Wikingerhafen Haithabu in Norddeutschland: Knochenkämme belegen frühen Handel

Neue Untersuchungsmethoden fördern erstaunliche Erkenntnisse über die Handelsnetze der Wikinger zutage: Sie bestanden schon deutlich früher als bisher angenommen. Im Zentrum der neuen Studie stehen Kämme aus dem sagenumwobenen Wikingerhafen Haithabu

Von Heidrun Patzak
Veröffentlicht am 5. März 2024, 14:13 MEZ
Knochenkamm aus Haithabu

Woher stammen die Wikingerkämme? Das war eine der Fragen, mit denen sich ein internationales Forschungsteam auseinandersetzte.

Foto von Inga Sommerfeld, Museum für Archäologie, Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf, Schleswig

Sie legten hunderte Seemeilen in ihren Schiffen zurück – zusammengepfercht auf engstem Raum und gnadenlos der Witterung ausgesetzt. Reisen zu Zeiten der Wikinger bedeuteten unvorstellbare Strapazen. Trotzdem schafften es die Männer und Frauen aus Nordeuropa, ein geradezu gigantisches Handelsnetz aufzubauen. 

Wie weitverzweigt das Handelsnetz wirklich war, belegen nun neue Untersuchungsmethoden: Ausgehend von den für die damaligen Verhältnisse großen nordeuropäischen Zentren wie Birka, Kaupang und Haithabu reichten die Handelskontakte der Wikinger bis in die heutige Ukraine. „Von hier gelangte man zu noch weiter entfernten Zielen wie etwa nach Konstantinopel. Die Skandinavier nannten es Miklagard, ‚Große Stadt‘“, sagt Dr. Volker Hilberg, Mittelalterexperte des Museums für Archäologie Schloss Gottorf. Gebiete im Mittleren Osten und dem Mittelmeerraum wurden von den Wikingern ebenso bereist, wie das arktische Hochland in Nordschweden und Nordnorwegen. 

Die neuartige Untersuchungsmethode ZooMS (Zooarchaeology by Mass Spectrometry) ermöglicht seit einigen Jahren noch genauere Einblicke in die wirtschaftlichen Verflechtungen der Wikinger. Und sie beweist, dass der Startschuss für ihren Handel und womöglich sogar ihre Raubzüge schon deutlich früher fiel als bisher angenommen mit dem Überfall des Klosters Lindisfarne im Jahr 793. 

49 Haarkämme geben Aufschluss: Forschung an einem Alltagsgegenstand

Die Protagonisten der neuen Studie „In the footsteps of Ohthere“, die unter der Leitung von Steve Ashby von der Universität York und einer Gruppe internationaler Forscher*innen durchgeführt wurde, sind klein und unscheinbar: Haarkämme. Genauer gesagt 49 davon. „Kämme waren zu Zeiten der Wikinger weit verbreitet und sind zudem oft gut erhalten“, erklärt Dr. Hilberg, einer der an der Studie beteiligten Wissenschaftler. Aufgrund des Aussehens (also zum Beispiel Form und Verzierungen) könne man einen Kamm der frühen Wikingerzeit von einem späten Exemplar unterscheiden, so der Experte.  Allein in Haithabu, einer alten Wikingersiedlung nahe der heutigen Stadt Schleswig, wurden bisher rund 1250 Kämme oder Kammfragmente aus der Wikingerzeit geborgen. Es handelt sich um einen der weltweit größten Bestände dieser Materialgruppe. Doch was verraten diese Kämme nun über das Handelsnetz der Nordmänner?

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    Kämme waren bereits im frühen Mittelalter weit verbreitet und wurden zur körperlichen Hygiene und Reinigung genutzt. Man konnte mit diesen Kämmen auch in Bart- oder Kopfhaar nach Schädlingen und Ungeziefer suchen.

    Foto von Inga Sommerfeld, Museum für Archäologie, Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf, Schleswig

    Materialproben lüften das Geheimnis der Haarkämme

    Wichtige Erkenntnisse liefert das Material, aus dem die Kämme hergestellt wurden: Geweih. „Anhand der Tierart der Geweihe, also z. B. Rothirsch oder Rentier, können wir auf Handelsbeziehungen und die Rohstoffversorgung der Wikingerzeit schließen“, erklärt Dr. Hilberg das Ziel der Studie. Kleinste Materialproben wurden den Kämmen entnommen und anschließend im Labor in einem Massenspektrometer analysiert. Das Ergebnis: An die 90 % der untersuchten Kämme waren aus Rentiergeweihen gefertigt, die aus dem nördlichen Norwegen oder Schweden stammen. „Die Kämme dürften sogar dort gefertigt worden sein“, weiß Hilberg. Bewiesen würde dies anhand von Abfällen und Überresten, die üblicherweise bei der Kammherstellung anfallen. „Der Abfall, der bei Ausgrabungen in Haithabu gefunden wurde, besteht nämlich zu einem überwiegenden Teil aus Rothirschgeweih“, so Hilberg.

    Das Tor in die Gebiete der Slawen, Franken und Friesen 

    Wie kamen die arktischen Knochenkämme ausgerechnet nach Haithabu? Heute schwer vorstellbar war Haithabu im frühen Mittelalter die südlichste Wikingersiedlung in Nordeuropa. Als Handelsknotenpunkt zwischen Nord und Süd muss in Haithabus engen Gassen ein Wirrwarr an Sprachen und Kulturen geherrscht haben – Friesen, Franken, Skandinavier und Slawen trafen aufeinander. „Aufgrund seiner geografischen Lage haben wir in Haithabu Funde aus allen möglichen Teilen der Welt“, berichtet Dr. Hilberg.

    Haithabu profitierte von den fruchtbaren Landschaften von Angeln und Schwansen auf beiden Seiten der Schlei. Diese Gebiete sicherten die Existenzgrundlage des Handelszentrums mit allen möglichen Produkten für den täglichen Gebrauch wie etwa Holz und tierische oder pflanzliche Nahrung.

    Foto von Lars Gieger - stock.adobe.com

    Dass ausgehend von Haithabu häufiger und kontinuierlicher Kontakt über den Seeweg bis in arktische Gefilde bestand, ist nicht neu. Bereits an Schleifsteinen ließ sich feststellen, dass Waren aus dem nördlichen Skandinavien importiert wurden. Ebenso konnten Kabeljaureste aus den arktischen Gewässern rund um die Lofoten in Haithabu nachgewiesen werden. 

    Auch schriftliche Quellen belegen Handelskontakte in den hohen Norden: Der Kaufmann Ohthere berichtet im späten 9. Jahrhundert gegenüber König Alfred von Wessex vom Handel mit Pelzen, Federn, Walknochen und Seilen, die aus Walhaut, Robben- oder Walrossfell gemacht wurden. Doch es ist schwierig, diesen Handel heute archäologisch nachzuweisen, da so gut wie alle diese Produkte aus organischen Materialien bestanden und dem Zahn der Zeit nicht standhalten konnten. Anders als die Knochenkämme.

    Zeitalter der Exploration: Der Aufstieg eines neuen Handelszentrums

    Was das Forschungsteam erstaunte, war die Epoche, in der die arktischen Knochenkämme nach Haithabu kamen. Die untersuchten Kämme werden einem Typus zugeschrieben, der ab etwa Mitte des 8. Jahrhunderts datiert und auch bei Ausgrabungen im dänischen Ribe gefunden wurde. Ebenfalls dort entdeckt wurden unter anderem Wetzsteine, Glasperlen und Metallarbeiten. Im Gesamten verdeutlichen die Funde, dass es im Nordseegebiet zwischen Norwegen und den Britischen Inseln eine erste vorwikingerzeitliche Kontaktphase im 8. Jahrhundert gegeben haben muss, viele Jahrzehnte, bevor das Zeitalter der Wikinger eigentlich begann. 

    Laut Dr. Hilberg könne man diese Phase als die Exploration dieser Küstengebiete auffassen. „Der Handel dieser Frühphase ist jedoch noch ganz auf das an der Nordseeküste gelegene Ribe konzentriert“, so der Experte. Seit dem frühen 9. Jahrhundert verlagerte er sich dann immer deutlicher nach Haithabu. Händler und Seefahrer wie Ohthere besuchten nun den Hafen an der Schlei. Die beprobten Kämme aus Haithabu belegen die Bedeutung der Handelsbeziehungen in den nordskandinavischen Raum und markieren den Beginn und Aufstieg des sagenumwobenen Wikingerhafens Haithabu, der sich zur größten Wikingersiedlung in Nordeuropa mausern wird. 

    Schon vor dem Überfall auf das Kloster Lindisfarne im Jahr 793 und dem eigentlichen Beginn des Zeitalters der Wikinger waren die Nordmänner also exzellent vernetzt und überregional aktiv – und mitnichten nur kriegerisch und in Form von blutrünstigen Überfällen, sondern ganz einfach als Händler. Wobei Handel und Raub damals eng beieinander lagen, räumt Dr. Hilberg ein. Denn der Schlüssel zum Handel waren einzig freundschaftliche Beziehungen: „Fehlten diese oder garantierte der zuständige Machthaber keinen friedlichen Handelsaustausch, nahm man sich gewaltsam, was wertvoll war“.

    Cover National Geographic 3/24

    Foto von National Geographic

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