,Briefe‘ aus Mesopotamien: Tontafeln offenbaren 4.000 Jahre alten Ehestreit

Ausgrabungen in der altbabylonischen Stadt Ur haben Forschenden einen besonderen Einblick in den Alltag ihrer damaligen Bewohner geliefert. Unter den Funden: die Korrespondenz zweier Eheleute via Steintafeln.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 2. Aug. 2024, 15:26 MESZ
Vogelperspektive auf die Ausgrabungsstätte mitten in der Wüste.

Am Rande der Stadt Ur befand sich die Villa der Eheleute.

Foto von Institut für Vorderasiatische Archäologie/A. Otto

Im 4. Jahrtausend v. Chr. errichteten die Sumerer im Süden des heutigen Iraks die Stadt Ur. Etwa zwei Jahrtausende später war die Hafenstadt eine schillernde Handelsmetropole mit Villen, die hauptsächlich von wohlhabenden Menschen bewohnt wurden. Zu ihnen gehörten auch die Eheleute Sin-nada und Nuṭṭuptum, die um das Jahr 1850 v. Chr. in der Stadt lebten.

Einen Einblick in ihren gemeinsamen Alltag konnten Archäolog*innen nun durch auf Tontafeln geschriebene Nachrichten gewinnen. Sie geben Hinweise auf eine 4.000 Jahre alte Ehekrise.

Ehestreit im 2. Jahrtausend v. Chr.

Über Sin-nada, den Ehemann und Verfasser der Nachrichten, weiß man mittlerweile, dass er eine wichtige Position in der damaligen Gesellschaft innehatte: Er war Intendant des zweitwichtigsten Tempels von Ur. Dieser Beruf war es auch wohl, der den Streit zwischen ihm und seiner Frau auslöste. Während in einem der ,Briefe‘ noch die Nachricht „Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut“ steht, finden sich in einem weiteren die Sätze: „Nuṭṭuptum, du machst mir immer Vorwürfe, ich würde dich vernachlässigen und wäre zu oft weg. Aber das stimmt nicht!“ Die Erklärung für seine Abwesenheit fehlt dabei leider. Lediglich die Worte „Es ist doch nur, weil…“ sind noch lesbar. 

Links im Bild: einer der ,Briefe‘ aus Stein. Rechts: Eine alte Keramikschale.

Foto von Institut für Vorderasiatische Archäologie/A. Otto

Gelungen ist die spektakuläre Entdeckung einem Forschungsteam um Adelheid Otto, der Leiterin des Instituts für Vorderasiatische Archäologie an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität (LMU). In einzelnen Etappen in den Jahren 2017, 2019 und 2022 hat sie gemeinsam mit ihren Kolleg*innen die allein im Erdgeschoss über 236 Quadratmeter umfassende Villa des Ehepaars ausgegraben. Neben den Tontafeln, die in Keilschrift beschrieben sind, fanden sie dabei auch unzählige weitere gut erhaltene Alltagsgegenstände, die Rückschlüsse auf den Alltag des Ehepaars erlaubten.

BELIEBT

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    Grundriss der Villa. Sie hatte eine Wohnfläche von über 200 Quadratmetern und allein im Erdgeschoss 16 Zimmer. 

    Foto von Institut für Vorderasiatische Archäologie/A. Otto

    So geben Funde von Keramik und Textilresten Hinweise auf die verschiedenen Funktionen der über 16 Räume im Erdgeschoss der Villa. Und ein zurückgelassener Schinken in der Speisekammer zeigt, was die beiden gerne aßen. Zurückgelassen wurden diese Dinge laut Otto vermutlich, weil die Eheleute die Villa fluchtartig verlassen mussten, höchstwahrscheinlich im Jahr 1835 v. Chr. Zu diesem Zeitpunkt wurde der König, für den Sin-nada arbeitete, gestürzt. „Möglicherweise wurde auch Sin-nada ermordet oder er musste zumindest aus Ur weggehen“, sagt Otto. Spätestens dieses Ereignis bereitete den Alltagsschwierigkeiten des Paares also ein jähes Ende. 

    Nuṭṭuptum: Eine hochgebildete Frau

    Doch nicht nur über den Alltag des Ehepaars, auch über die Stellung von Frauen in der damaligen Gesellschaft lassen die Funde Rückschlüsse zu. Denn auch wenn beide gefundenen Nachrichten von Sin-nada stammen – die Tontafeln zeigen laut Otto, dass auch Nuṭṭuptum lesen und schreiben konnte. „Sie scheint ihrem Mann schriftlich Vorwürfe gemacht zu haben“, sagt die Archäologin. Außerdem habe man auch eine Nachricht ihres Vaters gefunden, der an sie gerichtet war und den sie gelesen haben muss. 

    Möglich ist sogar, dass Nuṭṭuptum ihr Können auch für ihr Berufsleben nutzte. In der Speisekammer der Villa, einem Ort, den Männer damals kaum betraten, haben die Forschenden zwei Schultexte gefunden; dazu einen Raum, in dem höchstwahrscheinlich Schreibunterricht gegeben wurde. Die Archäolog*innen vermuten, dass es Nuṭṭuptum gewesen sein könnte, die diesen Unterricht gab.

    Eine Seltenheit war das damals nicht, vor allem nicht in Ur. „Zu dieser Zeit war der Bildungsstand extrem hoch“, sagt Otto. Das sei auch bei Frauen der Fall gewesen. „Man weiß, dass es theoretisch Frauen als Lehrerinnen gab, aber bislang konnte man es nie konkret an einer Person festmachen“, so die Archäologin. Das liege auch daran, dass es über Frauen aus dieser Zeit generell weniger Informationen gibt. Obwohl Frauen zu einer Vielzahl als Oberpriesterinnen und Priesterinnen in Urs Tempeln und Klöstern tätig waren, stammen die Texte, die heute gefunden werden, meist aus Verwaltungen, die von Männern besetzt wurden. 

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