200 Jahre alte Post: Forschende öffnen Pakete eines einst gekaperten Schiffs

Als die „Anne Marie“ 1807 auf dem Weg von den Färöer-Inseln nach Dänemark von britischen Kriegsschiffen gekapert wurde, konfiszierte die Royal Navy ihre Fracht. Bis heute lagerte sie ungeöffnet in London. Nun haben Forschende einen Blick hinein gewagt.

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 8. März 2024, 15:06 MEZ
Zwei in hellbraunes Papier gewickelte Pakete mit roten Wachssiegeln vor einem schwarzen Hintergrund.

Zwei der fünf versiegelten Pakete des 1807 gekaperten Handelsschiffs „Anne Marie“. Was die Forschenden beim Öffnen entdecken, ist ein erstaunlicher historischer Fund.

Foto von The National Archives, X, 5.3.2024

Es ist der 20. August 1807, als Kapitän Jurgen S. Toxsvaerd und seine Mannschaft mit der „Anne Marie“ von Tórshavn auf den Färöer-Inseln nach Dänemark aufbrechen. Das Schiff, beladen mit diversen Waren und Briefen, ist eins von zwei Transportschiffen der dänischen Krone, die den Handel von und zu den Inseln in dieser Zeit monopolisiert. Als die Mannschaft lossegelt, ahnt sie noch nichts von dem Krieg, der während ihrer Reise in ihrem Ankunftsland ausbrechen wird. 

Am 2. September 1807, als die Briten mit der Bombardierung Kopenhagens beginnen, wird die „Anne Marie“ vor der norwegischen Küste von der HMS Defence, einem Panzerkreuzer der Royal Navy, beschossen. Die britische Besatzung entert die „Anne Marie“, nimmt Toxsvaerd und seine Mannschaft gefangen und beschlagnahmt sowohl die Fracht als auch die Briefe des Schiffes, die niemals bei ihren Empfänger*innen ankommen sollten. 

217 Jahre später, Februar 2024. Bis heute lagern Teile der 1807 gekaperten Fracht in London. Darunter auch fünf versiegelte Pakete, die nun erstmals geöffnet werden sollen. Historiker Erling Isholm von der Universität der Färöer und Ethnologin Margretha Nónklett vom dänischen Nationalmuseum sind dafür extra angereist. Die beiden Forschenden sind Teil des Prize Paper-Projekts, das sich mit Dokumenten und Artefakten von gekaperten Schiffen der Royal Navy beschäftigt. Was sie in den Londoner National Archives vorfinden, ist eine Zeitkapsel mit einem erstaunlich gut erhaltenen Kleidungsstück und historischen Briefen aus dem frühen 19. Jahrhundert. 

200 Jahre alt und nagelneu: Ein handgemachter Pullover

Es sei selten, dass Pakete von gekaperten Schiffen die Jahrhunderte überleben, häufiger seien es Briefe, erklärt Amanda Bevan, Leiterin des Teams für Rechtsdokumente in den National Archives. Und auch der Inhalt eines der Pakete überrascht: ein so gut wie neuer rot-blauer Strickpullover im Stil der färöischen Nationaltracht. 

 

BELIEBT

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    Die Forschenden entdecken beim Öffnen der Pakete einen erstaunlich gut erhaltenen handgemachten Strickpullover, der die letzten 217 Jahre unbeschadet überstanden hat. 

    Foto von The National Archives

    Laut seiner Beschriftung wurde das Paket 1807 von einem Zimmermann namens Niels C. Winther an einen gewissen Herrn P. Ladsen in Kopenhagen verschickt, gemeinsam mit einem Brief mit den Worten: „Meine Frau lässt Grüße ausrichten und dankt Ihnen für den Reispudding. Sie schickt Ihrer Verlobten diesen Pullover und hofft, dass er ihr nicht missfällt.“ Der Brief wurde auf Dänisch verfasst. 

    „Dies ist ein äußerst spannender Fund“, sagt Nónklett. „Es gibt nur sehr wenige Kleidungsstücke wie dieses, und wir haben noch keins mit diesem speziellen Design gefunden. Es muss zuhause handgefertigt und mit handgefärbter Wolle hergestellt worden sein.“ 

    Briefe, Strümpfe und Getreide: Gekaperte Fracht bis heute erhalten

    Neben diesem überraschenden Fund kommen in einem der anderen Paket vier Paar weiße Wollstrümpfe zum Vorschein. Laut den Aufzeichnungen des Kapitäns Toxsvaerd hatte die „Anne Marie“ damals insgesamt 49.000 Paar solcher Wollstrümpfe an Bord. Außerdem noch acht Tonnen Trockenfisch, 100 Kisten Kerzen, 250 Fässer Talg, 19 Fässer Zugöl und 10 Fässer Federn. 

    Ungeöffnete Briefe aus dem Prize Paper-Projekt, die von einem gekaperten französischen Schiff stammen. 

    Foto von TNA, HCA 32/120/13 and HCA 32/104/20, Photo: Maria Cardamone, Prize Papers Project

    Unter den Briefen finden die Forschenden sogar Geld: ein Bündel Scheine, das um 18 Silbermünzen gewickelt ist, darunter dänische Münzen aus der Regierungszeit von Friedrich III. von Dänemark. Und sie entdecken zwei Proben Gerste, die einst an den Absender zurückgeschickt werden sollten. Scheinbar war der Käufer unzufrieden mit der Qualität seiner früheren Sendung. In einem Vermerk beanstandet er, dass 416 von 399 Fässern Getreide bei der Lieferung Schaden genommen hätten – und 25 Fässer so schlecht gewesen seien, dass er sie nicht hätte verkaufen können. 

    Das deutsch-britische Prize Papers Project plant, die Briefe und den Inhalt der Pakete zu digitalisieren und sie im Internet frei zugänglich zu machen. Die Ladung der „Anne Marie“ stellt dabei nur einen kleinen Bruchteil des Projekts dar. Insgesamt 4.088 Pakete und etwa 160.000 Briefe von Frachtschiffen, die zwischen 1652 und 1815 in diversen Kriegen gekapert wurden, warten darauf, von den Forschenden ausgewertet zu werden. Das Projekt startete 2018 und soll noch bis 2037 laufen. 

     

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