Unter der Kuppel: Die Faszination des Felsendoms
Der Felsendom ist ein architektonisches Meisterwerk und die drittheiligste Stätte des Islam. Wissenschaftler erhielten einzigartigen Zugang, um seine Geheimnisse zu enthüllen.
Der Felsendom auf dem Tempelberg oder Haram al-Scharif in Jerusalem ist ein Ort der Andacht und des Protests. Umfangreiche Restaurierungen und archäologische Forschung lieferten neue Hinweise auf den Ursprung des Schreins.
„Jedem Betrachter verschlägt es die Sprache, wenn er versucht, ihn zu beschreiben“, staunte der unermüdliche Reisende und Schriftsteller Ibn Battuta, als er 1326 Jerusalem besuchte. "Das ist eines der großartigsten Bauwerke, absolut perfekt in Architektur und von außergewöhnlicher Gestalt."
Seit mehr als 1300 Jahren ist der Felsendom das Kronjuwel jenes weitläufigen Bezirks in Jerusalem, den Juden und Christen Tempelberg nennen und Muslime Haram al-Scharif, Edles Heiligtum. Als das älteste islamische Bauwerk hat dieser Schrein über einem freiliegenden Fels für Muslime dieselbe spirituelle Bedeutung wie die benachbarte Grabeskirche für Christen. Schlichte Geometrie, geschmückt mit kostbaren Materialien, verleiht ihm eine zeitlose Faszination.
Marmor und Mosaike: Die Architektur des Felsendoms
An einem kühlen Wintermorgen füllt sich der Schrein allmählich mit Frauen in Hijab und langen Mänteln. Sie sitzen allein in Gedanken versunken oder in kleinen Gruppen den Koran studierend. Während Männer zur wesentlich größeren, etwa 100 Meter südlich gelegenen Al-Aqsa-Moschee strömen, gehört dieser stille Bereich weitgehend den muslimischen Frauen und Kindern. Sireen Karim, eine Kindergärtnerin mittleren Alters, zeigt auf den Fels im Zentrum des Bauwerks. "Hier ist Mohammed, Friede sei mit ihm, zum Himmel aufgefahren, um alle Propheten zu sehen. Er kehrte mit der Botschaft zurück, man solle fünfmal am Tag beten", sagt sie. "Auch seine Traurigkeit wurde geheilt. Und wir kommen hierher, um unseren Kummer zu heilen und unsere sorgenbeladene Seele zu entlasten."
Die grobe Oberfläche des als heilig verehrten Kalksteinfelsens kontrastiert mit der Pracht des umgebenden Raums. In zwei konzentrischen Kreisen wird der Fels von Marmorsäulen und porphyrgeschmückten Pfeilern umgeben. Diese Stützen tragen eine Kuppel, die mit atemberaubenden Mustern geschmückt ist. Fließende arabische Inschriften an den Wänden sowie eine der größten Ansammlungen mittelalterlicher Mosaike finden sich hier. Von unten gesehen, verwandeln sich die winzigen Pixel aus Glassteinchen in üppige Palmen, Trauben und eine Fülle an Diademen und Halsketten.
Ab und zu fliegt eine Taube durch eines der vier offenen Tore und zieht flatternd ihre Kreise in der Rotunde. Ein paar schmale, ausgetretene Marmorstufen führen unter den Fels in die Grotte mit dem Brunnen der Seelen: Nach einer muslimischen Tradition fließen unter der Grotte die Wasser des Paradieses. Manche Christen und Juden glauben hingegen, dieser Bereich verberge einen geheimen Gang zu kostbaren Artefakten. Im Jahr 1911 verschafften sich europäische Schatzsucher durch Bestechung Zugang ins Innere und hackten auf den Boden der Grotte ein – in der vergeblichen Hoffnung, die Bundeslade zu finden. Wegen dieser Entweihung kam es zu wochenlangen wütenden Unruhen. Ranghohe israelische Rabbiner ließen 70 Jahre später ein Loch am Fuß der Westmauer – der Klagemauer – bohren und einen Tunnel Richtung Osten graben, um das Heiligtum zu orten. Die illegale Suche führte zu nicht mehr als einer kurzen Rangelei zwischen rabbinischen Studenten und muslimischen Wächtern und weckte Furcht vor einem neuen regionalen Konflikt.
Im Zentrum des Felsendoms befindet sich der namensgebende Fels aus Kalkstein. Muslime verehren ihn als den Ort, von dem aus Mohammed sich auf seine mystische Himmelsreise begab.
Unbeschadet trotz Kriegen, Plünderungen und dem Zahn der Zeit
Der Felsendom überstand wunderbarerweise Plünderer, Erdbeben, religiöse Konflikte, blutige Invasionen und banalere Bedrohungen wie Taubendreck, der die Wasserspeier verstopft, wodurch Regenwasser in die Wände sickert. "Fast zwei Milliarden Menschen sind mit diesem Ort verbunden", sagt Scheich Omar Kiswani, Direktor des 14,4 Hektar großen Al-Aqsa-Areals. Wir stehen auf dem sonnenbeschienenen Steinplateau, das den Felsendom wie eine Juwelenfassung umfängt. "Als der Prophet Mohammed vom Himmel herabstieg, versammelten sich nach dem Willen Gottes alle Propheten hier zum Gebet", sagt er und deutet auf die Pfade, Gärten, Höfe und Gebäude, die als eine einzige riesige Moschee gelten. "Darum entspricht ein Gebet hier 500 Gebeten an anderen Orten."
Der Felsendom liegt auch im Zentrum einer der brisantesten geopolitischen Konflikte der Welt. Seine goldene Kuppel ist häufig im Hintergrund gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen palästinensischen Gläubigen und israelischer Polizei zu sehen. "Jede Kirche, jede Synagoge im Heiligen Land ist ein Ort des Friedens", seufzt Kiswani, "nur hier ist sie ein Kriegsschauplatz."
Muslime verehren den Schrein als die wichtigste islamische Stätte nach Mekka und Medina, die Palästinenser halten ihn als Symbol ihres Staates in Ehren. Doch für viele religiöse Juden ist das Bauwerk ein Gräuel, das zerstört werden muss, um Platz für einen neuen jüdischen Tempel zu machen. Auch manche evangelikale Christen bestehen darauf, dass er durch einen neuen Tempel ersetzt werden muss, um die Rückkehr Jesu Christi vorzubereiten. Eine solch explosive Mischung an Glaubensvorstellungen schürt Ängste bei den Politikern in der Region. Jeder Versuch, das Bauwerk abzureißen, so die Sorge, könnte in einem katastrophalen Krieg enden. "Wir müssen die Politik, die auf dem Bauwerk lastet, entfernen wie die Schalen einer Zwiebel, um zu verstehen, warum und wie es gebaut wurde", sagt die amerikanische Kunsthistorikerin Beatrice St. Laurent. Sie hat die Stätte über 30 Jahre untersucht, gemeinsam mit ihrem 2018 verstorbenen palästinensischen Kollegen Isam Awwad, dem Konservator und langjährigen Chefarchitekten des Edlen Heiligtums.
Anders als die Grabeskirche, die einen klaren Ursprung als Grabstätte einer berühmten Persönlichkeit hat, ist der Anlass für den Bau des Felsendoms nämlich bis heute eine Quelle von Unsicherheit und Streitigkeiten. St. Laurents Ergebnisse liefern eine faszinierende neue Perspektive auf den geheimnisvollen alten Schrein und einen visionären muslimischen Führer, der ihn errichtet haben könnte.
Cover National Geographic 2/24
Den ganzen Artikel über den Felsendom finden Sie im NATIONAL GEOGRAPHIC Magazin 9/23. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!