Reisen im Mittelalter: 7 erstaunliche Fakten

Millionen von Menschen waren im Mittelalter täglich unterwegs: Pilger und Studenten, Boten und Vagabunden, Kaufleute und Könige. Doch wie genau reiste man in der angeblich so finsteren Epoche?

Von Heidrun Patzak
Veröffentlicht am 6. Feb. 2024, 12:06 MEZ
Fresco von Ambrogio Lorenzetti aus dem Jahr 1337

Ob Adelige, Händler oder Bauern: Die Menschen im Mittelalter reisten häufiger, als man vielleicht vermutet, wie hier dargestellt auf einem Fresco von Ambrogio Lorenzetti aus dem Jahr 1337. 

Foto von Gemeinfrei; Public Domain Werk 1.0

Die Menschen kamen kaum jemals aus ihrem Dorf oder ihrer Stadt heraus und reisten nicht – so zumindest die landläufige Meinung über das Leben im Mittelalter. „Das ist grundfalsch“, räumt Mittelalterexperte Apl. Prof. Dr. Rainer Leng das Vorurteil aus. Er ist außerplanmäßiger Professor am Institut für Geschichte der Universität Würzburg und Mitarbeiter in der Germanistischen Mediävistik am KIT Karlsruhe. „Trotz der Strapazen reisten alle Schichten. Kaufleute bereisten seit jeher die Fernhandelsnetze durch ganz Europa – manchmal sogar weit darüber hinaus, wie etwa Marco Polo.“ Daneben durchzogen Pilgerströme ganz Europa und sogar einfache Bauern auf dem Land gingen regelmäßig auf die nächstgelegenen Märkte, besuchten Verwandte oder beteten an den Wallfahrtsorten in der Umgebung. Auf den Straßen war also bereits vor rund tausend Jahren viel los. Doch heutiges Reisen ist mit dem damaligen nicht zu vergleichen. Das sind die sieben erstaunlichsten Fakten über das Reisen im Mittelalter:

1. Wegkenntnis war unnötig, denn die Routen waren flexibel

„Auf dem Gebiet des ehemaligen römischen Imperiums wurden die Römerstraßen noch bis tief in das Mittelalter hinein genutzt“, erklärt Prof. Leng die mittelalterlichen Straßenverhältnisse. Abgesehen davon war die Wegführung jedoch überaus flexibel: Wurde eine neue Brücke gebaut oder ein Zoll erhoben, erschloss man rasch einen alternativen Pfad durch die Wildnis – das galt selbst für Fernwege. Landkarten gab es ohnehin noch nicht. 

Anders, als man vermuten würde, führten Wege auch selten durch Täler und an Flussläufen entlang. Die Täler waren sumpfig, man lief Gefahr, aufgrund von Hochwässern nicht weiterzukommen und überhaupt fürchtete man die „schlechte“ Luft an Gewässern: Schließlich dachte man, dass Malaria durch die Luft übertragen wurde (von Mücken als Überträger hatte man noch keine Ahnung). Straßen führten deshalb bevorzugt oberhalb der Talsohle oder am Fuß von Gebirgen entlang, wie etwa die Via Emilia Piacenza-Rimini oder der Hell(Salz)weg oberhalb des versumpften Lippetals.

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    2. Leere Reisekasse und trotzdem satt, dank Empfehlungsschreiben

    Statt den Beutel mit Münzen und Wertgegenständen anzufüllen, führten viele Reisende lediglich ein Empfehlungsschreiben an Verwandte und Bekannte mit sich. Diese hatten gleich zwei Vorteile: Zum einen ersetzte es eine Menge Gepäck, denn mithilfe dieses Schreibens kam man an kostenloses Essen und Trinken, an Schlafgelegenheiten und womöglich sogar Fährfahrten. Zum anderen war man sicherer vor Räubern und Wegelagerern – die interessierten sich für Wertgegenstände und Geld und nicht für schriftliche Dokumente. 

    Häufig reiste man zu Fuß oder auf dem Rücken von Pferden - am schnellsten konnte man allerdings per Schiff Strecken zurücklegen. Flussabwärts am Rhein waren dabei bis zu 100 km pro Tag möglich. Die Darstellung zeigt die Ankunft der Pilger in Köln auf einem Gemälde von Vittore Carpaccio aus dem Jahr 1490.

    Foto von Vittore Carpaccio, Public domain, via Wikimedia Commons

    3. Das beste Mittel zur Verständigung? Gebärdensprache

    „Niederdeutsch und die Oberdeutschen Sprachvarietäten lagen so weit auseinander, dass ein Hamburger Kaufmann einen Dolmetscher brauchte, wollte er in Nürnberg ein Geschäft abschließen“, so Prof. Leng über die damalige Sprachsituation in Mitteleuropa. „Kleriker, fahrende Schüler und Studenten konnten sich mit dem Lateinischen hingegen in ganz Europa problemlos unterhalten.“ Und alle anderen? Nutzten die Gebärdensprache. Sie war damals sogar so anerkannt, dass sie Teil der antiken Rhetorik und damit auch Teil der mittelalterlichen akademischen Ausbildung (genauer gesagt des Triviums) war. „Gebärdensprache mit den typischen, interkulturell funktionierenden Gesten etwa für ‚Essen‘, ‚Trinken‘ oder ‚Schlafen‘ funktionierte immer“, weiß Leng. In Klöstern, die wichtige Zentren des Reisewesens waren, wurde Gebärdensprache gefördert und man nutzte sie in den vielen Stunden des Tages, in denen Stille verordnet war. 

    Doch es gab noch andere Lösungen: „Reisegruppen mieteten sich oftmals einen ortskundigen Dolmetscher, einen sogenannten ‚Trutschelmann‘, der ähnliche Reisen schon mehrfach hinter sich gebracht hatte und daher Wege und Herbergen kannte und alles organisierte“. Dem nicht genug: Für Lesekundige gab es bereits seit dem frühen Mittelalter kleine Sprachführer, in denen man mit Ausgangs- und Zielsprache wenigstens die für den Reisealltag wichtigsten Sätze erlernen konnte – wie etwa das ‚Kasseler Gesprächsbüchlein‘ aus dem 9. Jahrhundert.

    4. In Herbergen teilte man sich mit Fremden ein Bett – und meist war man dabei nackt

    „Gasthäuser und Herbergen fanden sich in allen Orten, die an frequentierten Straßen lagen. An großen Handelsrouten konnten sie alleine von den Reisenden leben, in kleineren Orten dienten sie auch der lokalen Bevölkerung als Treffpunkt“, sagt Prof. Leng. Die Verhältnisse in diesen Herbergen waren jedoch spartanisch. Vorgeschrieben waren eine Küche, ein Speise- und ein Schlafraum. Das Essen musste man sich manchmal selbst mitbringen und in der Küche zubereiten.

    Auch bei der Nachtruhe durfte man nicht zimperlich sein. „Geschlafen wurde in Betten, in der Regel nackt und zu zweit oder dritt unter einer Decke.“ Man wusch sich im Hof am Brunnen, die Notdurft verrichtete man im Stall, in dem auch die Pferde abgestellt werden konnten. „Die hygienischen Verhältnisse waren nicht gerade vorbildlich“, so der Experte. Kein Wunder also, dass man sich auf Reisen oft alle möglichen Krankheiten holen konnte. „Es gibt aber auch die These, dass gerade jener recht niederschwellige Erregeraustausch für eine Grundimmunisierung der europäischen Bevölkerung sorgte, die sie vor mancher schlimmen Seuche bewahrt haben mag“, so Prof. Leng.

    Nicht zwingend schneller als zu Fuß: Ein Fuhrmann, dargestellt im Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung, Band 1, Nürnberg 1426–1549.

    Foto von Anonym/Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

    5. Wer im Mittelalter schnell reisen wollte, ging zu Fuß 

    Pferde waren im Mittelalter ein Luxus und Statussymbol, das sich nur Adel, Ritter und Bischöfe leisten konnten. Ohnehin war es nicht unbedingt ratsam, zu Pferd zu reisen. Nicht nur waren die Tiere ein echter Nahrungskonkurrent, da sie bevorzugt Hafer fraßen, der damals ein Grundnahrungsmittel für die breite Bevölkerung war. Man musste auch Geld für die Unterbringung von Pferden in Ställen und zusätzliche Brückengelder entrichten. Zudem erreichte man zu Pferd eine durchschnittliche Tagesleistung von lediglich 30 km, zu Fuß waren die Tagesstrecken oftmals mehr. „Professionelle Briefboten liefen sogar bis zu 80 km am Tag. Per Bote war ein Brief von Frankfurt nach Wien zehn Tage unterwegs“, sagt Prof. Leng. „Dieser Service war natürlich nicht ganz billig. Große Städte gaben im Spätmittelalter bis zu einem Drittel ihres gesamten Etats für das Botenwesen aus.“

    6. Es gab bereits eine Straßenverkehrsordnung

    „Der leere Wagen soll dem beladenen, der wenig beladene dem schwer beladenen ausweichen. Der Berittene soll einem Fuhrwagen und der Fußgänger einem Berittenen ausweichen.“ So steht es in der ersten Straßenverkehrsordnung, die zwischen 1220 und 1235 von Eike von Repgow im Sachenspiegel niedergeschrieben wurde. Mittelalterliche Straßen konnten teils hochfrequentiert sein, und um den Frieden zu wahren, wurden Regeln in Wort und Schrift festgehalten. Besonderen Schutz genossen zum Beispiel Priester, Geistliche und Frauen. Doch auch Bauern, die mit viel Mühe ihre Felder bestellten, wurden explizit geschützt. „Jeder reisende Mann, der auf einem Felde Korn fressen lässt, (…) bezahle den Schaden nach seinem Wert.“

    Als Herrscher musste man sichtbar werden – wie hier auf der Prozession der Magi, gemalt von Bernardo Parentino auf einer Reisetruhe Ende des 15. Jahrhunderts.

    Foto von Cleveland Museum of Art, CC0, via Wikimedia Commons

    7. Der König saß nicht auf seiner Burg – sondern stets im Sattel

    Anders als häufig vermutet, hatte das römisch-deutsche Königtum des Mittelalters niemals eine Hauptstadt oder eine feste Residenz. „Der König und mit ihm der gesamte Herrschaftsapparat von mindestens 200 Köpfen war permanent unterwegs. Jahresreiseleistungen von über 2000 Kilometern sind dabei keine Seltenheit. Bei Italienzügen konnten es noch mehr werden“, sagt Prof. Leng. Man reiste von Pfalz zu Pfalz (also eigens dafür angelegte Wohnstützpunkte der Herrscher), von Kloster zu Kloster oder Bischofsstadt zu Bischofsstadt – bis dort eben die Speicher leer waren. Die Herrscher hatten ihre Gründe, warum sie ihr Leben eher im Sattel statt auf dem Thron verbrachten: „Man geht davon aus, dass in einer Herrschaftsordnung ohne geschriebene Verfassung Herrschaft nur personal zur Geltung gebracht werden konnte.“ Wenn der König also auf die politische Mitwirkung des einflussreichen Adels angewiesen war, musste er deren Kooperation regelmäßig von Angesicht zu Angesicht einfordern – und eben reisen, egal wie mühsam es vor 1000 Jahren noch war.

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    Foto von National Geographic

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