Hilfe für Geflüchtete: ein Fahrrad für die Selbstbestimmung

Ein Verein unterstützt in Köln und Berlin Menschen, die sich kein Fahrrad leisten können, dabei mobil zu werden und Anschluss zu finden.

Von Marius Rautenberg
Veröffentlicht am 19. Sept. 2022, 13:25 MESZ
Bei einem Angebot für geflüchtete Frauen lernten diese nicht nur den Umgang mit Rädern, sondern teils ...

Bei einem Angebot für geflüchtete Frauen lernten diese nicht nur den Umgang mit Rädern, sondern teils auch das Fahrradfahren.

Foto von Faradgang e.V.

Über die Tücken von Fahrrädern für internationale Nutzer weiß der ehrenamtliche Fahrradmechaniker Luitwin Fritz Bescheid: „Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen es Rücktrittbremsen gibt. Das kann manche Leute heillos überfordern.“ Als Teil der sogenannten Faradgang schraubt er in Köln gemeinsam mit Bedürftigen gebrauchte und beschädigten Fahrräder zusammen und macht sie wieder verkehrstauglich. Für zehn Euro können seine Gäste ein eigenes Rad bekommen, inklusive Licht und Schloss – nur die Rücktrittbremse muss dann schon mal raus.

​Mobilität bedeutet Freiheit, Selbstbestimmung, Lebensqualität

90 Prozent der Besucher der Faradgang seien Geflüchtete, berichtet Du Pham. Sie initiierte 2014 mit Freunden das Projekt als Hilfsangebot in einer Erstaufnahmeeinrichtung. Die meisten von ihnen wussten damals noch nicht viel von Fahrradreparaturen, doch der Bedarf nach geeigneten Fortbewegungsmitteln unter den Migranten war riesig. Ein Jahr später zogen sie als Verein Faradgang e.V. in einen Nachbarschaftsgarten im Kölner Stadtteil Bayenthal, wo sie seitdem eine Container-Werkstatt unterhalten. Einen Ableger hat das Projekt in Berlin-Neukölln.

Die ehrenamtlichen Schrauber bekommen meist alte und beschädigte Räder, manchmal auch Ersatzteile aus der Nachbarschaft, von Hausverwaltungen oder Fahrradläden. Kompliziertere Defekte beheben die Helfer selbst, aber Standardreparaturen erledigen sie gemeinsam mit den Gästen. Der Verein will keine Ausgabestelle sein, wo man sich einfach ein Fahrrad abholt. Er versteht sich als soziales Projekt, in dem Bedürftige neben einem Rad auch grundlegende Kenntnisse der Fahrradreparatur erhalten und sozialen Anschluss finden.

Vor allem neu angekommene Geflüchtete können hier unkompliziert Leute kennenlernen. Trotzdem gebe es immer wieder Hemmnisse wie Sprachbarrieren und soziale Phobien in ungewohnten Situationen: „Für viele Jugendliche ist es eine große Hürde, zu uns zu kommen, daher ist häufig zuerst ein Betreuer dabei. Wenn sie diesen Schritt getan haben, sind sie anschließend oft euphorisiert“, meint Fritz. Viele neu angekommene Geflüchtete seien erst mal überrascht, wie viele Menschen mit Fahrrädern in Köln unterwegs sind.

Das Projekt der Faradgang e.V. befindet sich auf dem Gelände der Nachbarschaftsgärten von NeuLand. Einen Ableger hat es in Berlin-Neukölln.

Foto von Julia Caro-Valenzuela

Ein „Mikrokosmos“ der globalen Migrationsbewegungen

Dabei ist die Stadt am Rhein keineswegs besonders fahrradfreundlich. Im Ranking des ADFC zum Fahrradklima erhielt sie im Jahr 2020 nur die Note 4,37, den schlechtesten Wert aller deutschen Großstädte. In den Herkunftsländern der Migranten sei die Situation aber nicht unbedingt besser: „Menschen aus der Ukraine haben erzählt, dass dort kaum Fahrrad gefahren wird, es gibt keine Fahrradinfrastruktur. Das Rad ist etwas für kleine Kinder, sonst nutzt man Bus, Sammeltaxi oder Auto“, berichtet Fritz. Doch jetzt im Krieg herrsche gerade an der polnischen Grenze ständig Stau. Ohne Rad gibt es kein Fortkommen. Daher sollen Räder der Faradgang auch als Spende in die Ukraine gehen.

Pham erzählt von einem Angebot, das sich an bedürftige Frauen richtete: „Sie sehen hier andere Frauen, teils mit Kindern auf dem Gepäckträger oder unterwegs mit den Einkäufen in Lastenrädern. Sie haben mir erzählt, wie sie schon als Mädchen davon träumten, Fahrrad zu fahren.“ Schließlich lernten sie beim Projekt Schrauben und Radfahren. Über die Jahre hinweg konnten Pham und Fritz die globalen Migrationsbewegungen „wie in einem Mikrokosmos“ nachverfolgen. Lange machten Menschen aus Afghanistan und Syrien einen großen Teil der Besucher aus, dann Menschen aus Westafrika und der Türkei, in letzter Zeit verstärkt aus der Ukraine. Deren Situation ist ohnehin schwierig genug – mit den Fahrrädern will die Faradgang ihnen wieder ein Stück Lebensqualität zurückgeben.

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Foto von National Geographic

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