Als die Wikinger in Amerika waren

Vor 1000 Jahren segelten die Nordmänner in eine neue Welt, man weiß nur wenig darüber.

Von Heather Pringle
bilder von David Coventry
Foto von David Coventry

Irgendetwas stimmt nicht mit diesen Schnüren. Das fällt Patricia Sutherland gleich auf. Sie sehen rau aus und fühlen sich doch ganz weich an. Die Bänder stammen aus einer verlassenen Siedlung an der Nordspitze der kanadischen Baffin Island, weit nördlich des Polarkreises. Ein katholischer Missionar fand sie in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den Ruinen, zusammen mit Hunderten weiterer Artefakte. Das Garn besteht aus den kurzen Fellhaaren eines Polarhasen und unterscheidet sich deutlich von den Sehnen, aus denen die Polarjäger einst Zwirn drehten. Wie gelangte es hierher? Der Priester war ratlos, packte die Wollfasern und anderen Fundstücke in Kisten und schickte sie an das Canadian Museum of Civilization in Gatineau, Quebec, wo Sutherland arbeitet.

Es ist im Jahr 1999, als die Polararchäologin die Schnüre unter dem Mikroskop untersucht. Besonders erstaunt ist sie über deren Struktur. Die Ureinwohner von Baffin Island konnten weder spinnen noch weben. Sie nähten ihre Kleidung aus Tierhäuten und Fellen. Woher kam dann die gesponnene Wolle?

Einige Jahre zuvor hat Sutherland bei den Ausgrabungen eines Wikinger-Bauernhofs in Grönland geholfen. Dort fanden die Forscher ähnliche Reste von Bändern. Die Archäologin nimmt zu einem dänischen Kollegen Kontakt auf. Einige Wochen später erfährt sie von einem Experten für Kleidung der Wikinger, dass die kanadischen Fasern dem Material aus Grönland gleichen. „Es verschlug mir den Atem“, erinnert sie sich.

Die Entdeckung wirft spannende Fragen auf, die Sutherland seither beschäftigen. War eine Gruppe nordischer Seefahrer an der entlegenen Inselküste gelandet und hatte freundschaftlichen Kontakt zu den Ureinwohnern aufgenommen? Sind die Schnüre also der Schlüssel zu einem wenig bekannten Kapitel der frühen gemeinsamen Geschichte Europas und Amerikas?

Nordmänner in der Neuen Welt

Im Mittelalter waren die Wikinger die besten seefahrenden Entdecker. Ihre sorgfältig konstruierten, solide gebauten Segelschiffe machen bis heute Eindruck. Auf Streifzügen nach Land, Gold und anderen Schätzen stachen die Nordmänner von ihrer skandinavischen Heimat aus in See. Im 8. Jahrhundert erreichten sie England, Schottland und Irland. Mittelalterliche Manuskripte erzählen von brutalen Überfällen auf Klöster und Städte. Viele Wikinger trieben Handel mit fernen Ländern; im 9. Jahrhundert wagten sich ihre Kaufleute bis zum Schwarzen Meer. An den wichtigen eurasischen Handelswegen gründeten sie Siedlungen und tauschten die feinsten Güter: Glas aus dem Rheintal, Silber aus dem Nahen Osten, Muschelschalen aus dem Roten Meer, Seide aus China .

Die Wagemutigsten segelten über den rauen Nordatlantik weit gen Westen. Auf Island und in Grönland gründeten sie bäuerliche Kolonien und füllten Lagerhäuser mit arktischen Luxusgütern, besonders Walross-Elfenbein und Narwalzähnen, für die europäischen Märkte. Manche der Seefahrer wagten sich furchtlos ins Ungewisse und manövrierten zwischen Eisbergen hindurch bis nach Amerika.

Irgendwann zwischen 989 und 1020 landeten Wikingerschiffe an der Küste von Neufundland. Mehrere Dutzend Männer und Frauen errichteten drei Gemeinschaftshäuser und einige Grassodenhäuser, die unter anderem als Weberei, Schmiede und Werkstatt dienten.

Vor etwa 50 Jahren entdeckten der norwegische Forschungsreisende Helge Ingstad und seine Frau, die Archäologin Anne-Stine Ingstad, die überwucherten Ruinen dieses Lagers in L’Anse aux Meadows und begannen mit Ausgrabungen. Später fanden kanadische Archäologen eiserne Schiffsnägel und andere Gegenstände, die vermutlich von einem untergegangenen Wikingerschiff stammten. Die folgenden Jahre brachten allerdings nur wenige neue Erkenntnisse über die Anwesenheit der Nordmänner in der Neuen Welt.

Unterwegs im „Steinplattenland“

Patricia Sutherland arbeitet inzwischen an der Universität von Aberdeen in Schottland, doch die Siedlung auf Baffin Island hat sie nie losgelassen. Im sanften Morgenlicht steigen sie und ihre Mitarbeiter im Gänsemarsch einen steinigen Pfad hinab in das Tanfield Valley. Der starke Wind vom Vorabend hat nachgelassen, die schweren Wolken haben sich verzogen. Blauer Himmel. Die Wikinger nannten diese Gegend Helluland: „Steinplattenland“. Lange vor ihrer Ankunft hatten Ureinwohner hier schon eine Siedlung gebaut, bekannt als Nanuk.

Aufmerksam sucht Sutherland die Küste nach Eisbären ab. Heute zeigt sich keiner. Sie geht zwischen zwei Teichen hindurch und lächelt. „Dies ist das grünste Tal weit und breit“, sagt sie. „Es gibt reichlich Torf für den Hausbau.“

Unter uns liegt eine geschützte Bucht, ein natürlicher Hafen für ein kleines seegängiges Wikingerschiff. An moorigen Stellen zeigt ölig wirkender Mikrobenschlamm Vorkommen von Raseneisenstein an. Die Wikinger waren Meister in der Verarbeitung dieser Erzvorkommen. Als Sutherland eine kleine Anhöhe zur Grabungsstelle hinaufsteigt, schlägt ihre Laune um. In den Gruben steht das Wasser nach dem Unwetter des Vorabends noch 20 Zentimeter hoch. Es wird Stunden dauern, sie zu leeren. „Uns läuft die Zeit davon“, schimpft die Forscherin.

Silbergraue Locken, eine mädchenhafte Stimme und gerade mal 1,52 Meter Körpergröße – Patricia Sutherland ist eine eher ungewöhnliche Expeditionsleiterin. Aber ein Wirbelwind. Die 63-jährige Archäologin steht morgens als Erste auf und kriecht abends als Letzte in den Schlafsack. Tagsüber ist sie überall gleichzeitig. Sie backt Pfannkuchen, bereitet Mittagessen für Inuit-Älteste zu und überprüft den Elektrozaun, der Bären fernhalten soll. Für jede noch so kleine Entscheidung fühlt sie sich zuständig. Vor drei Monaten wurde sie an der Schulter operiert; jetzt, nach vier Wochen im Grabungscamp, ist ihr linker Arm so angeschwollen, dass sie ihn in einem Tuch tragen muss. Trotzdem ist sie voller Tatendrang.

Nachdem vor anderthalb Jahrzehnten das Garn die Neugier der Wissenschaftlerin geweckt hatte, machte sie sich im Depot des Canadian Museum of Civilization auf die Suche nach Artefakten der als Dorset-Kultur bekannten Nomaden der Arktis. Archäologen hatten diese Dinge in verschiedenen Stätten ausgegraben. Die Jäger lebten fast 2.000 Jahre lang an den arktischen Küsten, bis sie Ende des 14. Jahrhunderts verschwanden.

Sutherland untersuchte mehrere hundert vermutlich aus der Dorset-Kultur stammende Objekte, viele auch unter dem Mikroskop. Dabei fand sie weitere gesponnene Fasern aus den vier wichtigen Fundstätten Nunguvik, Tanfield Valley, Willows Island und den Avayalik Islands. Sie liegen alle an der 2000 Kilometer langen Küstenlinie zwischen dem Norden von Baffin Island und dem nördlichen Labrador. Die Forscherin stellte noch mehr ungewöhnliche Übereinstimmungen fest.

Die Archäologen hatten überall Holzstücke gefunden – aber die Landschaft besteht aus baumloser Tundra. Sutherland identifizierte zudem Reste von Rechenstäben, auf denen die Wikinger offenbar Geschäftsabschlüsse dokumentiert hatten, außerdem Wollspindeln und Holzteile mit eckigen Nagellöchern und Flecken, die möglicherweise von Eisen herrühren. Eines der Holzteile stammt aus dem 14. Jahrhundert, das ergab die sogenannte C-14-Datierung. Damals ging die Zeit der Nordmänner auf Grönland schon dem Ende zu.

Je weiter Sutherland in die alten Dorset-­Samm­lungen vordrang, desto mehr Belege fand sie dafür, dass Wikinger an dieser Küste gelandet waren. Zum Beispiel fast 30 traditionelle nordi­sche Wetzsteine, die zur Standardausrüstung der Nordmänner gehörten. Außerdem Schnitzereien mit europäisch wirkenden Gesichtern.

Die Objekte verweisen auf friedliche Beziehungen zwischen Dorset­-Jägern und den Wikin­gern, doch Sutherland wollte weitere Belege. Dazu waren Ausgrabungen nötig, und das Tanfield Valley erschien ihr besonders vielverspre­chend. In den sechziger Jahren hatte der ameri­kanische Archäologe Moreau Maxwell dort Teile eines Gebäudes aus Stein und Grassoden freige­legt. Er konnte die Überreste nur schwer einordnen, kam aber zu dem Schluss, dass wohl Dor­set-­Jäger hier eine Unterkunft errichtet hatten.

Sutherland findet die Theorie wenig überzeu­gend. Die Dorset bauten kleine Häuser, kaum größer als ein durchschnittliches Schlafzimmer heutiger Zeit. Aber eine Außenwand des Hauses in Tanfield Valley misst allein schon zwölf Meter, und das Gebäude dürfte um einiges größer ge­wesen sein.

Ein kalter Nachmittag in der Arktis

In einer der geheimnisvollen Hausruinen beugt sich Sutherland über ein quadratisches Erdstück. Mit der Spitze ihrer Archäologenkelle lockert sie ein kleines Stück Walknochen und hebt es auf. Als sie das Erdreich wegbürstet, kommen zwei Bohrlöcher zum Vorschein. Die Menschen der Dorset­Kultur kannten keine Bohrinstrumente. Sie meißelten Löcher in Gegenstände. Die Wikinger verfügten hingegen über Holzbohrer unter anderem für den Schiffbau, bei dem sie auch Holzdübel verwendeten.

Sutherland steckt ihren Fund in einen Plastik­ beutel. Dabei erzählt sie, dass hier früher weitläufige Ausgrabungen vorgenommen wurden. Sie und ihre Kollegen müssten daher nach un­scheinbaren, zuvor übersehenen Spuren suchen. In Sedimenten aus den Mauern fanden sie zum Beispiel winzige Fellteilchen. Die Analyse ergab, dass sie zu einer europäischen Rattenart ge­hörten. Wahrscheinlich waren die Nagetiere per Schiff in die Arktis gelangt.

Anderswo in der Ruine fanden die Forscher eine aus Walknochen gefertigte Schaufel, die jenen aus grönländischen Wikingersiedlungen stark ähnelt. Sie ist «von gleicher Größe und aus dem gleichen Material wie die Spaten, mit denen einst die Torfsoden für Häuser gestochen wur­den», erklärt Sutherland. Wie zum Beweis entdeckte ihr Team auch Reste von Torfblöcken, mit denen Wikinger die Hauswände isolierten.

Sie fanden auch ein Fundament aus großen Steinen, die offenbar von jemanden geformt wurden, der sich mit nordischer Steinmetz­kunst auskannte. Die Größe des Gebäudes, die Art der Wände und eine mit Steinen ausgelegte Abflussrinne entsprechen der Ausstattung grönländischer Wikingerbauten. An einer Stelle riecht es immer noch nach Latrine. Am Boden hat ein Archäologe handgroße Moosstücke freigelegt, die den Wikingern als Toilettenpapier dienten. «Die Menschen der Dorset-Kultur blieben nie lange an einem Ort und bauten deshalb keine Toiletten», erklärt Sutherland.

Aber weshalb hielten sich die Wikinger auf diesem windumtosten Zipfel von Helluland lange genug auf, um Gebäude zu errichten? Offenbar weil sie wertvolle Handelsgüter fanden.

Die wahren Geschäftsleute des Polargebiets

Gegen Ende des 9. Jahrhunderts besuchte ein wohlhabender Kaufmann der Wikinger den Hof von König Alfred dem Großen in England. Der Fremde, der sich Ohthere nannte, trug kostbare Kleidung und erzählte von seiner langen Reise zum Weißen Meer. Dann schenkte er dem König Walross-Stoßzähne. Aus deren Elfenbein wurden damals glänzende Schachfiguren und an- dere exquisite Kunstwerke geschnitzt.

Ohthere war nicht der einzige Wikinger, der die europäische Nachfrage nach edlen Waren aus dem kalten Norden bediente. Jedes Jahr im Frühling zogen Männer aus den Siedlungen West- und Ostgrönlands in das ergiebige Jagdgebiet Nordsetur an der Nordküste und stellten Walrossen und anderen arktischen Tieren nach. Sie beluden ihre Boote mit Tierhäuten, Pelzen, Elfenbein und sogar lebenden Eisbärjungen, mit denen sie handelten. Doch nur zwei oder drei Tagesreisen westlich, auf der anderen Seite der Davisstraße, lagen noch ergiebigere Jagdgründe. Die gletscherbedeckten Berge von Helluland waren alles andere als einladend, aber in den eiskalten Gewässern tummelten sich Walrosse und Narwale, und an Land wimmelte es von Karibus und kleinen Pelztieren.

Wie Ohthere suchten auch die Wikinger, die vor tausend Jahren die nordamerikanische Küste erkundeten, dort vermutlich nach Handelspartnern. In einem von ihnen als Vinland bezeichneten Gebiet in Neufundland begegnete man den Neuankömmlingen feindselig. Die Ureinwohner waren gut bewaffnet und betrachteten die Fremden als Eindringlinge. Doch in Helluland erkannten die kleinen nomadischen Gruppen von Dorset-Jägern eine Chance und hießen die Fremden willkommen. Sie besaßen nur wenige Kampfwaffen, waren aber meisterliche Walrossjäger und Fallensteller. Sie fingen Pelztiere, aus deren weichen Fellhaaren sich feinstes Garn spinnen ließ. Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass die Menschen der Dorset-Kultur leidenschaftliche Händler waren. «Sie können als die wahren Geschäftsleute des Polargebiets gelten», sagt Sutherland.

Die Wikinger hatten von den Ureinwohnern wenig zu fürchten. Im Tanfield Valley errichteten sie offenbar ein saisonales Lager. In der Region gab es Schneefüchse im Überfluss. Die Fremden verfügten über zwei ausgesprochen attraktive Güter im Tausch für die Pelze: Holzstücke zum Schnitzen und kleine Metallbrocken, die man zu Messern fertigen konnte. Der Handel mit Pelzen und anderen Luxuwaren florierte anscheinend. Archäologische Befunde zeigen, dass einige Familien nur einen Steinwurf von der Wikingersiedlung entfernt lebten und dort Tierfelle präparierten.

Für Patricia Sutherland gibt es noch viel zu tun. Bisher ist erst ein kleines Gebiet des Tanfield Valley erforscht. Die neuen Belege der Archäologin für friedliche Beziehungen zwischen nordischen Seefahrern und nordamerikanischen Ureinwohnern sowie die Entdeckung des wohl frühesten Pelzhandels von Europäern in Amerika haben eine intensive Debatte ausgelöst. In der Archäologie geht es stets um Deutung von Funden. Wie bei der Entdeckung von L’Anse aux Meadows vor vier Jahrzehnten wird der Weg bis zur Anerkennung auch diesmal schwer und langwierig sein. Aber Patricia Sutherland ist fest entschlossen, die Zweifler zu überzeugen.

Sie zieht sich das Moskitonetz übers Gesicht und gräbt weiter. «Wir werden hier noch viel mehr finden», sagt sie und lächelt.

(NG, Heft 11 / 2012, Seite(n) 74 bis 87)

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