Historische Nahrungsforschung: War der Veggie-Burger schon immer die bessere Wahl? 

Bereits vor 2000 Jahren lebte ein Großteil der Welt erfolgreich fleischfrei. Unser Autor hat fleischfreie Nuggets, Burger und Wurst probiert und fragt sich, warum Fleisch für uns so bedeutsam wurde.

Von Mark Wilson
Veröffentlicht am 10. Nov. 2022, 11:15 MEZ
Vegane Burger als Alternative zum Fleisch

Bringt eine veganer Burger den gleichen Genuss wie Fleisch? Für viele Konsumenten liegt darin das entscheidende Kriterium beim Kauf. Für unsere Vorfahren steckte dagegen der wahre Geschmack in hauptsächlich vegetarischen Speisen.

Foto von Rolande PG/ unsplash.com

Die Portobello-Pilze brutzeln in der Pfanne. Lauch, Zwiebeln und Karotten kommen als Nächstes hinein, zusammen mit einer Flasche Cabernet. Nach stundenlangem Schmoren ist der Sud zu Sirup reduziert, den ich immer wieder über die Pilze löffle, bis sie glasiert sind wie lilafarbene Donuts. In Rotwein geschmorte Querrippe war mein Lieblingsfleischgericht. Also traute ich mich, das Rezept für mein erstes veganes Thanksgiving-Dinner mit Portobello-Pilzen zu adaptieren.

Aber als ich die Riesenchampignons auf die Teller meiner Gäste legte, merkte ich gleich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Die Pilze hatten die unansehnliche Farbe von Innereien angenommen. Sie schmeckten nicht schlecht, aber eben nur wie Portobellos. Der Tag ist mir in Erinnerung als das Thanksgiving, an dem meine Gäste stumm blieben. Dabei wollte ich Gemüse nie verherrlichen. Mit Vergnügen aß ich alles vom Tier, bis mein hoher Cholesterinspiegel mich zwang, mich überwiegend pflanzlich zu ernähren. Und ich hätte mir an jenem Thanksgiving sicher nicht vorstellen können, dass ich ein Jahrzehnt später einer der führenden Journalisten in Sachen pflanzliche Proteine sein würde.

Fleisch ist für Amerikaner etwas Bedeutendes

Unmöglich. Unglaublich. Umwerfend. Sensationell. Fleischalternativen, die mit diesen und anderen Superlativen beworben werden, sind ein milliardenschwerer Markt, der bis 2030 noch um das Zwanzigfache wachsen könnte. Und doch lautet meine einzige Frage bei jedem neuen Produkt: Wie schmeckt es denn nun? Schmeckt es ... nach Fleisch? Ziemlich oft tut es das. Diese neuen Lebensmittel imitieren das Kaugefühl und den Umami-Geschmack von Fleisch und sogar dessen blutige Farbe. Nirgendwo wird das so deutlich wie im Labor von Beyond Meat in Los Angeles. Dort legt das Unternehmen Rind- und Hühnerfleisch unter das Mikroskop, um zu verstehen, wie Proteine und Fette miteinander verwoben sind. Dann nutzt es alle modernen Techniken der industriellen Produktion – Erhitzen, Kühlen und das Extrusionsverfahren, mit dem Erdnussflips hergestellt werden. So werden Erbsenprotein, Kokosöl und andere nicht tierische Zutaten in Fleischimitate verwandelt.

Fleisch ist für Amerikaner etwas Bedeutendes, gerade weil es so alltäglich ist. In den USA essen wir heute mehr Fleisch als je zuvor: insgesamt 120 Kilo Rind-, Kalb-, Schweine- und Hühnerfleisch pro Person und Jahr. Und obwohl wir unsere Lust auf Rindfleisch in den letzten 40 Jahren gezügelt haben, haben wir den Rückgang durch Geflügel mehr als kompensiert. Damit ich trotz meines hohen Cholesterinspiegels ohne Medikamente auskomme, bin ich vor acht Jahren auf eine zu 85 Prozent pflanzliche Ernährung umgestiegen. Das funktioniert so weit gut.

Aber je weniger Fleisch ich konsumierte, desto deutlicher wurde mir, wie sehr Fleisch unsere Ernährung dominiert und sich mit allgegenwärtiger Werbung in unser Bewusstsein einbrennt – wie die Streifen auf einem Steak vom Holzkohlegrill. Ein Hamburger kann nicht nachhaltig sein, wenn die Produktion von Fleisch, Salat, Tomate und Brötchen 2500 Liter Wasser verbraucht. Und doch haben wir uns an diesen mit zig Milliarden Dollar subventionierten Luxus gewöhnt, die in den letzten zehn Jahren in den USA jährlich an die Fleisch- und Milchindustrie gingen. Für Obst und Gemüse gab es nur einen Bruchteil der Summe.

Den meisten Menschen sind die wahren ethischen, ökologischen oder ernährungsphysiologischen Kosten von Fleisch völlig egal, sagte mir ein Geschäftsführer der Sandwich-Kette Arby’s im Jahr 2019. Er schwor auch, dass sein Unternehmen niemals pflanzliche Fleischalternativen verkaufen würde, denn, sagte er, „die Leute werden nicht mehr bezahlen für etwas, das schlechter schmeckt“.

Auf der Suche nach dem besten Fleischersatz

Jahre vor diesem Gespräch, als ich meine größtenteils vegane Ernährung begann, machte ich mich auf die Suche nach dem besten Fleischersatz, den Amerikas Köche zu bieten hatten. Ich probierte vegetarisches Pulled Pork aus der Jackfruit auf selbst gemachten Tortillas im „Gracias Madre“ in San Francisco, im „Chicago Diner“ ein Reuben Sandwich aus mit Rüben gefärbtem Seitan und im veganen BurgerRestaurant „Superiority Burger“ in New York City den namensgebenden Burger aus einer Mischung von Quinoa, Kichererbsen, Walnüssen und Gemüse. Alle waren köstlich. Aber erkennbar kein Fleisch.

Also wandte ich mich der Industrie zu, die in den letzten zehn Jahren mit ihren Maschinen explosionsartig pflanzliche Alternativen hervorgebracht hat. Ich habe Dutzende von Fleischersatzprodukten probiert: Burger, Speck, Chorizo, Salsiccia, Hackbällchen, Hähnchensticks, Chicken Nuggets oder Bratwurst. Nachdem ich so ziemlich alle Produkte auf dem Markt probiert habe, kann ich sagen, dass jedes einzelne seine Besonderheiten hat. Ich wünschte, ich könnte ihre Eigenschaften neu kombinieren, um eine Art pflanzenbasiertes Superfleisch zu schaffen, das alle anderen übertrifft.

Den größten Schock erlebte ich kürzlich bei einer Hähnchenbrust aus Myzel, dem unterirdischen Wurzelgeflecht eines Pilzes. Sie sah aus wie ein riesiges paniertes Gitarrenplektrum, war aber geschmacklich so wenig von einer panierten Hühnerbrust zu unterscheiden, dass ich mich fragte, warum wir überhaupt noch Hühner züchten. Doch leider hat kein Unternehmen die Weisheit ganz für sich gepachtet. Als ich ein Steak desselben Herstellers probierte, auch aus Myzel hergestellt, hatte es die Textur eines gut abgehangenen Filets, roch aber wie ein U-BahnWaggon im Hochsommer.

Ich begegne der Pflanzenersatzfleisch-Industrie in etwa wie dem Footballteam der Chicago Bears: mit Bewunderung und Skepsis – und häufig mit Enttäuschung. Doch wenn wir ehrlich sind, hat ein Großteil der Welt die Abhängigkeit vom Fleisch schon vor Jahrtausenden überwunden.

Tofu wird zu Fleisch: Kolonialisierung der globalen Ernährung

Ich beziehe mich dabei nicht nur auf den ursprünglichen pflanzlichen Fleischersatz: Tofu, von dem man annimmt, dass er zur Zeit der Han-Dynastie um 150 v. Chr. erfunden wurde, oder Seitan, der vermutlich in derselben Region sogar noch früher erstmals auf dem Speisezettel stand. In Mexiko vereinen Maistortillas und Bohnen alle essenziellen Aminosäuren. In Südamerika sind es Bohnen und Reis, in Äthiopien Linsen und die alte Getreideart Teff. Und in Indien fermentieren gemahlener Reis und Urdbohnen, Verwandte der Mungobohnen, zu einem Teig, aus dem gedämpfte Idli-Kuchen und knusprige Dosa-Pfannkuchen hergestellt werden.

Es ist schwer vorstellbar, was für Opfer uns dieses unglaubliche Wissen gekostet hat. Wie viele giftige Dinge haben unsere Vorfahren wohl gegessen, bevor sie gelernt haben, dass es eine gute Idee ist, Reis zu kultivieren? Wie viele Generationen waren unterernährt, bis man feststellte, dass eine Familie, die stärker und gesünder war als andere Familien, immer bestimmte Pflanzenkombinationen zu sich nahm? Die erste Aminosäure wurde 1805 im Spargel entdeckt, die letzte erst 120 oder 130 Jahre später. Als die Wissenschaft die 20 Aminosäuren identifiziert hatte, die wir zum Aufbau von Proteinen benötigen, hatten verschiedene Kulturen sie bereits seit Jahrtausenden in ihre Ernährung integriert.

Vor diesem historischen Hintergrund sehe ich pflanzliches Fleisch heute anders. Erbsenprotein in den beliebten Veggie-Burgern wird nicht aus frischen grünen Erbsen hergestellt, sondern aus einer Zutat, die viele Amerikaner in der Supermarktabteilung für exotische Lebensmittel ignorieren: die gelben Spalterbsen, die zu Dal verkocht werden. Dabei ist die innovative Kombination von Erbsenprotein und Reis in einem Pflanzen-Burger weder besonders neu noch einzigartig. Vielmehr zeigt der Westen hier, was er am besten kann: Wir haben eine Tradition umfunktioniert und mit einem neuen Logo versehen.

Die Umbenennung dieser Grundnahrungsmittel als „Fleisch“ ist mehr als ein großes Geschäft; es ist die Kolonialisierung der globalen Ernährung. Wir amerikanisieren und privatisieren genau die Komponenten, die hinter einer historisch gewachsenen fleischlosen Tradition stehen, die unzählige Generationen anderswo in der Welt erfolgreich und zufriedenstellend ernährt hat.

Und dennoch, wenn ich in meinem Garten stehe, mit einer Flasche Light-Bier in der Hand und einem veganen Burger von Impossible Foods auf dem Grill, empfinde ich eine gewisse Befriedigung. Ich akzeptiere mein Schicksal als amerikanischer Vorstädter und entledige mich gleichzeitig der Schuld am Treibhauseffekt, an Tierquälerei und an dem Schaden, den ich meinem eigenen Herzen zufüge. Dieses blutige Patty ist Verlangen. Dieses blutige Patty ist Patriotismus. Dieses blutige Patty ist eine Marke. Für mich ist es Fleisch.

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Foto von National Geographic

Dieser Artikel erschien in voller Länge im National Geographic Magazin 11/22. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!

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