Menorcas geheimnisvolle Steine: Vermächtnis der antiken Talayot-Kultur

Rund 2000 Jahre existierte die Talayot-Kultur auf Menorca. Die Menschen hinterließen auf der spanischen Insel eindrucksvolle Bauwerke, die seit kurzem zum Weltkulturerbe zählen.

Von Eva van den Berg
Veröffentlicht am 30. Nov. 2023, 20:26 MEZ
Grabmal auf Menorca

Dieses Grabmal, die Naveta des Tudons, wurde vor mehr als 3000 Jahren auf Menorca errichtet. Die Bauweise der Anlage mit grob behauenen Steinen ohne Mörtel kennt man auch aus dem mykenischen Griechenland. Im Inneren fand man die Überreste von 100 Menschen.

Foto von tolobalaguer.com / Shutterstock.com

Von den Steintürmen Menorcas aus hätten Beobachter sehen können, wie die Gezeiten der Geschichte auf die Insel zurollten: In aufeinanderfolgenden Wellen zogen antike Mittelmeermächte über die Insel – Phönizier, Griechen und Römer. Doch schon lange bevor diese Supermächte hier landeten, hatten sich Pioniere in der windgepeitschten, weitgehend baumlosen Landschaft der Insel ein Leben erschaffen und aus Kalkstein eindrucksvolle Bauwerke angelegt. Die meisten Menschen denken bei den Balearen sofort an die bekannten Urlaubsinseln Ibiza und Mallorca. Das beschauliche Menorca aber, das östlichste Glied der Inselkette, verbindet die Schönheit der Natur mit einem einzigartigen Schatz frühhistorischer Architektur, die noch heute die Landschaft und die Identität des Eilands prägt.

Erste Hinweise geben einfache Grabanlagen, die vermutlich um 2000 v. Chr. entstanden. Diese sogenannten Dolmen aus großen, unbehauenen Steinblöcken, die einst mit Erde bedeckt unter Hügeln lagen, wichen um 1600 v. Chr. den ersten „Zyklopen“-Bauten – Konstruktionen aus Bruchstein in der Form umgedrehter Schiffsrümpfe, Navetas genannt. Vierhundert Jahre später entstanden die typischen Talayot-Türme, abgeleitet vom katalanischen Wort talaia („Wachturm“). Sie verliehen der Talayot-Kultur ihren Namen. Ausgehend von einem Talayot-Turm im Zentrum, breiteten sich die Siedlungen allmählich aus; im Laufe der Zeit entstanden neue Gebäudeformen, darunter aufgeschichtete Taula-Schreine, die manche an die Säulen von Stonehenge erinnern, dazu kommen runde Behausungen und ausgedehntes Mauerwerk. Die Überreste der Talayot-Kultur wurden im September dieses Jahres sogar in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO aufgenommen: Gewürdigt wurden die „Vielfalt der prähistorischen Siedlungen und Grabstätten“ und die typische „Zyklopen-Architektur“.

Architektonisches Erbe

Die Talayot-Kultur umspannte fast 2000 Jahre und wird heute in vier Perioden unterteilt. Sie endete erst im Jahr 123 v. Chr., als eine römische Flotte die Inseln Menorca und Mallorca eroberte und die Kolonisierung begann. Doch trotz dieses Einschnitts blieb die reiche Architektur auch nach den unterschiedlichen Eroberungswellen erhalten: Heute weist die Insel eine der höchsten Konzentrationen an archäologischen Fundstätten weltweit auf, von den Grundmauern kleinerer Wohnhäuser bis hin zu gut erhaltenen Dorfkernen. Auf einer Fläche von nur 700 Quadratmetern liegen auf Menorca 1574 inventarisierte Fundstellen. Damit beherberge die Insel „neun Prozent der spanischen Kulturgüter auf nur 0,13 Prozent der Landesfläche“, betont Margarita Orfila Pons, Archäologin, emeritierte Professorin und Mitverfasserin des Welterbeantrags. Die Aufnahme in die UNESCO-Liste, hoffen die Antragsteller, wird das internationale Profil der Insel schärfen, die Erhaltungsmaßnahmen verbessern, neue Forschungen fördern und den Tourismus ankurbeln. Durch ihre schiere Zahl sind die Bauwerke allgegenwärtig: Die kolossalen Steine stehen inmitten von Getreidefeldern und zwischen weidenden Kühen und Schafen, gleichsam wie die Hüter der uralten Geschichten über die ersten Bewohner der Insel. 

Die antike Siedlung Torre d’en Galmés war von circa 1600 v. Chr. bis ins Mittelalter bewohnt. Die Anhöhe im Süden Menorcas ist eine der größten archäologischen Fundstätten der Balearen. Zu den Überresten gehören drei Talayot-Türme, ein Wasserauffang- und -speichersystem, ein Taula-Heiligtum, mehrere Rundhäuser und ausgedehnte Mauern.

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Doch wer waren diese Menschen? „Sie kamen aus dem Nordosten der Iberischen Halbinsel oder aus dem Gebiet um den Löwengolf“, vermutet Joaquim Pons, Experte für Archäologie in der Kulturabteilung der Insel. Die vorherrschenden Winde und Strömungen hätten ihre Boote direkt zu den Inseln getragen; zudem sind die Grabstätten auf Menorca in Richtung Sonnenuntergang ausgerichtet – genau wie die Grabstätten im Löwengolf, einer Bucht westlich vom heutigen Toulon an der französischen Mittelmeerküste. Im übrigen Mittelmeerraum lägen Gräber jedoch in Richtung Sonnenaufgang. „Sie erreichten die Küste Menorcas in der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. an Bord rudimentärer Boote, zusammen mit ein paar Haustieren und einfachen Gebrauchsgegenständen“, sagt Pons. „Vielleicht entschlossen sie sich zu dieser riskanten Reise, weil sie vor einer feindseligen Situation auf dem Festland fliehen mussten.“

​​Identitäten der Inselbewohner

Die gefährliche Seereise führte diese Pioniere auf ein felsiges, weitgehend unfruchtbares Stückchen Land. Sie hatten ein hartes Leben: Untersuchungen von Gräbern mithilfe von Kohlenstoffdatierungen und DNA-Analysen ergaben, dass die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren an Krankheiten starb. Die Lebenserwartung der Erwachsenen lag im Schnitt bei nicht mehr als 25 Jahren. Dieselben Untersuchungen führten auch zu einem weiteren überraschenden Ergebnis: Obwohl vom Meer umgeben, aßen die frühen Inselbewohner weder Fisch noch Meeresfrüchte, sondern ernährten sich von Fleisch, Getreide und Hülsenfrüchten. Da die Siedlungen im Landesinneren lagen, bestatteten die frühen Siedler ihre Toten in sogenannten Hypogäen, unterirdischen Grabanlagen, die in das felsige Gelände gegraben wurden; zudem entstanden Dolmen, wahrscheinlich in Anlehnung an Traditionen in ihrer einstigen Heimat.

Die Grabbeigaben und die kollektiven Bestattungen lassen auf eine Gesellschaft ohne Hierarchie schließen. Schon bald machten sich die Inselbewohner die allgegenwärtigen Steine zunutze und errichteten auf der Insel daraus die ersten Konstruktionen in der typischen Zyklopen-Bauweise ohne Mörtel. Das erste dieser Bauwerke war die Naveta (katalanisch für „kleines Schiff “) in Form eines umgedrehten Bootes. In der Regel war eine solche Naveta zwischen fünf und 20 Meter lang und drei Meter breit. Sie bot Unterkunft für eine Großfamilie. Im Inneren kochten und wärmten die Menschen sich an einem Feuer; steinerne Bänke entlang der Wände dienten als Sitzgelegenheiten. Von den Navetas leitet sich die als Naviforme bezeichnete Periode zwischen 1600 und 1200 v. Chr. ab, in der die Bevölkerung in kleinen Dörfern siedelte und Ackerbau sowie Viehzucht betrieb. Diese Gesellschaft lernte auch, Kupfer aus Minen zu gewinnen. Es wurde mit Zinn geschmiedet, und ein sehr vielseitiges Material zur Herstellung von Werkzeugen und Gebrauchsgegenständen entstand: Bronze.

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