Zeitalter des Menschen: Wien könnte Referenzpunkt für das Anthropozän werden

Leben wir seit den 1950er Jahren bereits in einem neuen geologischen Erdzeitalter? Viele Forschende sagen: Ja. Nun könnte Wien als Ort ausgewählt werden, an dem der Anbruch des Anthropozäns besonders gut zu beobachten ist.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 25. Mai 2022, 13:13 MESZ
Kohlekraftwerke sind nur eine der Erfindungen, mit der der Mensch die Erde nachhaltig verändert hat – ...

Kohlekraftwerke sind nur eine der Erfindungen, mit der der Mensch die Erde nachhaltig verändert hat – bis ins Gestein.

Foto von Benita Welter / Pixabay

Der Mensch hinterlässt Spuren auf der Erde – so einschneidende, dass viele Forschende der Meinung sind: Ein neues Erdzeitalter ist angebrochen. Nach dem bisherigen Stand leben wir gegenwärtig im Holozän, dem Erdzeitalter, das vor etwa 12.000 Jahren nach dem Ende der letzten Kaltzeit begann. Das ist relativ kurz, wenn man bedenkt, dass das dem Holozän vorausgegangene Pleistozän über 2,5 Millionen Jahren andauerte.

Doch nach etwas weniger als 11.700 Jahren soll das Holozän nun bereits vorbei sein. Abgelöst werden könnte es durch das Anthropozän: das Zeitalter des Menschen. Der Begriff wurde von Paul J. Crutzen geprägt, der ihn im Jahr 2000 erstmals bei einer Konferenz in Cuernavaca, Mexiko nutzte. Mittlerweile hat diese Idee viel Anklang gefunden. Seit 2009 gibt es eine Arbeitsgruppe – die Anthropocene Working Group (AWG) – der Internationalen Stratigraphischen Kommission (ICS), die sich für die Etablierung des Anthropozäns als Erdzeitalter einsetzt.

Wie das Fachmagazin Science berichtete, wird von der AWG nun ein Ort gesucht, an dem die Veränderungen, die der Mensch auf der Erde bereits bewirkt hat, besonders gut im Gestein abzulesen sind. Ein vielversprechender Kandidat: der Wiener Stadtboden.

Baustelle am Wien Museum: Während der Umbauarbeiten des Museums wurde der Bohrkern entnommen, der den Wiener Stadtboden als Referenzpunkt für das neue Erdzeitalter repräsentieren soll.

Foto von Kollektiv Fischka

Geologie bestimmt Anbruch neuer Zeitalter

Mithilfe der Stratigraphie – einer geologischen Teildisziplin, bei der Veränderungen in den Sedimentschichten der Erde zur Datierung genutzt werden – wird eine Einteilung der Erdgeschichte in geologische Zeitalter vorgenommen. Um ein neues Zeitalter allerdings klar definieren zu können, braucht man in der Geologie einen Referenzpunkt – einen sogenannten ‚golden spike‘, an dem sich die Veränderung der Gesteinsschichten besonders deutlich ablesen lassen.

So auch beim Anthropozän. „Ein wichtiges Kriterium für die Definition dieser neuen geologischen Epoche ist das Vorhandensein einer globalen anthropogenen Signatur, die in den geologischen Aufzeichnungen erhalten geblieben ist und permanente Veränderungen im Erdsystem darstellt oder mit ihnen einhergeht“, schreibt das Team um Geobiologe Chris S.M. Turney von der University of New South Wales in Sydney im Fachmagazin Nature

Aktuell wird dafür plädiert, den Beginn des Anthropozäns in den 1950ern zu verorten. Denn: Laut den Forschenden kann man seit dieser Zeit den Einfluss des Menschen besonders deutlich in den Gesteinsschichten ablesen – darunter Überreste von Atomtests, Aschepartikel aus Industrieemissionen, Mikroplastik sowie Störungen der Kohlenstoff- und Stickstoffchemie durch Treibhausgasemissionen und städtischen Smog. „Die Marker resultieren aus der großen Beschleunigung des Bevölkerungswachstums, der Industrialisierung und der Globalisierung“, schreibt die AWG.

Ein solcher ‚golden spike‘, der genau diese durch den Menschen verursachten Veränderungen nachweisen kann, soll nun nach einem Treffen der AWG in Berlin im Mai 2022 gefunden werden.

BELIEBT

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    Shortlist für den ‚golden spike‘

    Unter den 12 Kandidaten für den ‚golden spike‘ des Anthropozän befindet sich beispielsweise der Crawford Lake in Ontario, Kanada. In dessen Schlammkern könne man vor allem den sprunghaften Anstieg des von der örtlichen Industrie verursachten Rußes seit den 1950er Jahren nachvollziehen. Weitere Kandidaten sind das Sniezka-Moor in Polen oder der Palmer-Bohrkern der Antarktischen Halbinsel. 

    Und: der Wiener Stadtboden. Der Geologe Michael Wagreich vom Vienna Anthropocene Network, der auch der AWG angehört, stellte bei der Konferenz in Berlin Proben des Stadtbodens vor, die von einer Baustelle des Umbaus des Wien Museums am Karlsplatz stammen. Entnommen wurden die Problem gemeinsam mit Stadtarchäologen. Laut Wagreich zeigen sie besonders das schnelle Anwachsen der menschengemachten Ablagerungen innerhalb einer Großstadt. 

    Für welchen Referenzpunkt sich letztendlich entschieden wird, ist noch unklar. Der Krönung des ‚golden spike‘ sollen mehrmonatige Beratungen vorausgehen.

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