Chinas uralte Tradition: Verlorene Handwerkskünste und atemberaubende Landschaften in Yunnan

Nach mehr als bisher 19000 Wanderkilometern um die Erde erlebt unser Reporter ein China, wie es vor der Zeit der Megacitys und Handyfabriken war.

Von Paul Salopek
Veröffentlicht am 21. Juli 2023, 14:53 MESZ
Kunsthandwerker im Dorf Yangcen

Auf seiner Wanderung in Yunnan begegnete Salopek Menschen mit handwerklichen Fähigkeiten, die in vergangenen Zeiten wurzeln. Darunter waren Gewürzmüller, Bienenzüchter, Handweber und Steinmetze oder dieser Kunsthandwerker im Dorf Yangcen.

Foto von Zhou Na; Gilles Sabrié

Die vergangenen zehn Jahre meines Lebens habe ich damit verbracht, zu Fuß um die Welt zu laufen. Ich werde gefragt: „Wie sehen die großen Probleme unserer Zeit aus – vom Boden aus betrachtet?“ Oder: „Hat das Laufen etwas daran verändert, wie du aktuelle Ereignisse bewertest?“ Einfacher gefragt, oft von Schulkindern: „Irgendwelche Überraschungen?“ Über manche Fragen muss ich nicht lange nachdenken: Die Antworten spüre ich seit 25 Millionen Schritten (oder mehr als 19000 Kilometern) in meinen Knochen wie die stetigen Schläge eines Metronoms. Ich kann zum Beispiel bestätigen, dass Homo sapiens die Ökologie unseres Planeten in einem derart radikalen Maß verändert hat, dass wir unter Massenschlaflosigkeit leiden müssten – nicht nur unter schlechtem Gewissen, sondern regelrechter Angst. So kann ich denkwürdige Begegnungen mit wilden Tieren in den über 3500 Tagen und Nächten, die ich von Afrika nach Ostasien unterwegs war, an Fingern und Zehen abzählen.

Das Verschwinden der Wildnis

Das folgenschwerste Unrecht, das ich in allen menschlichen Kulturen aus der Nähe erlebt habe? Ganz einfach: die Fesseln, die Männer dem Potenzial der Frauen anlegen. Grausam, willkürlich. Wer ist immer unterbezahlt? Wer ist in der Regel schlechter ausgebildet? Wer wacht als Erste morgens auf und fängt an zu schuften? Wer begibt sich als Letzte zur Ruhe? Unterdessen wird jede Plauderei am Wegesrand, ob mit alten kasachischen Bäuerinnen oder bewaffneten kurdischen Guerillas, von Klimasorgen überschattet. Aber es gibt noch eine unerwartete, vielleicht nicht weniger schmerzliche Entwicklung, auf die ich während meiner langsamen Erzählreise gestoßen bin – meines „Out of Eden Walk“, mit dem ich erzählend den Weg nachvollziehe, auf dem sich unsere Steinzeitvorfahren einst vom afrikanischen Kontinent aus über die ganze Welt verstreut haben: Es ist – nach Tausenden Jahren der Kontinuität – die Auslöschung von Landschaften, die die Menschen mit der Kraft ihrer eigenen Muskeln geformt hatten.

Damit meine ich das allmähliche Verschwinden jener Winkel der bewohnten Erde, die noch nicht den Bedürfnissen unserer Maschinen unterworfen – oder von ihnen verwandelt – wurden. Nennen wir sie die handgemachte Welt. Diese archaische menschliche Geografie ist paradoxerweise von Nahem oft so subtil, dass ich ihr Vorhandensein erst richtig wahrnahm, als ich ihre Abwesenheit registrierte. Als klar umrissener Raum tauchte sie in meinem Bewusstsein erst auf, als ich in die am krassesten hyperindustrialisierte Gesellschaft der Erde hineinwanderte, die 18. Nation auf meiner Strecke, die sogenannte Fabrik der Welt: China.

Ich hatte nie zuvor chinesischen Boden betreten. Im Kopf hatte ich ein klischeehaftes Potpourri aus hyperaktiven Riesenstädten, superpünktlichen Hochgeschwindigkeitszügen, grell beleuchteten Einkaufszentren und Roboterhäfen: eine unermüdliche, maschinengetriebene Gesellschaft, voll und ganz der Aufgabe verschrieben, den Mammutappetit der Menschen nach Handys, Plastikspielzeug, Solarpaneelen, Kleidung und anderen Artikeln der industriellen Massenproduktion zu stillen. Vieles von diesem Betonbienenstock-Stereotyp ist berechtigt. Die Natur und die Menschen in ihrer Nähe waren in Chinas Boomjahren die Verlierer.

Dorfbewohner aus der Ethnie der Bai aus Shilong bereiten einen riesigen Turm vor. Sie werden ihn beim Fackelfest abbrennen, einer traditionellen Feier zur Erntezeit.

 



 

Foto von Zhou Na; Gilles Sabrié

China: Kleine Inseln der Tradition

Als ich im Oktober 2021 in der südwestlichen Provinz Yunnan meinen Rucksack geschultert und mich an der Grenze zu Myanmar nach Norden gewandt hatte, um 5950 Kilometer des Reichs der Mitte Richtung Russland abzulaufen, verschlug es mir daher regelrecht den Atem, als ich durch Panoramen wanderte, die mittelalterlichen chinesischen Schriftrollen entnommen schienen: Gemälde landwirtschaftlich genutzter Täler und Steilhänge, wo der Körper der wesentliche Maßstab der menschlichen Fantasie war. „Du gehst im absolut besten Teil von China los“, hatte eine Bergsteiger-Freundin aus der Megacity Chengdu begeistert gesagt, als sie hörte, dass meine Startlinie die schroffe Westhälfte von Yunnan war. „Danach wird es langweilig.“

Sie stellte sich die wilden, vereisten Gipfel des östlichen Himalaya vor. Doch was mich im Grenzland Yunnans am meisten faszinierte, war nicht die erhabene Wildnis, sondern eher das Gegenteil: eine seltene Übereinkunft zwischen Menschen und Landschaft, die fast vergessene Möglichkeit, dass Mensch und Natur auf kompaktem Raum annähernd harmonisch zusammenleben. Wie Notenlinien zogen sich schmale Straßen durch die Szenerie. Steinerne Brunnen. Apfelgärten. Blaue Berge. Jeder Schritt unwahrscheinlich vertraut – als beträte ich die älteste menschliche Heimat, die sich überhaupt denken ließ.

BELIEBT

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    Foto von National Geographic

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