Das Vermächtnis der Azteken

Mitten in Mexiko-Stadt, wo einst die Azteken-Hauptstadt Tenochtitlan stand, suchen Archäologen die Götter und Gräber der letzten Aztekenherrscher. Mit Erfolg: Neue Funde erhellen ein bisher dunkles Kapitel in der Zeit der frühen Herrscher Mexikos.

Von Robert Draper
bilder von Kenneth Garrett und Jesús López
Foto von Kenneth Garrett und Jesús López

Auf dem berühmten Zócalo-Platz in Mexikostadt, ganz am Rand, neben den Ruinen der heiligen Azteken-Pyramide Templo Mayor, entdeckten Wissenschaftler die Überreste einer seltsamen Kreatur. Das Tier – ein Hund? ein Wolf? – lag 500 Jahre lang in einem zweieinhalb Meter tiefen Schacht. Wahrscheinlich hatte es weder einen Namen noch einen Besitzer. Aber irgendjemandem muss dieses Tier viel bedeutet haben: Es trug ein Halsband aus Jadeperlen, Türkisstecker an den Ohren und Goldreife.

Mit kleinen goldenen Schellen an seinen Fesseln. Entdeckt wurde der seither Aristo-Canine (etwa: das aristokratische Hundetier) genannte Fund von einem Archäologenteam unter der Leitung von Leonardo López Luján im Sommer 2008. Zwei Jahre zuvor hatten die Grabungen an diesem Ort begonnen, nachdem bei Ausschachtungsarbeiten für einen Neubau ein erstaun­liches Objekt ans Licht gefördert worden war: ein zwölf Tonnen schwerer, rechteckiger Monolith aus blassrosa Andesit.

Die Steinplatte war in vier Teile zerbrochen. Ihr Relief zeigt ein furchterregendes Abbild der Erdgöttin Tlaltecuhtli (ausgesprochen „tlal-tek-tli“), die den aztekischen Kreislauf von Leben und Tod symbolisiert. Sie ist dargestellt, wie sie hockend ein Kind zur Welt bringt und das Blut ihrer Nachgeburt trinkt. Dieser Fund ist bereits der dritte, flache aztekische Monolith, der in der Umgebung des Templo Mayor entdeckt wurde. Der erste – 1790 freigelegt – war ein 24 Tonnen schwerer schwarzer Basalt-Sonnenstein. Und 1978 wurde die acht Tonnen schwere Scheibe der Mondgöttin Coyolxauhqui gefunden.

Nach jahrelanger Grabungsarbeit stießen López Luján und sein Team in einer tiefen Grube neben dem Reliefstein auch auf einige ausgesprochen exotische Opfergaben der Azteken. Unter einer mit Gips ausgebesserten Stelle auf dem Boden des Zócalo entdeckten sie 21 rot bemalte Opfermesser aus weißem Feuerstein. Sie symbolisieren die Zähne und das Zahnfleisch der monströsen aztekischen Erdgöttin. Ihr Mund steht weit offen, um die Toten aufzunehmen. Noch tiefere Grabungen brachten ein in Agaveblätter gewickeltes Bündel zutage. Es enthielt mit Spitzen versehene Jaguarknochen, die dazu dienten, menschliche Opfer zu durchbohren. Azteken-Priester vergossen damit auch ihr eigenes Blut als Geschenk an die Götter. Neben diesen Perforatoren lagen Stücke des Copal-Harzes, das als Weihrauch ebenfalls zur spirituellen Reinigung genutzt wurde. Zudem enthielt das Bündel Federn und Jadeperlen – alles sorgsam angeordnet.

Zur Überraschung von López Luján lag mehrere Meter unter dem Bündel eine weitere Opfergabe, diesmal in einem Steinbehälter. Darin zwei nach Westen ausgerichtete Skelette von Steinadlern (die Vögel galten als Sonnensymbole). Um sie herum waren 27 Opfermesser arrangiert, von denen 24 wie Puppen in Fellen und anderen Bekleidungen steckten. Sie stellen Gottheiten dar, die ebenfalls mit der untergehenden Sonne in Verbindung gebracht wurden. Bis Januar 2010 hatte das Team insgesamt sechs Opfergaben in dem Schacht entdeckt. Die tiefste von ihnen lag sieben Meter unter Straßenniveau und enthielt einen Keramikkrug mit 310 Grünsteinperlen, Ohrsteckern und kleinen Figuren. Jeder der ausgegrabenen Gegenstände war offenbar mit Bedacht präzise platziert worden. Zusammen bildeten sie die gesamte Kosmologie des Azteken-Reichs nach.

Ganz unten am Boden der zweiten Opferkiste fand López Luján ein reich geschmücktes Tier. Es war mit Meeresmuscheln sowie Resten von Krebsen und Schnecken bedeckt – Lebewesen, die aus dem Golf von Mexiko , dem Atlantik und dem Pazifik hergebracht worden waren. López Luján wusste, dass dieses Tableau in der aztekischen Kosmologie auf die erste Stufe der Unterwelt hindeutet, wo der Hund die Seele seines Herrn über einen gefährlichen Fluss geleitet.

Doch wessen menschliche Seele? Seit der Eroberung Mexikos durch den Spanier Hernán Cortés im Jahr 1521 sind keine Überreste eines Azteken-Herrschers mehr entdeckt worden. Doch die historischen Aufzeichnungen belegen die Feuerbestattung dreier aztekischer Herrscher. Ihre Asche soll am Fuß des Templo Mayor zu Grabe getragen worden sein. Bei der Ent­deckung der Erdgöttin Tlaltecuhtli bemerkte López Luján, dass die Götterfigur ein Kaninchen im rechten Klauenfuß hielt. Darüber waren zehn Punkte zu sehen. In der Azteken-Schrift steht „10 Kaninchen“ für das Jahr 1502. Die aus jener ­Periode überlieferten Codices belegen, dass Ahuitzotl („Ah-ui-tzohtl“ ausgesprochen), der meistgefürchtete Herrscher des Reichs, in jenem Jahr feierlich bestattet wurde.

López Luján ist überzeugt davon, dass das Grab von Ahuitzotl nicht weit von der Fundstelle des Reliefsteins sein kann. Sollte er recht haben, dann handelt es sich beim sogenannten Aristo-Hund wohl um einen unterirdischen Führer zu den Geheimnissen eines Volks, das wir unter dem Namen Azteken kennen. Sie selber bezeichneten sich allerdings als Mexica (ausgesprochen: „Meh-schi-ka“). Das Vermächtnis dieser Kultur gilt als Herzstück der mexikanischen Identität.

Gelingt es López Luján, das Grab zu finden, dann wäre dies der Höhepunkt außergewöhnlicher, bereits seit 32 Jahren andauernder Forschungen, die Licht ins Dunkel eines oft mythologisierten und missverstandenen Reichs bringen sollen. „In Mexiko ist die Vergangenheit allgegenwärtig“, sagt López Luján. Dies trifft besonders auf das Azteken-Reich zu, auf dessen Grundfesten das moderne Mexiko – buchstäblich – erbaut ist.

Im Jahr 1978 kam die Sensation ans Licht: Forscher entdeckten den Templo Mayor – mitten in der zweitgrößten Metropole der Welt! Diese Erkenntnis hatte ein Spektakel zur Folge, das eher an eine Broadway-Premiere gemahnte als an einen archäologischen Triumph. Aus aller Welt reisten Prominente an: Jimmy Carter, François Mitterrand, Gabriel García Márquez, Jacques Cousteau, Jane Fonda. Heute wiederholt sich das Ganze: Seit bekannt wurde, dass vermutlich einer oder mehrere Herrscher am Rande des Platzes begraben liegen, verbringt López Luján viel Zeit damit, Prominente durch die beengte Ausgrabungsstätte an der Westseite der Pyramide zu schleusen. Auch ganz normale Leute bitten am gesicherten Eingang um Einlass. Oft erfüllt López Luján diesen Wunsch. Der gut aufgelegte 46-Jährige versteht die psychische Anziehungskraft dieses Orts. „Den Mexikanern ist bewusst, dass sie in einer tragischen Gegenwart leben“, sagt er. „Doch die Vergangenheit vermittelt ihnen ein gewisses Selbstbewusstsein.“

Anders als die über mehrere Länder verbreitete Kultur der Maya – die andere große präkolumbische Macht in Mesoamerika –, werden die Azteken ausschließlich mit Mexiko identifiziert. Das Land lässt keine Gelegenheit aus, die mythische Kraft seiner Vorfahren für sich zu nutzen. Die mexikanische Flagge zeigt in der Mitte den Azteken-Adler. Er ziert auch die Logos der beiden wichtigsten Fluggesellschaften des Landes. Es gibt die Bank Azteca und den Sender TV Azteca. Der Adler prangt auf den Trikots der Fußballnationalmannschaft. Heimspiele werden im Estadio Azteca ausgetragen. Auch Mexiko-Stadt gemahnt unwillkürlich an den Stadtstaat Tenochtitlán – und an die aztekische Unbezwingbarkeit.

Doch wer die Azteken lediglich als Symbole betrachtet, missversteht sie. Ihr mächtiges Reich, eine Dreierallianz der Stadtstaaten Tenochtitlán, Texcoco und Tlacopán, existierte kaum hundert Jahre lang, bevor es von den europäischen Eroberern vernichtet wurde. So viel Angst und Schrecken diese Herrscher in den von ihnen kontrollierten Gebieten auch verbreiteten, ihre Macht war flüchtig. Sie bauten keine Tempel und zwangen niemandem ihre Kultur auf, so wie etwa die Römer oder die Inka.

Stattdessen unterhielten die Azteken ein „cheap empire“ (etwa: „billiges Reich“), wie manche Wissenschaftler es nennen. Die Eroberten durften sich selber regieren, solange sie Tribut in Form bestimmter Waren entrichteten. Das Schutzsystem wurde durch gelegentliche Machtdemonstrationen bekräftigt. Ihren Einfallsreichtum bewiesen die Azteken im Zentrum von Tenochtitlán. Doch viele seiner Bräuche, Bilder und religiösen Praktiken entlehnte dieses Volk älteren Kulturen.

López Lujáns Vater, der Mesoamerika-Experte Alfredo López Austin, formuliert es so: «Das gängigste Missverständnis lautet, dass die Azteken eine durch und durch eigene Kultur schufen. Das stimmt nicht.» Doch das Zerrbild von einem blutrünstigen Volk ist ebenso unzutreffend. Die spanischen Eroberer überschätzten die Gewalttätigkeit der Mexica gründlich. Sie behaupteten beispielsweise, dass bei einer einzigen Tempelweihung 80400 Menschen umgebracht worden wären. Doch solch ein Blutbad hätte Zentralmexiko großenteils entvölkert. Daher kursieren heute auch Meinungen, die jegliche Menschenopfer der Azteken als europäische Fiktion von der Hand weisen.

Das geht allerdings zu weit. In den vergangenen 15 Jahren ergaben chemische Untersuchungen poröser Oberflächen in ganz Mexiko-Stadt «überall Blutspuren», sagt López Luján. «Da sind die Opfersteine, die Opfermesser, die Leichen von 127 Opfern: Die Menschenopfer lassen sich nicht leugnen.» Er fügt jedoch sogleich hinzu, dass es diese Praktiken damals auch anderswo auf der Welt gab. Die Maya und zahlreiche andere Kulturen pflegten schon vor den Azteken solche Riten. «Diese Form der Gewalt charakterisiert nicht die eine oder andere Volksgruppe – sondern das Zeitalter. Es herrschte eine kriegsähnliche Atmosphäre, in der die Religionen Menschenopfer zur Besänftigung der Götter verlangten», erklärt López Austin.

Entstanden war das Azteken-Reich aus dem Nichts. Die ersten Mexica kamen von Norden, angeblich aus Aztlán. Allerdings weiß niemand, wo dieses Land gelegen haben könnte oder ob es außerhalb der Legenden überhaupt existierte. Diese Zuwanderer sprachen Nahuatl, wie schon die mächtigen Tolteken, deren Vorherrschaft in Zentralmexiko im 12. Jahrhundert geendet hatte. Die Sprache der Mexica war die einzige Verbindung zu früheren Hochkulturen. Des Öfteren wurden die Neuankömmlinge wieder aus dem Hochtal von Mexiko vertrieben. Schließlich stießen sie auf eine Insel im Texcoco-See, die sonst niemand beanspruchte. Im Jahr 1325 gaben sie ihr den Namen Tenochtitlán („Stadt des Tenoch“). Die Insel war kaum mehr als ein Sumpf. Es gab weder Trinkwasser noch Steine und Holz zum Bauen. Doch die zerlumpten Siedler, vom renommierten Gelehrten Miguel León-Portilla als «so gut wie kulturlos» beschrieben, glichen dies mit einem «unbezwingbaren Willen» aus.

Die Siedler besetzten die Ruinen der ehemals mächtigen Stadtstaaten Teotihuacán und Tula. Alles, was sie dabei vorfanden, machten sie sich zu eigen. Um 1430 war Tenochtitlán mächtiger als die beiden untergegangenen Städte zu ihrer Blütezeit. Die Siedlung besaß nun beeindruckende Aquädukte und war von Kanälen und Dämmen durchzogen, die das Stadtgebiet in vier Quadranten teilten. Das Wassersystem war rings um eine zentrale Pyramide angeordnet, die über zwei Treppenaufgänge und einen Doppeltempel auf dem Plateau an der Spitze verfügte. Ihre Architektur war wenig originell, aber genau das war die Absicht. Die Mexica wollten eine Verbindung zu ihren Vorfahren herstellen. Dafür sorgte auch der berüchtigte Berater des Herrschers, Tlacaelel – mit viel Propaganda.

In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts schrieb Tlacaelel die gesamte Geschichte der Mexica um. Er erklärte sein Volk zu Nachkommen der großen Tolteken und erhob den Sonnen- und Kriegsgott Huitzilopochtli in den Pantheon erhabener toltekischer Gottheiten. Und er ging noch einen entscheidenden Schritt weiter. Wie Miguel León-Portilla schreibt, gab Tlacaelel dem Reich die neue, schicksalhafte Bestimmung, «alle anderen Länder zu erobern... um Opfer gefangen zu nehmen. Denn die Sonne, Quelle allen Lebens, würde sterben, wenn ihr kein menschliches Blut zugeführt würde».

So unterwarfen die Mexica eine Stadt nach der anderen. So stiegen die einst geschmähten Zuwanderer immer weiter auf. Mitte des 15. Jahrhunderts zogen sie unter Moctezuma I. mehr als 300 Kilometer nach Süden und erweiterten ihr Gebiet bis in die heutigen Bundesstaaten Morelos und Guerrero hinein. Einige Jahre später drangen sie nach Norden und bis zur Golfküste vor. 1465 wurde mit dem Chalco-Bündnis der letzte Widerstand im Hochtal von Mexiko gebrochen. Es sollte dem achten Azteken-Herrscher, Ahuitzotl, beschieden sein, das Reich bis zum Zerreißen auszudehnen.

Ahuitzotl hat kein Gesicht. Von dem Mann, nach dessen Überresten López Luján am Templo Mayor sucht, gibt es kein Bildnis. «Die einzigen uns vorliegenden Darstellungen eines aztekischen Herrschers zeigen Moctezuma II., und auch sie wurden erst nach seinem Tod auf der Grundlage von spanischen Beschreibungen angefertigt», sagt López Luján über den letzten mexikanischen Herrscher vor der Eroberung durch die Spanier. «Wir kennen viele Einzelheiten aus dem Leben von Moctezuma II., aber wir wissen fast nichts über Ahuitzotl.»

So viel ist bekannt: Der ranghohe Offizier bestieg 1486 den Thron, nachdem sein Bruder Tizoc die Kontrolle über das Reich verloren hatte und ums Leben gekommen war – möglicherweise durch Gift, vielleicht aber auch durch die Hand seines jüngeren Bruders. Schon sein Name verweist auf Gewalt: Im Nahuatl bezeichnet das Wort ahuitzotl ein bösartiges, otterähnliches Wesen, das mit seinem muskulösen Schwanz Menschen erwürgen konnte. In den 16 Jahren seiner Herrschaft gelangen Ahuitzotl 45 Eroberungen.

Diesen Erfolgen sind farbenprächtige Darstellungen im Codex Mendoza gewidmet, einer Dokumentation der aztekischen Bilderschrift und Kultur aus der frühen spanischen Kolonialzeit.

Ahuitzotls Truppen eroberten Gebiete vom Pazifik bis hinunter ins heutige Guatemala. Manche Feldzüge waren reine Machtdemonstrationen zur Abstrafung widerspenstiger Herrscher. Doch die meisten Kämpfe dienten der Befriedigung von zwei Begierden: Schätze zu rauben – und Menschen gefangen zu nehmen, um sie den Göttern zu opfern.

Als Ahuitzotl an die Macht kam, war der oberste Wille der Azteken-Herrschaft bereits fest etabliert: das Beste zusammenzuraffen, was eine Region zu bieten hatte. «Händler fungierten als Spione», erklärt der Archäologe Eduardo Matos Moctezuma, der von 1978 an die weitläufigen Ausgrabungen am Templo Mayor leitete. Die Späher erkundeten, über welche Reichtümer eine Stadt verfügte, und das Heer des Herrschers bereitete daraufhin seinen Angriff vor. «Die militärische Expansion war eine Ausweitung der Wirtschaftsmacht», erklärt Matos Moctezuma. «Die Azteken zwangen niemandem ihre Religion auf. Sie waren nur auf die Schätze aus.»

Nichts – nicht einmal Gold – war für die mesoamerikanischen Völker von größerem Wert als Jade. Der Schmuckstein symbolisierte Fruchtbarkeit und kam in Mittelamerika nur in den Bergwerken von Guatemala vor. Es überrascht daher nicht, dass Ahuitzotl Handelswege dorthin anlegen ließ und sich nicht nur die begehrten grünen Steine sicherte, sondern, so López Luján, «auch Quetzalfedern, Gold, Jaguarhäute und Kakao, der den Azteken als auf Bäumen wachsendes Geld diente». Dank dieser Reichtümer entwickelte sich Tenochtitlán zu einem mächtigen Zentrum des Handels und der Kultur, «damals die vielfältigste Stadt der Künste, ähnlich wie später Paris und New York», sagt der Forscher. Die eroberten Schätze nutzten die Mexica zur Ausschmückung der kunstvollen religiösen Rituale in Tenochtitlán. Der Templo Mayor war nicht einfach nur eine Grabpyramide wie seine Gegenstücke im Alten Ägypten. Er war ein Symbol des heiligen Bergs von Coatepec. Dieser „Schlangenhügel“ galt als Schauplatz einer kosmologischen Seifenoper: Der neugeborene Sonnengott Huitzilopochtli ermordet seine Schwester, die Kriegerin und Mondgöttin Coyolxauhqui, und schleudert ihre Leiche vom Berg hinab. Die Mexica glaubten, regelmäßig dargebrachte Menschenopfer würden die Götter zufriedenstellen und den Kreislauf des Lebens erhalten. Aber ohne solchen Tribut würden die Götter zugrunde- und die Welt untergehen.

«Der heilige Berg ist ein ebenso wichtiges Symbol wie das Kreuz im Christentum», sagt der Religionshistoriker Davíd Carrasco. Für die Mexica und die meisten anderen mesoamerikanischen Kulturen «wiederholten sich Zerstörung und Schöpfung ständig». Es war Teil der Rituale zu Ehren des heiligen Bergs, dass farbenprächtig gekleidete gefangene Soldaten die Stufen der Pyramide hinaufsteigen und zeremonielle Tänze aufführen mussten. Anschließend schnitt man ihnen das Herz aus dem Leib und rollte ihre Leichen die Stufen hinunter.

Um genügend Gefangene zum Opfern zu haben, unternahmen die Azteken ständig Feldzüge. An bestimmten Tagen wurden auf neutralem Gebiet rituelle Schlachten veranstaltet, bei denen es nicht um Landgewinn, sondern ausschließlich um Gefangene ging.

Wie der Azteken-Forscher Ross Hassig bemerkt, wurde jeder Krieg damit begonnen, dass «zwischen den beiden Armeen ein großer Scheiterhaufen aus Papier und Weihrauch abgebrannt wurde». Die Mexica sprachen aber nicht von einem „Heiligen Krieg“ – denn für sie galt jeder Krieg als heilig. Kampf und Religion waren untrennbar miteinander verbunden.

Mehr als all seine Vorgänger erweiterte Ahuitzotl das Reich nach Süden, schnitt die Handelswege der mächtigen Tarasken im Westen ab und regierte alle eroberten Gebiete mit harter Hand. «Er war energischer und brutaler als alle anderen», sagt der Archäologe Raúl Arana.

«Wurden Tributzahlungen verweigert, schickte er das Militär. Unter Ahuitzotl erreichten die Azteken ungeahnte Größe. Aber das war vielleicht zu viel. Irgendwann stoßen alle Machtsysteme an ihre Grenzen.» Diesen mächtigen Erbauer ihres Reichs verloren die Mexica auf dem Höhepunkt ihrer Vorherrschaft.

Im Jahr 1502 – „10 Kaninchen“ – kam Ahuitzotl ums Leben. Angeblich traf ihn ein Balken am Kopf, als er bei einer Überschwemmung, die durch ein zu hastig errichtetes Aquädukt verursacht wurde, aus seinem Palast flüchtete. Ahuitzotl hatte das Projekt veranlasst, um die Quellen aus dem benachbarten Coyoacán anzuzapfen. Der dortige Stadtherr hatte Ahuitzotl vor dem höchst unregelmäßigen Zufluss gewarnt – der Herrscher ließ ihn dafür töten.

Zu Ahuitzotls Beerdigung geleiteten ihn 200 Diener ins Jenseits. Die exquisit gekleideten Sklaven trugen Proviant und wurden zum Templo Mayor geführt. Dort riss man ihnen das Herz heraus und warf ihre Leichen auf einen Scheiterhaufen. Sie wurden – wie ihr Herr – angeblich vor dem Templo Mayor beerdigt.

Genau dort fand das Team um López Luján den Tlaltecuhtli-Monolithen und den „Aristo-Hund“. In unmittelbarer Umgebung auch weitere Opfergaben. Eine wurde unter einer Villa entdeckt, die für einen Offizier von Cortés errichtet worden war. Andere lagen mehrere Meter tief unter dem großen Reliefstein. In beiden Fällen wusste López Luján, wo er suchen musste, nachdem er auf einem Plan der Stätte ein kompliziertes System aus Ost-West-Achsen, «gedachten Linien», eingezeichnet hatte. «Diese Symmetrie wiederholt sich überall», sagt López Luján. «Die Azteken waren wie besessen davon.»

Die Arbeit der Archäologen ist mühselig und glanzlos. Zum Teil liegt das an den typischen Bedingungen einer Ausgrabung auf Stadtgebiet: Die Forscher müssen Genehmigungen einholen, Abwasserkanäle umgehen und unterirdisch verlegten Kabeln ausweichen. Sie müssen für die Bewachung einer archäologischen Fundstätte sorgen, die inmitten einer der attraktivsten Fußgängerzonen der Welt liegt. Doch sie arbeiten nicht zuletzt deshalb so gewissenhaft, weil es die Genauigkeit aztekischer Planung verlangt.

López Luján steht an einer Grube, in der sein Team im Mai 2007 eine Opferkiste von der Größe einer Truhe freilegte. «Wir brauchten 15 Monate, um den gesamten Inhalt zu untersuchen », sagt er. «Auf kleinem Raum befanden sich zehn Schichten und mehr als 5000 Gegenstände.

Ihre Anordnung wirkt zufällig, doch sie ist es nicht», fährt López Luján fort. «Alles hat kosmische Bedeutung. Für uns besteht die Herausforderung darin, die Logik und die räumlichen Muster zu entschlüsseln. Als der Archäologe Leopoldo Batres vor gut hundert Jahren hier arbeitete, interessierten ihn die Gegenstände als solche. Sie galten ihm als archäologische Trophäen. In den 32 Jahren, die wir jetzt hier forschen, haben wir herausgefunden, dass die Gegenstände selber weniger wichtig sind als die Art, wie sie räumlich miteinander verbunden sind.»

Jeder Fund ist ein großer Segen für Mexiko, denn die Konquistadoren schafften viele wert volle Gegenstände nach Spanien. Von dort aus verteilten sie sich auf ganz Europa. Abgesehen von ihrem ästhetischen Wert illustrieren die neuen Funde auch die Detailgenauigkeit der Azteken, die der Besänftigung der Götter diente – und damit auch dem Fortbestand der Welt.

Um dies zu gewährleisten, musste das Reich ständig wachsen. Es wurde immer anspruchsvoller und ließ sich letztendlich nicht mehr aufrechterhalten.

«Die Ironie dieser Geschichte ist, dass die Azteken ihr Reich an den Rändern irgendwann zu stark ausgedehnt haben – und so letztlich selber an den Rand gerieten», sagt Carrasco. «Sie waren so weit von zu Hause entfernt, dass es ihnen nicht mehr gelang, die eigenen Krieger mit Nahrungs- und Transportmitteln zu versorgen und die Händler zu schützen. Das Reich wurde zu kostspielig, und irgendwann kamen die Azteken damit nicht mehr zurecht.»

Zehn Jahre vor der Ankunft der Spanier plagten Ahuitzotls Nachfolger Moctezuma II. offenbar schon düstere Vorahnungen. Er hatte die Expansionspolitik seines Vorgängers fortgesetzt, besaß große Macht, trug ein Diadem aus Türkis und Gold, hatte 19 Kinder sowie einen Zoo voller exotischer Tiere, außerdem «Zwerge und Albinos und Bucklige».

Trotzdem quälte den neunten Azteken-Herrscher die eigene kosmische Ungewissheit. Ein Codex vermerkt, dass 1509 «ein böses Omen am Himmel erschien. Es sah aus wie ein brennender Maiskolben ... aus ihm schien Feuer zu bluten wie aus einer Wunde am Himmel».

Moctezumas Befürchtungen waren berechtigt. «Mehr als 50000 Krieger rebellierten. Sie wollten ihre Güter behalten und den aztekischen Angriffen auf ihre Siedlungen ein Ende bereiten», sagt Carrasco. Die 500 Spanier, die im Frühjahr 1519 in Veracruz anlegten, wären den aztekischen Truppen trotz ihrer Gewehre, Kanonen und Pferde nicht gewachsen gewesen. Stattdessen erreichten Cortés und seine Soldaten Tenochtitlán am 8. November in Begleitung mehrerer tausend Tlaxcala-Krieger (Erbfeinde der Azteken) und ihrer Verbündeten. Die Spanier waren vom Anblick der schimmernden Stadt auf dem See wie gebannt – «einige Soldaten fragten sogar, ob die Dinge, die sie da sahen, nicht nur Traumbilder seien», berichtete ein Augenzeuge. Der Heldenmut ihres Gastgebers Moctezuma aber schüchterte sie keineswegs ein.

Eine mesoamerikanische Legende besagt, dass der mächtige bärtige Gott Quetzalcoatl, der wegen Inzest mit seiner Schwester verbannt wurde, eines Tages über das Wasser zurückkehren und seine Herrschaft zurückgewinnen wird. Diese Legende war Moctezuma bekannt. Und so überreichte er Cortés den „Schatz des Quetzalcoatl“, ein Kostüm, zu dem unter anderem auch eine „Schlangenmaske mit Türkis-Einlegearbeit“ gehörte. Doch sah Moctezuma den Spanier wirklich als Wiederkunft des Schlangengotts? Lange war das landläufige Ansicht. Oder steckte er Cortés listig in das göttliche Gewand eines künftigen Menschenopfers? Seine Geste ist die letzte aztekische Ungewissheit. Die darauf folgenden Ereignisse sind Tatsachen. In den Straßen von Tenochtitlán floss das Blut. 1521 endete das Reich – brutal ausgelöscht durch die Spanier.

«Wir sind davon überzeugt, dass wir früher oder später auf das Grab von Ahuitzotl stoßen werden», sagt López Luján. Doch egal wie tief der Archäologe gräbt, zum Kern der aztekischen Mystik wird er nicht vordringen. Sie wird auch weiterhin das moderne Mexiko bewegen. Unsichtbar, urtümlich und majestätisch zugleich, beschwört sie die Macht gewöhnlich Sterblicher, Sümpfe in blühende Reiche zu verwandeln.

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