Krieg zwischen Russland und Ukraine: Die historischen Gründe des Konflikts

Russische Truppen marschieren in der Ukraine ein: Höhepunkt einer jahrhundertelangen Geschichte von Machtdemonstrationen und Gewalt in einem Land, das in sich zerrissen ist.

Von Eve Conant
Veröffentlicht am 24. Feb. 2022, 16:37 MEZ, Aktualisiert am 25. Feb. 2022, 21:29 MEZ
Der Maidan, der Unabhängigkeitsplatz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew

Nachdem die ukrainische Regierung im Jahr 2014 auf Druck Moskaus ein Abkommen zur Stärkung der Beziehungen mit der Europäischen Union aufgegeben hat, versank der Maidan – der Unabhängigkeitsplatz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew – in Gewalt. Die Orientierung der Ukraine Richtung Westen ist Russland nach wie vor ein Dorn im Auge.

Foto von Jeff J. Mitchell, Getty Images

Am 24. Februar 2022 geschieht das, was westliche Mächte mit Gesprächen und den Androhungen von Sanktionen verzweifelt zu verhindern versucht hatten: Der russische Präsident Wladimir Putin ist mit dem Militär in die Ukraine eingefallen – drei Tage nachdem er die Unabhängigkeit der selbsternannten ostukrainischen „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk anerkannt hatte. Dieser Schritt ermöglichte die Anordnung der militärischen Operation zur Unterstützung der pro-russischen Separatistenführer im Donbass.

Die Beziehung zwischen Russland und Ukraine hat eine lange Geschichte – und wie so oft, wenn es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt, hat auch diese aktuelle einen historischen Ursprung.

Das gemeinsame Erbe der beiden Nationen ist über tausend Jahre alt und geht zurück auf eine Zeit, in der Kiew – die heutige Hauptstadt der Ukraine – im Zentrum des ersten slawischen Staats, der Kiewer Rus, lag. Aus diesem auch als Altrussland bekannten historischen Landesteil gingen sowohl die Ukraine als auch Russland hervor. Im Jahr 988 n. Chr. nahm Wladimir I., Fürst von Nowgorod und Großfürst von Kiew, den christlich-orthodoxen Glauben an: Die Taufe des bis zu diesem Zeitpunkt dem Heidentum verschriebenen Herrschers fand auf der Krim in der antiken Stadt Chersones statt. Wladimir Putin bezeichnete dieses Ereignis kürzlich als den Moment, „in dem das russische und das ukrainische Volk eins wurden“.

Dieses Gemälde aus dem 19. Jahrhundert zeigt Wladimir I., Herrscher der Kiewer Rus, der im Jahr 988 n. Chr. das orthodoxe Christentum als neue Staatsreligion einführte.

Foto von Museum of the History of Religion / Bridgeman Images

Dies bewahrte die Ukraine jedoch nicht davor, in den vergangenen zehn Jahrhunderten immer wieder von konkurrierende Mächte geteilt und zersplittert zu werden. Mongolische Krieger fielen im 13. Jahrhundert von Osten in der Kiewer Rus ein. Im 16. Jahrhundert griffen die polnische und litauische Armee von Westen an. Während des Kriegs zwischen dem Ständestaat Polen-Litauen und dem Russischen Kaiserreich im 17. Jahrhundert fielen Gebiete östlich der Dnepr – die sogenannte „linksufrige Ukraine“ – unter russische Herrschaft. Die „rechtsufrige Ukraine“ hingegen wurde von Polen kontrolliert.

Über ein Jahrhundert später, im Jahr 1793, eroberte das Russische Kaiserreich auch das ukrainische Gebiet auf der rechten Uferseite. In der Folge wurde hier im Zuge der sogenannten Russifikation die Lehre der ukrainischen Sprache verboten und die Bevölkerung gezwungen, zum russisch-orthodoxen Glauben zu konvertieren.

Nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 fand sich die Ukraine, wie viele andere Länder, in einem brutalen Bürgerkrieg wieder, bis sie schließlich im Jahr 1922 Teil der Sowjetunion wurde. In den frühen Dreißigerjahren führte Josef Stalin, Diktator der Sowjetunion, eine strategische Hungersnot herbei, die die Bauern der Ukraine in die Kollektivierung der Landwirtschaft zwingen sollte. Millionen von Ukrainern starben den Hungertod. Um die verwaisten Landstriche wieder zu bevölkern, siedelte Stalin Russen und andere sowjetische Bürger in die Ukraine. Die meisten von ihnen hatten weder ukrainische Sprachkenntnisse noch anderweitige Verbindungen zu dem Land.

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    Die Kampagne des sowjetischen Führers Joseph Stalin zur Kollektivierung der Landwirtschaft zog in den Dreißigerjahren eine Hungersnot nach sich, die Millionen von Ukrainern das Leben kostete. Im Anschluss an diese „Holodomor“ genannte Katastrophe – was „Tod durch Hunger“ bedeutet – siedelte Russland Bürger in die Gebiete um, um sie wieder zu bevölkern.

    Foto von Ap

    Menschen in Czernowitz – einer Stadt in der Westukraine – versammeln sich während der „Wiedervereinigungstage“ im November 1939, um einem Redner zuzuhören. Nur wenige Wochen zuvor waren deutsche und sowjetische Truppen in Polen einmarschiert und hatten die Westukraine, die zuvor unter polnischer Kontrolle stand, zu einem Teil der Ukrainischen SSR gemacht.

    Foto von Anatoliy Garanin, Sputnik/AP

    All dies führte zu einem andauernden Bruch zwischen den beiden Seiten der Ukraine. Durch die früher stattgefundene Annexion des Ostens durch Russland ist die Bindung dieses Teils der Ukraine zu Russland weitaus enger als die der westlichen Gebiete. Seine Bevölkerung zeigt eine größere Bereitschaft, die russische Regierung zu unterstützen. Die Westukraine hingegen befand sich über Jahrhunderte unter der Kontrolle von immer wieder wechselnden europäischen Mächten, darunter Polen und Österreich-Ungarn. Sie neigt deswegen dazu, westliche Ideen und Politiker zu unterstützen. Während die Bevölkerung in der Ostukraine vorrangig russischsprachig und orthodox ist, sind die Menschen in der Westukraine größtenteils katholisch und sprechen die ukrainische Landessprache.

    Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 wurde die Ukraine eine unabhängige Nation, die Wiedervereinigung der beiden Landesteile stellte sich jedoch als schwierige Aufgabe heraus. Laut Steven Pifer, ehemaliger US-Botschafter der Ukraine, ist der Grund hierfür unter anderem, dass „das ukrainische Nationalgefühl im Osten bei weitem nicht so ausgeprägt ist wie im Westen“. Der Übergang zur Demokratie sei schmerzhaft und chaotisch gewesen und viele Ukrainer – vor allem in der östlichen Bevölkerung – sehnten sich nach der relativen Stabilität vergangener Tage.

    Spaziergänger in der südukrainischen Hafenstadt Odessa im Jahr 1991, in dem die Ukraine im Zuge der Auflösung der Sowjetunion eine unabhängige Nation wurde.

    Foto von Bertrand Desprez, Agence VU/Redux

    „Die stärkste Spaltung besteht zwischen denen, die das Russische Kaiserreich und die Sowjetunion glorifizieren, und denen, die diese Zeiten als Tragödie ansehen“, sagt Adrian Karatnycky, Ukraine-Experte und ehemaliges Mitglied des Atlantic Council. Die Gräben in der Bevölkerung wurden während der Orangen Revolution im Jahr 2004 besonders deutlich, als Tausende Ukrainer auf die Straße gingen, um für eine stärkere Anbindung an Europa zu demonstrieren.

    Laut Serhii Plokhii, Geschichtsprofessor an der Harvard University und Leiter des Ukrainian Research Institute, ist auch in ökologischer Hinsicht eine Teilung des Landes zu erkennen: Im Süden und Osten der Ukraine gibt es in der sogenannten Steppe fruchtbaren Mutterboden, während die nördlichen und westlichen Regionen eher bewaldet sind. Die Grenzen, in denen die beiden verschiedenen Landschaftsformen liegen, seien erstaunlich deckungsgleich mit den politischen Karten der Ergebnisse der ukrainischen Präsidentschaftswahlen in den Jahren 2004 und 2010.

    Im Jahr 2014 annektierte Russland die Krim, eine Halbinsel in der Südukraine. Kurz darauf kam es zu Unruhen im ostukrainischen Donbass, die in der Gründung der beiden „Volksrepubliken” Luhansk und Donezk gipfelten. Die hier aktiven bewaffneten Separatisten und Volksmilizen wurden und werden im Kampf gegen die Ukraine von russischen Truppen unterstützt. Ein Kampf, aus dem nun ein Krieg geworden ist.

    Blaue und gelbe Vorhänge – die Farben der ukrainischen Flagge – in einem Tanzstudio in Kiew. Die meisten nach 1991 geborenen Ukrainer, die sogenannte „frei geborene Generation“, wollen, dass ihr Land aus dem Schatten Russlands tritt und sich Europa und dem Westen anschließt.

    Foto von Agnieszka Rayss, Redux

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht. Ein Teil davon erschien bereits 2014 im Rahmen der Krim-Krise. Aufgrund der aktuellen Ereignisse wurde er ergänzt.

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