Kosovo: Die Suche nach der eigenen Geschichte
Wenn die Geschichten eines Volkes in Gefahr sind, wer setzt sich für ihre Rettung ein? Der kosovarische Bibliothekar Nehat Krasniqi begab sich auf die Suche.
Derwische entrollen eine seltene Schriftrolle in einem Sufi-Tekke, einem Schrein in Gjakova, Kosovo.
An einem Junitag 1999 kehrte Nehat Krasniqi zur Nationalbibliothek in Pristina zurück. Schmutzige Kleidungsstücke, Bierflaschen und Militärkarten lagen verstreut in den Lesesälen. In einem der letzten Kapitel des jugoslawischen Bürgerkriegs griff das serbische Militär, das die ethnischen Serben unterstützte, ethnische Albaner an, die versuchten, eine unabhängige Nation zu etablieren. Geschätzte 13 500 Menschen waren tot oder vermisst, die weitaus überwiegende Mehrheit von ihnen ethnische Albaner. Jetzt waren die Kämpfe zum Stillstand gekommen.
Menschen wie Krasniqi sammelten die Bruchstücke auf. Im Lauf des letzten Jahrzehnts hatte das Gebäude der Nationalbibliothek in der Innenstadt – berühmt für seine 99 Kuppeln – zu verschiedenen Zeiten Flüchtlinge und Soldaten beherbergt. Während Krasniqi durch die Räume schritt, ging ihm eine Frage durch den Kopf: Hatten die Dokumente, denen er einmal sein Leben gewidmet hatte, den Kosovokrieg überstanden? Wie alle Studierenden im Kosovo kannte auch Krasniqi die Geschichte der Eroberungen der Region durch die Römer und die Osmanen, gefolgt von der sozialistischen Regierung Jugoslawiens mit Staatschef Josip Broz Tito.
Sammlung von Gedichten und Prosa
Doch bei den Recherchen zu seiner Doktorarbeit stieß Krasniqi überraschend auf zahlreiche Dokumente, die die Geschichte aus der Perspektive von albanischen Kosovaren darstellten – nicht aus der Sicht der Eroberer. Er hatte den Eindruck, die Funde seien Beweis für eine blühende intellektuelle Vergangenheit und die tiefen Wurzeln der albanischen Sprache und Kultur. Es war eine Erzählung, die in der von Tito autorisierten Geschichtsschreibung nicht vorkam. Im Auftrag der Nationalbibliothek begann Krasniqi Manuskripte zu sammeln, die diese kosovarische Identität widerspiegelten. In Städten, die einst osmanische Handelsposten waren, fand er Material in Kellern und Mansarden voller Mäusekot und Spinnweben.
Er stöberte Gedichte und Prosa auf, geschrieben von einheimischen Autoren in osmanischem Türkisch, in Arabisch und Persisch. Mit Hunderten neu gefundener Dokumente gründete er eine Spezialsammlung in der Nationalbibliothek und begann, sie zu übersetzen und zu katalogisieren. Doch 1989, als der serbische Präsident Slobodan Milošević das Kriegsrecht verhängte, wurden ethnische Albaner aus dem Staatsdienst entlassen. Polizisten kamen in die Nationalbibliothek und befahlen Krasniqi, seinen serbischen Nachfolger einzuarbeiten. Zehn Jahre später, nachdem die Intervention der NATO den Krieg beendet hatte, kehrte Krasniqi in die zugemüllte Bibliothek zurück. Er erfuhr, dass fast alle Bücher in albanischer Sprache in Papiermühlen gelandet waren. Doch in seinem ehemaligen Büro fand er seine Manuskripte in Kartons. Sie waren durch Sonne und Feuchtigkeit beschädigt, doch sie hatten überlebt.
„Milošević wollte riesige Teile unserer Geschichte auslöschen“, sagte mir Krasniqi. „So kann man nämlich eine Nation unterwerfen und versklaven. Die eigene Geschichte zu kennen, ist ein Treibstoff für die Freiheit.“ Krasniqi war entschlossen herauszufinden, was von Kosovos Vergangenheit überlebt hatte. Von Häusern und Moscheen waren nur Ruinen übrig; aus Brunnen quoll Leichengestank. Alte Dokumente waren von geringer Bedeutung für die Menschen, die ihre Toten betrauerten und versuchten, ihr Leben wieder aufzubauen. Doch Krasniqi trug in jedem Haus dieselbe Bitte vor: Wenn Sie irgendwelche alten Bücher oder Schriften haben, erlauben Sie der Nationalbibliothek, sie zu kaufen.
Die Zerstörung des Sufi-Tempels in Gjakova
Es gab einen Ort, an den zurückzukehren ihm unerträglich war: Die Stadt Gjakova hatte einen berühmten tekke, einen Sufi-Tempel, der als Geburtsort des albanischen Nationalbewusstseins galt. Als Krasniqi vor dem Krieg in diesem Bektashi-Tekke war, hatten ihn die kunstvoll verzierten Manuskripte, Gedichtsammlungen und Hunderte von Kodizes vor Ehrfurcht erstarren lassen. Besonders kostbar war eine Gedichtsammlung, geschrieben von Schams-e-Tabrizi, dem spirituellen Mentor des Dichters Rumi aus dem 13. Jahrhundert, übersetzt ins Albanische. Es waren einige der seltensten Dokumente, die Krasniqi je gesehen hatte. Während des Krieges wurde der Tekke in Brand gesetzt. Von der Bibliothek blieb nur Asche. Es war, so glaubt Krasniqi, einer von Kosovos größten kulturellen Verlusten.
Er war dermaßen am Boden zerstört, dass er nicht zurückkehren konnte. Nun bot er an, mich dorthin zu begleiten, da es mir helfen könnte, das Ausmaß der Zerstörung zu begreifen. Eine Woche später führte uns ein hochgewachsener Mann mit wallendem Bart in den wiederaufgebauten Bektashi-Tekke. Rauf Radonici hatte dem Orden lange Zeit als Sufi-Derwisch gedient. Er zeigte uns Fotos, auf denen die wie Gerippe anmutenden Überreste des Tekke zu sehen waren. Er hatte erfahren, dass der Tempel abgebrannt war, als er 1999 in einem Flüchtlingslager in Albanien lebte. Er habe so bitterlich geweint, dass die Leute meinten, seine Familie sei getötet worden.
Krasniqi fragte nach den kostbaren Manuskripten – waren sie alle zerstört worden? „Ja“, sagte Radonici und legte die Hand aufs Herz. „Dieses Wissen ist für immer verloren.“ Er führte uns in ein kleines Büro. Krasniqi seufzte angesichts der bescheidenen Sammlung moderner Bücher. Plötzlich fiel ihm etwas ins Auge. Am Boden lehnte ein kleiner Stapel Papier an einem Konvolut ledergebundener Bücher. Behutsam hob er ein Blatt auf und betrachtete es genau. „Das ist tatsächlich sehr interessant“, sagte er. Es war ein handgeschriebenes Exemplar des ersten Korangebets. Die geschwungene Schrift war ein seltenes Beispiel für einen der schönsten kosovarischen Stile religiöser Kalligrafie.
Es handle sich um Schenkungen, erklärte der Derwisch. Nach dem Krieg hatte er die Gemeinde gebeten, beim Wiederaufbau der Bibliothek des Tekke mit allem, was sie finden konnten, zu helfen. Mit der Lesebrille auf der Nase hockte Krasniqi sich hin und untersuchte ein winziges handgeschriebenes Gebetsbuch aus dem Jahr 1816. Das könne wertvoll sein, sagte er, und reichte es dem überraschten Derwisch. Er legte zerfledderte osmanische Steuerunterlagen, religiöse Schriften, private Briefe auf einen Stapel, zog zwei kleine Bücher mit kunstvollen Verzierungen hervor. Wären sie besser aufbewahrt worden, hätten sie von enormem künstlerischem Wert sein können, sagte er. Dennoch waren sie wichtig genug, um sie beiseite zu legen. Krasniqi schien freudig erregt, etwas Neues entdeckt zu haben. Jahrzehntelang hatte er gegen den Zahn der Zeit und die Zerstörungen durch Krieg, Politik und Ignoranz gekämpft und sogar gegen die Gleichgültigkeit in seinem eigenen Land. Doch es waren noch immer historische Juwelen zu finden. Und es gab Menschen, die sie wertschätzen würden.
Cover National Geographic 9/24
Unsere Autorin hat sich auch in Kurdistan und Somaliland auf die Suche nach nationalen Überlieferungen gemacht. Die ganze Reportage lesen Sie NATIONAL GEOGRAPHIC Magazin 6/24. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!