wohl auch zu seinem Erfolg auf dem Basketballplatz beiträgt.
Foto von Larry W. Smith, Pool, Reuters

Das Wort „Übermensch“ und insbesondere sein englisches Pendant „Superhuman“ lässt im Kopf vieler Menschen Bilder von Comichelden entstehen, die in Capes umherfliegen und das Böse bekämpfen. Aber die Menschen, die der Evolutionsbiologe Rowan Hooper in seinem neuen Buch „Superhuman: Life at The Extremes of Mental and Physical Ability“ beschreibt, sind Menschen wie wir.  Na ja, fast. Diese gewöhnlichen Menschen haben außergewöhnliche Dinge vollbracht, ob sie nun trotz furchtbarer Krankheit ihr Glück gefunden haben oder für ihr überragendes Talent beim Basketball bekannt wurden. 

National Geographic sprach in London mit Hooper über sein Buch. Dabei erklärte er, warum eine Frau mit Locked-in-Syndrom ihn mit ihrem Optimismus inspirierte, warum LeBron James so viel schläft und warum Menschen in „Blauen Zonen“ so eine hohe Lebenserwartung haben. 

Für die Recherche zu Ihrem neuen Buch haben Sie mit vielen außergewöhnlichen Menschen Zeit verbracht, von einem Experten für Bombenentschärfung bis zu einer Patientin mit Locked-in-Syndrom. Erzählen Sie uns von diesen Menschen und den Gemeinsamkeiten, die uns verbinden.

Shirley Parsons leidet am Locked-in-Syndrom. Nach einem Schlaganfall war sie vollständig gelähmt, aber ihr Verstand funktioniert. Ich habe zuerst durch ihren Chirurgen von ihr erfahren, weil ihr Charakter, ihre Fröhlichkeit und ihr Optimismus im Angesicht eines furchtbaren Traumas ihn so beeindruckt haben. Ich habe sie über E-Mail-Kontakt ein bisschen kennen gelernt und ein Treffen arrangiert, weil sie in einer Nachricht sagte, dass sie ein glücklicher Mensch sei – sogar glücklicher als vor ihrem Schlaganfall. Das war so etwas Außergewöhnliches, das ich begreifen wollte. Ich wollte herausfinden, wie es möglich war, nach so einer furchtbaren Sache nicht nur glücklich mit seinem Leben zu sein, sondern glücklicher! Also habe ich sie besucht. Ich habe auch mit Psychologen gesprochen, die mit Menschen arbeiten, denen solche Dinge widerfahren sind. 

Wenn man diese Menschen fragt, wie es ihnen geht, hat die Mehrheit ihren Frieden damit gemacht und einen Weg zum Glück gefunden. Es war spannend und ganz entgegen meiner Erwartungen, Menschen zu finden, von denen man denken würde, dass sie aufgrund furchtbarer Umstände nicht glücklich seien – es tatsächlich aber sind. Das war unglaublich spannend, sich damit zu beschäftigen. 

Die Quintessenz ist wohl, dass wir oft das Gefühl haben, nach Glück im kommerziellen Sinne streben zu müssen, indem wir Dinge kaufen, einen besser bezahlten Job finden oder in ein schöneres Haus und eine bessere Gegend ziehen. Wenn man sich die Menschen ansieht, denen das aufgrund ihres Locked-in-Syndroms verwehrt bleibt, versteht man, dass es noch andere, womöglich tiefgreifendere Wege zum Glück gibt. Für mich ist die Quintessenz nach dem Treffen mit diesen Menschen, dass einem nichts derart Traumatisches passieren muss, um Kleinigkeiten zu ändern, die das Leben verbessern können. 

Thomas Jefferson erklärte das „Streben nach Glück“ zu einem Menschenrecht. Aber wie kann man Glück definieren? Ist es materiell, spirituell – oder gar genetisch? 

Es gibt ein ganzes akademisches Feld, in dem Menschen ihre Karriere mit dem Streit darüber verbringen, was Glück ist. Aber wir alle wissen, wann wir glücklich sind. Das ist ein Gefühl. Dabei rede ich vom augenblicklichen Glück, nicht von etwas, das man in die Zukunft projiziert und denkt, man wird glücklich sein, wenn man ein neues Haus oder neues Auto kauft. Es ist ein unmittelbares Gefühl des Glücks. 

Womöglich gibt es eine genetische Komponente bei der emotionalen Grundverfassung der eigenen Persönlichkeit, also der tagtäglichen Zufriedenheit mit dem Leben. Eine neuseeländische Studie hat sich mit einer Genvariante beschäftigt, die mit einem geringeren oder höheren Maß an Depression in Zusammenhang zu stehen scheint, und damit auch mit einem höheren oder geringeren Maß an tagtäglicher Zufriedenheit. 

Bei einer Eigenschaft, die so subjektiv und schwer zu definieren ist wie Glück, ist es schwierig, den Einfluss der Gene zu bestimmen. Dazu wird eine Menge Forschung betrieben, aber noch ist nichts klar. Wir können sagen, dass es bei vielen körperlichen und Verhaltensmerkmalen eine genetische Komponente zu geben scheint. Aber wir können nicht sagen, dass es dafür ein bestimmtes Gen gibt. 

Wenn man über außergewöhnliche Menschen spricht, kommt immer die Frage auf, ob das ihren Genen oder ihrer Umwelt zu verdanken ist – also „nature versus nurture“. Sie mögen diesen Ausdruck nicht besonders, stimmt’s? 

Absolut! Es ist völlig falsch, diese beiden Faktoren gegeneinander auszuspielen. Kein Genetiker würde sagen, dass irgendwas entweder von den Genen oder von der Umwelt bestimmt wird, weil nichts in Isolation funktioniert. Alle Gene, die wir haben, treten in irgendeiner Umwelt in Erscheinung. Es ist nie nur das eine oder das andere: Es sind immer beide Faktoren, die zusammenwirken. 

Die Frage ist also, welcher der beiden wichtiger ist und den anderen entweder überschreiben oder dessen Defizite ausgleichen kann. Im Laufe der Jahre haben manche Menschen die hoffnungsvolle Ansicht vertreten, dass man auch nur mit Umwelt und Erziehung zurechtkommt. Dass man der Beste werden kann, wenn man nur genug übt. Das ist eine wundervolle Vorstellung und ich wünschte, dem wäre so! [Lacht] Aber um der Beste der Welt in irgendwas zu sein und nicht nur wirklich gut, braucht man einen genetischen Vorteil und muss dann zusätzlich noch hart daran arbeiten. 

Es heißt, dass ein Schlüsselfaktor für das außergewöhnliche Talent von Basketball-Star LeBron James ist, dass er jede Nacht elf bis zwölf Stunden schläft. Lässt sich das wissenschaftlich erklären? 

Mittlerweile gibt es eine Menge Forschungsarbeit, die zeigt, wie wichtig Schlaf ist. In den Achtzigern gab es diese ganze Gordon-Gekko-Philosophie nach dem Motto „Schlaf ist für Weicheier“, die sich immer noch hartnäckig hält, besonders bei städtischen Arbeitern und in der Macho-Business-Kultur. Donald Trump prahlt damit, nur wenig zu schlafen. Margaret Thatcher hat damit zwar nicht zwangsweise geprahlt, war aber bekannt dafür, nicht sehr lange zu schlafen. Sie ist aber an Alzheimer gestorben, und es gibt zunehmend Beweise für einen kausalen Zusammenhang zwischen chronischem Schlafmangel und dem Auftreten von Alzheimer im Alter. Es gibt haufenweise Daten, die zeigen, dass sich die Gedächtnisleistung und die kognitiven Fähigkeiten massiv verbessern, wenn man gut geschlafen hat. Darum wird bei Eliteathleten sehr auf Schlaf geachtet und darum schätzt LeBron James ihn auch so sehr.

„Blue Zones“ oder „Blaue Zonen“ ist ein Begriff, den der National Geographic-Autor Dan Buettner etabliert hat. Damit beschreibt er Orte, an denen Menschen außergewöhnlich lange leben. Entführen Sie uns an einen dieser Orte und beschreiben Sie, warum sie einer hohen Lebenserwartung so zuträglich sind. 

Orte in Blauen Zonen sind oft schön und warm. Sie haben ein tolles Klima, ein gutes gemeinschaftliches Support-Netzwerk und es gibt dort viel gesundes Gemüse und Fisch zu essen. Besonders in Okinawa haben Menschen eine der höchsten Lebenswartungen in ganz Japan, und Japaner im Allgemeinen haben die höchste Lebenserwartung der Welt. Viele Menschen in Okinawa zählen also zu den ältesten der Welt. Wir versuchen, diese Faktoren zu replizieren, um zu sehen, ob das auch anderen Menschen zu einem langen Leben verhilft. Das ist auch wieder eine nette Idee, aber Genetiker vermuten mittlerweile, dass noch mehr dahintersteckt. Diese Orte haben zwar all diese Faktoren, die einem langen Leben zuträglich sind, aber man braucht auch gute Gene für Langlebigkeit. Es sieht also so aus, als seien diese Blauen Zonen nicht nur Bereiche mit zuträglichem Klima und guter Ernährungsweise, sondern auch mit guten Genen. Diese Populationen sind relativ geschlossen und haben hohe Konzentrationen von Genen, die mit Langlebigkeit in Verbindung gebracht werden. 

Okinawa in Japan ist eine sogenannte Blaue Zone, in der die Menschen besonders lange leben.
Foto von Robert Harding Picture Library

National Geographic erzählte vor Kurzem die Geschichte einer 21-jährigen Frau, die ein Gesichtstransplantat erhielt. Carmen Tarleton hat Ähnliches durchgemacht. Erzählen Sie uns von ihrer Geschichte und vom Resilience Project. 

Für mein Kapitel über Widerstandsfähigkeit wollte ich Menschen finden, die sich von außergewöhnlichen Traumata erholt haben. Carmen Tarleton war einer der Menschen, denen ich in meinem Buch viel Zeit gewidmet habe, weil sie einen wirklich furchtbaren Angriff ihres Ex-Mannes überlebt hat. Ich will da nicht ins Detail gehen. Aber sie lag im Koma, ein Großteil ihrer Haut und ihres Gesichts waren durch Industrielauge verätzt worden und sie war geschlagen worden. Ihr Chirurg hat mir erzählt, dass es der brutalste Angriff und die schlimmsten Verletzungen waren, die er je bei einem Überlebenden gesehen hat. 

Sie lag drei Monate lang im Koma, aber als sie aufwachte, wusste sie sofort, dass sie etwas Positives aus dem machen musste, was passiert war. Sie hat die Kontrolle über ihr Leben auf außergewöhnliche Weise übernommen, indem sie sich ein Gesicht transplantieren ließ. Ein wunderbares Ergebnis davon ist, dass sie sich mit der Tochter der Frau angefreundet hat, deren Gesicht sie nun trägt. 

Das Resilience Project ist noch etwas anderes. Es sucht nach Menschen, die Gene für eine eigentlich tödliche Krankheit haben, zum Beispiel Mukoviszidose, diese Krankheit aus einem bislang unbekannten Grund aber nicht ausbilden. Wenn man das Gen für Mukoviszidose oder Frühdemenz hat, erkrankt man fast immer daran. Aber es gibt ein paar Menschen, die das Gen für eine schreckliche Krankheit haben, diese aber nicht ausbilden. Das sind faszinierende Menschen, weil sie ein genetisches System haben, das sie irgendwie vor den schlimmen Dingen schützt, die ein schlechtes Gen verursachen könnte. 

Malcolm Gladwell hat den Begriff der 10.000-Stunden-Regel geprägt. Erklären Sie uns das Konzept. Warum macht Übung nicht unbedingt den Meister? 

Malcolm Gladwell berief sich auf die Forschungen des Wissenschaftlers Anders Ericsson, der im Laufe der Jahre viele Arbeiten dazu verfasst hat, dass Übung der Schlüssel zur Expertise ist. Er wäre in der fragwürdigen Debatte um Genetik kontra Umwelt also sehr stark auf der Seite der Umwelt zu verordnen. Malcolm Gladwell hat seine Arbeit mit Hilfe der Vorstellung popularisiert, dass man mit 10.000 Übungsstunden in irgendeiner Sache ein Experte oder Meister werden kann. Das Buch hat sich toll verkauft, weil der Gedanke sehr reizvoll ist, dass jeder von uns ein Experte in irgendwas werden kann, wenn man nur genügend Arbeit hineinsteckt. Leider hat sich herausgestellt, dass Expertise eine große genetische Komponente hat, um die man nicht herumkommt. Meister fallen aber nicht einfach ohne jegliche Übung vom Himmel. Übung ist absolut notwendig, reicht allein aber nicht aus. 

Ein gutes Beispiel ist der Schachgroßmeister Magnus Carlsen, der als bester Schachspieler aller Zeiten gilt. Man würde vermuten, wenn Übung den Meister macht, hätte Carlsen mehr als andere Großmeister in der weltweiten Top 10 der Schachspieler trainiert. Tatsächlich hat er insgesamt aber weniger geübt als andere. Da kommt man sofort darauf, dass es nicht nur an der Übung liegen kann, sondern dass noch etwas anderes eine Rolle spielen muss. Menschen, die sich beruflich mit Schach befassen, sind sehr überzeugt davon, dass es eine große genetische Komponente bei der Intelligenz und der Befähigung zum Schachspiel gibt. 

BELIEBT

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    Magnus Carlsen ist der beste Schachspieler der Welt. Er gehört zu den Menschen, denen einfach die Fähigkeit gegeben scheint, ausgezeichnet Schach zu spielen. Wissenschaftlern zufolge liegt das eher an genetischen Faktoren als an bloßer Übung.
    Foto von Oli Scarff, Getty

    Was ist die wichtigste Lehre aus ihrer Recherche? Können wir alle Übermenschen werden? Oder ist der Rest von uns zur Mittelmäßigkeit verdammt? 

    [Lacht] Die Quintessenz ist, dass wir nicht alle übermenschlich sein können. Ich finde das aber nicht deprimierend, da wir von den Dingen lernen können, die diese Menschen erreicht haben. So können wir weiter vorankommen und ein bisschen glücklicher und ein bisschen besser werden. Das kann man auch schaffen, ohne ein Übermensch zu sein, und so trotzdem im täglichen Leben glücklicher sein. Es war inspirierend, die Geschichten dieser Menschen zu hören. Selbst wenn wir nicht alle Übermenschen sein können, können wir uns trotzdem verbessern. 

    Das Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert. Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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