Teufelsaustreibung in Franken: Das Martyrium von Anneliese Michel
Exorzismus ist nur etwas aus Horrorfilmen und längst vergangenen Zeiten? Ein Trugschluss, denn vor weniger als 50 Jahren wurde im Frankenland einer der bekanntesten Exorzismen durchgeführt.

Exorzismen sind der Stoff, aus dem Gruselgeschichten und Horrorfilme gemacht werden – wie auf diesem fiktiven Foto. Der Fall Anneliese Michel zählt zu den bekanntesten Exorzismus-Fällen weltweit und diente dem Thriller Der Exorzismus von Emily Rose und dem Film Requiem als Inspiration.
23 Jahre jung, 67 Exorzismen und nur noch 31 Kilogramm schwer – so lauten die erschreckenden Eckdaten des sogenannten „Franken-Exorzismus“, durchgeführt an der Studentin Anneliese Michel aus dem fränkischen Klingenberg. Die junge Frau litt unter Epilepsie und gelangte aufgrund ihres starken Glaubens zu der Überzeugung, von Dämonen besessen zu sein. Der Bischof stimmte insgesamt fast 70 Exorzismen zu - mit tödlichen Folgen.
Wie kam es zum Franken-Exorzismus?
Anneliese Michel wurde am 21. September 1952 in der Stadt Klingenberg am Main geboren. Mehr als die Hälfte der damals 6.500 Einwohner war katholisch. Als älteste von vier Geschwistern absolvierte die junge Frau im Jahr 1973 ihr Abitur und studierte in Würzburg Pädagogik und Theologie auf Lehramt. Ihre Examensarbeit widmete sie dem Thema „Die Angst und ihre religionspädagogische Bewältigung“.
Seit ihrer Pubertät litt Anneliese an psychischen Störungen und Anfällen, in denen sie die Kontrolle über ihren Körper verlor. Ihre Mutter suchte 1969 den Nervenarzt Herrn Dr. Lüthy in Aschaffenburg auf. Dieser konnte jedoch keinerlei neurologische Störungen feststellen und auch das Gehirn zeigte Aktivitäten im Rahmen der Norm. Dr. Lüthy vermutete aufgrund der wiederkehrenden Anfälle eine Form der Epilepsie, eine sogenannte Grand-mal-Epilepsie oder auch „Generalisierte tonisch-klonische Anfälle“ genannt.
Dabei handelt es sich um eine, nach außen wirkende, sehr dramatische Form der Epilepsie, bei welcher ein Anfall mit einem Schrei der betroffenen Person eingeleitet wird. Ein Anfall dieser Art erfolgt in drei Phasen. In der tonischen Phase kommt es zur Bewusstlosigkeit und der Versteifung des gesamten Körpers. Die klonische Phase wird von groben Zuckungen im Gesicht, der Gliedmaße und des Rumpfes gezeichnet. In der letzten Phase, der Nachphase, kehrt das Bewusstsein der betroffenen Person zurück, die Atmung normalisiert sich und ein Zustand der Erschöpfung tritt ein.
Von einer Medikation sah Dr. Lüthy jedoch ab, da die beschriebenen Anfälle zeitlich zu weit auseinander lagen, als dass man mit Medikamenten einschreiten müssen.
Daneben gab Anneliese gegenüber ihren Eltern an, Teufelsfratzen zu sehen. Daraufhin fertigte der Nervenfacharzt Herr Dr. Wolfgang Haller 1970 ein Hirnstrombild (EEG) an, welches jedoch unauffällig war und die Befunde aus dem Jahr 1969 bestätigte. Allerdings erkannten weder Anneliese, noch ihre Familie oder ihr direktes Umfeld die Diagnose von Dr. Lüthy jemals an. Stattdessen versuchten ab September 1975 zwei Priester, Anneliese den Teufel mittels Exorzismus auszutreiben – mit der Genehmigung des Würzburger Bischofs Josef Stangl.
Dazu kam es, weil die Eltern, Josef und Anna Michel, sich hoffnungsvoll an den Pfarrer Ernst Alt gewandt hatten. Der konsultierte daraufhin den zuständigen Bischof aus Würzburg und bat um die Erlaubnis, an der jungen Frau einen Exorzismus durchführen zu dürfen. Diese Bitte lehnte der Bischof zunächst ab. Doch im Jahr 1975 verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Anneliese weiter. Sie wirkte zunehmend depressiv und leidet unter Schlafproblemen, was ihr zusätzlich Kraft und Energie raubte. Auch ihre Freunde berichteten Ähnliches und erzählten, dass die junge Frau Rosenkränze zerreiße und Flaschen mit Weihwasser zerschlage.
Verzweifelt und von der Situation überfordert wendete sich die Familie an Adolf Rodewyk, Jesuitenpater und Exorzist. Der meinte bei der jungen Anneliese einen „dämonischen Zwang“ zu erkennen und wendete sich daraufhin erneut an den Würzburger Bischof: „A. ist besessen, und zwar ist der Hauptteufel ein Judas. Hinter dieser Formulierung steht noch der Gedanke, dass noch andere Teufel, Nebenteufel, da sein könnten.“ Zur Erleichterung aller Beteiligten wird nun der große Exorzismus genehmigt.
Diese Form des Exorzismus ist auf den Regeln des „Rituale Romanum“ aus dem Jahr 1614 begründet. Die Historikerin Petra Ney-Hellmuth beschreibt die Praxis wie folgt: Es handle sich um ein „an Gott gerichtetes, imperatives Gebet, mittels dessen ein vom Bösen bedrängter Mensch durch Jesu Erlösungstat von dieser Bedrängnis befreit werden möge.“
Exorzismus auf Tonbändern festgehalten
Im September 1975 löste Pater Arnold Renz den Exorzisten und Jesuitenpater Adolf Rodewyk ab und übernahm die Teufelsaustreibung im Hause Michel, welche von Renz und Alt auf Tonbändern festgehalten wurde. Es existieren insgesamt 42 Tonaufnahmen, die Ausschnitte der Exorzismen enthalten. Es ist zu hören, wie Anneliese sechs Mächte nennt, die in ihr wohnen: Luzifer, Nero, Kain, Judas, Ischariot und Hitler. Obwohl Anneliese zu diesem Zeitpunkt bereits sehr geschwächt war, absolvierte sie bis zu 600 Kniebeugen täglich – so wie ihr es die Stimmen in ihrem Kopf ihr befahlen.
Diese Mächte oder auch Dämonen, sollten mittels Gebetsformeln aus dem Körper vertrieben werden: „Ich beschwöre dich, alte Schlange, bei dem Richter über die Lebendigen und Toten, bei deinem Schöpfer, welcher die Macht hat, dich in die Hölle zu schicken: Weiche von diesem Diener Gottes.“
Auf eigenen Wunsch ließ sich Anneliese nicht mehr ärztlich behandeln. Sie magerte zusehends ab, da sie sich auf Befehl des Teufels weigerte, Essen und Trinken zu sich zu nehmen. Zudem hatten sie und ihre Familie Angst, als Verrückte abgestempelt zu werden. Nur wenige aus dem Umfeld der Familie waren eingeweiht.
Anneliese Michel musste aufgrund ihres gesundheitlich kritischen Zustands wieder zurück in ihr Elternhaus ziehen. Sie begann damit, sich selbst Verletzungen zuzufügen, kratze sich die Haut blutig und biss sich selbst. Pater Renz führte den letzten Exorzismus am 30. Juni 1976 durch. Nur einen Tag später, am 1. Juli, stirbt Anneliese Michel. Todesursache laut Obduktionsbericht: Unterernährung.
Verurteilung der Eltern und Exorzisten
Zwei Jahre nach Annelieses Tod wurden ihre Eltern sowie die beteiligten Exorzisten, Pfarrer Alt und Pater Renz vom Landgericht Aschaffenburg wegen fahrlässiger Tötung und Unterlassung zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt.
Einsicht oder Reue zeigten die Eltern der verstorbenen Anneliese nicht. Sie sagten aus, dass sie wieder genau so handeln würden, sollte es zu einer vergleichbaren Situation kommen. „Unser Herrgott und die Mutter Gottes hielten die Fäden in der Hand. Ich bin mit meiner ganzen Familie überzeugt, dass Anneliese und wir selbst ausersehen sind, zu sühnen für eine Vielzahl anderer“, so Josef Michel. Ein Gutachter sagt hingegen aus, dass das Verhalten der Eltern, sowie das von Pater Renz und Pfarrer Alt dazu beigetragen habe, Anneliese Michel in ihrer Angst zu bestätigen, was zu einer Verschlechterung ihres geistigen Gesundheitszustandes geführt habe.

Grabstein anneliese Michel in Klingenberg
Die Exorzismus-Reform folgt erst im Jahr 1999
Der Fall Anneliese Michel sorgte für großes Aufsehen und diskreditierte die Teufelsaustreibung. Die Theologin Monika Scala spricht im Fall Michel von einer Wende der Exorzismus-Geschichte. Zugleich habe er eine neue Debatte in der Wissenschaft ausgelöst, in der Sinn und Unsinn des Rituals im Fokus stünden.
Der Exorzismus sollte nach dem Fall überarbeitet und entschärft werden. 1979 schlug eine Kommission im Auftrag der deutschen Bischofskonferenz vor, den Großen Exorzismus durch eine „Liturgie zur Befreiung des Bösen“ zu ersetzen – doch erst 20 Jahre später verabschiedet der Vatikan überarbeitete Regularien zur Durchführung von Exorzismen.
Im Jahr 1999 trat eine Reform in Kraft, nachdem sie von Papst Johannis Paul II am 1. Oktober 1998 genehmigt wurde, die nach fast 400 Jahren das Ritual des „Großen Exorzismus“ grundlegend verändert. Gebete, Segens- und Beschwörungsformeln ersetzen jetzt die Fassung aus dem Jahr 1614. Der Begriff „Exorzismus“ bleibt, bis heute gehört diese Praxis zum pastoralen Angebot der katholischen Kirche. Allerdings entfällt die Verpflichtung zur direkten Anrede an das Böse. Stattdessen sollen Bittgebete in das Ritual aufgenommen werden. Auch die Begutachtung und Betreuung der besessenen Person durch psychologisches und medizinisches Fachpersonal ist verpflichtend.
Immerhin: Seit dem Fall Anneliese Michel wurde durch die römisch-katholische Kirche keine weiteren Exorzismen erlaubt. Es gibt jedoch noch immer Priester, die an dem klassischen „Großen Exorzismus“ festhalten und sich weigern, nach den Vorgaben der Reform zu handeln. Über die Dunkelziffer, der noch immer „klassisch“ durchgeführten Exorzismen kann keine Angabe gemacht werden. Eine seriöse Quelle zu durchgeführten Exorzismen gibt es nicht, wie Axel Seegers, Theologe und Leiter einer katholischen Beratungsstelle in München angibt.
Exorzismus: Die rituelle Austreibung des Bösen
Der Begriff Exorzismus wird vom griechischen Wort „exorkismós“ abgeleitet und bedeutet so viel wie „herausbeschwören“. Vor allem von der Katholischen Kirche durchgeführt, versteht sie darunter die Dämonenaustreibung Jesu. Es handelt sich dabei um die rituelle Vertreibung böser Mächte und Geister aus Personen, Lebewesen oder auch Gegenständen.
In der Theorie wird bei einem Exorzismus eine Bitte an Gott gerichtet, die betroffenen Menschen von bösen Mächten zu befreien. Diese rituelle Austreibung muss laut dem Kirchenrecht von 1983 von dem zuständigen Bischof genehmigt werden. Dort heißt es: „Niemand kann rechtmäßig Exorzismen über Besessene aussprechen, wenn er nicht vom Ortsordinarius eine besondere und ausdrückliche Erlaubnis erhalten hat.“
Der sogenannte „Große Exorzismus“ besteht aus mehreren Komponenten, darunter Segens- und Beschwörungsformeln, aber auch Gebete. Im ersten Schritt wird die besessene Person durch den Priester mit Weihwasser besprenkelt. Dieses Ritual wird ebenfalls bei der Taufe durchgeführt und dient der Reinigung. Im zweiten Schritt folgt eine Litanei, in der Gott angerufen und die Fürsprache aller Heiligen erbeten wird.
Darauffolgend können auch Psalmgebete in die rituelle Austreibung integriert werden. Im vorletzten Schritt verliest der durchführende Priester einen Evangeliumstext. Abschließend folgt das Händeauflegen bei der betroffenen Person, was die Macht des Heiligen Geistes anrufen soll, um den Teufel auszutreiben.
Der Große Exorzismus endet mit dem Glaubensbekenntnis oder auch der Erneuerung des Taufgelübdes. Der durchführende Exorzist, also der Priester, präsentiert der betroffenen Person das Kruzifix und spricht die eigentliche Exorzismus-Formel, bestehend aus einer beschwörenden Bitte an Gott und einem Befehl an den Teufel: „Ich gebiete dir, unreiner Geist, als Diener der Kirche in der Kraft des gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus Christus, weiche!“
Seit 1998 wird nicht mehr zwischen dem Kleinen und dem Großen Exorzismus unterschieden. Unter dem Kleinen Exorzismus wurde das Gebet um die Befreiung vom Bösen verstanden, welches im Taufritus verankert ist. Der Große Exorzismus hingegen muss von einem Bischof genehmigt werden, damit der ausführende Priester als Exorzist agieren darf.

Bibel mit Kreuz

Cover National Geographic 10/24
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