Der lange Schatten des Krieges: Können die Narben des Kosovos heilen?

Für eine lebenswerte Zukunft: Der Kosovo bemüht sich um die Anerkennung als unabhängiges Land und versucht, die Konflikte mit dem Nachbarland Serbien beizulegen.

Von Robert Draper
Veröffentlicht am 19. Mai 2023, 15:32 MESZ
Blick über Prizren

Am 25. März 1999 besetzten schwerbewaffnete jugoslawische Truppen die Stadt Prizren. Die meisten physischen Spuren des Krieges wurden beseitigt, aber die Erinnnerungen bleiben. Foto: Blick auf die Stadt mit der Sinan-Pascha-Moschee.

Foto von Justyna Mielnikiewicz

Im Kosovo hat jeder eine Geschichte, die eigentlich zu schmerzhaft ist, um sie zu erzählen. Aber hier sind die Menschen, sie leben und wollen berichten, sie verlangen, dass die Welt zuhört. Deshalb gehe ich im Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Pristina in das Büro der 36-jährigen Saranda Bogujevci: Das warme Lächeln und der feste Händedruck der stellvertretenden Sprecherin der Nationalversammlung können nicht von den tiefen, bleichen Narben am Unterarm oberhalb ihrer entstellten linken Hand ablenken. Bogujevci scheut sich nicht, über die Wunden zu sprechen: Sie war dreizehn, als am 28. März 1999 serbische paramilitärische Einheiten in die Stadt Podujevë einfielen. 

Die Soldaten trieben die 21 Bogujevcis in einen Garten, stellten sie vor eine Mauer und eröffneten das Feuer. Dann zogen sie wieder ab. Zurück blieb ein Haufen lebloser Körper, darunter ein zweijähriger Junge, die Matriarchin der Familie sowie Nora, Sarandas Cousine und ihre beste Freundin. Fünf der 21 Opfer atmeten noch, darunter Saranda, die wie auch immer 16 Schusswunden überlebte. Bogujevci erzählt, sie und Nora hätten die gleichen Stiefel getragen. Sie besitzt die ihren immer noch. „Mit der Zeit habe ich gelernt, dass Erinnerungen wirklich wichtig sind, dass ich sie aufheben, sie in Ehren halten und bewahren muss“, sagt die junge Frau. Ohne diese glücklichen Erinnerungen gäbe es im Rückblick nur Zerstörung. Bevor sie getötet wurde, war Nora bester Laune gewesen, hatte sich auf ihren bevorstehenden 15. Geburtstag in einem befreiten Kosovo gefreut. 

Geschichte: Aufstand im Kosovo und NATO-Intervention

Vier Tage zuvor hatte die NATO die ersten Luftangriffe geflogen – Höhepunkt eines blutigen Konflikts zwischen den Kosovo-Albanern, zu denen die Familie Bogujevci gehört, und Serbien. Der Kosovo war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Provinz Serbiens in Jugoslawien. 1989 begann die serbische Regierung, den Druck auf ethnische Albaner zu erhöhen. Staatsbedienstete wie Bogujevcis Vater, ein Elektroingenieur, wurden entlassen, und Kinder wie Saranda besuchten keine Schule mehr, nachdem der serbische Staat das autonome Bildungssystem des Kosovo abgeschafft hatte. Die Kosovo-Albaner wehrten sich, zunächst friedlich, schließlich mit einem bewaffneten Aufstand. Im Sommer 1998 zwangen die serbischen Behörden Hunderttausende Albaner dazu, ihre Heimat zu verlassen. 

Nach dem Eingreifen der NATO wurden die ethnischen Säuberungsaktionen verschärft, Tausende Zivilisten wurden getötet, unzählige Menschen verscharrte man in Massengräbern. Bogujevci erzählt von einer Gruppe Frauen, die sie beim Besuch der Grabstätte ihrer Familie in Podujevë getroffen hat. Die zum Teil recht jungen Frauen berichteten, ihre Angehörigen seien von serbischen Behörden festgenommen worden und danach nie wieder aufgetaucht. Sie treffen sich hier, weil sie keine eigenen Gedenkstätten haben. Und wie viele andere Familien hoffen sie, dass die Gräber von mehr als 1600 Vermissten doch irgendwann gefunden werden. 

Ruf nach Aufklärung und Unabhängigkeit

Heute ist die stellvertretende Sprecherin des kosovarischen Parlaments an der schwierigen Aufgabe beteiligt, ein Land zu lenken, das eineinhalb Jahrzehnte nach Erklärung der Unabhängigkeit von Serbien im Jahr 2008 noch immer mit wirtschaftlichen, kulturellen und geopolitischen Herausforderungen kämpft. Gefordert wird die Aufklärung der unzähligen Kriegsverbrechen der serbischen Streitkräfte Zudem will das junge Land von der Welt als unabhängiger Staat anerkannt werden. Von den 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen erkennen inzwischen mehr als hundert offiziell die Republik Kosovo an. Zu denen, die dies nicht tun, zählen Serbien, Russland, Spanien, Griechenland, Mexiko, Argentinien, Südafrika und China. Außerdem fordert der Kosovo die volle Kontrolle über das eigene Staatsgebiet. Und der Kosovo wünscht sich ein besseres Bildungssystem sowie mehr Beschäftigungsmöglichkeiten im Land. 

Dabei glaubt man im Kosovo, diese Aufgaben erst dann bewältigen zu können, wenn die Dämonen der Vergangenheit ausgetrieben sind. Vjosa Osmani, die 40-jährige Präsidentin der Republik Kosovo, sagt bei einem Treffen: „Seit 20 Jahren erwartet die internationale Gemeinschaft, dass der Kosovo den Schmerz einfach schluckt, nicht über die Vergangenheit spricht, die Verbrechen, die man an uns begangen hat, nicht mehr erwähnt.“ Osmani fährt fort: „Sie haben uns eine bessere und hellere Zukunft versprochen – vorausgesetzt, wir schauen nur nach vorn und fordern keine Gerechtigkeit für das, was unserem Volk angetan wurde. Aber wenn man die Wahrheit über die Geschichte des eigenen Landes nicht erzählt, dann wird jemand anderes die Wahrheit verdrehen. Jemand wird die Geschichte für seine eigenen Zwecke umschreiben.“ 

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Foto von National Geographic

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