Indien: Rebellion im Revier

Maoisten bekämpfen in Indiens Dschungel die Regierung. Ihre größte Waffe: der Kohlereichtum des Landes. Der Kampf entscheidet über die Zukunft des Subkontinents.

Von Anthony Loyd
bilder von Lynsey Addario
Foto von Lynsey Addario

Zusammenfassung: Indien gilt als boomende Wirtschaftnation. Doch nicht jeder profitiert von dem Aufschwung, viele Menschen leiden unter den Folgen der Globalisierung. Armut und Benachteiligung führen dazu, dass der Widerstand wächst: Im indischen Dschungel bekriegen sich die sogenannten Naxaliten mit Regierungsvertretern. Ausgerechnet im Epizentrum des Aufstands liegen die meisten Rohstoffe Indiens – Kohle , Eisenerz und Kalkstein. Gleichzeitig ist die Armutsquote in dieser Region am höchsten. Die Ausbeutung der Bodenschätze verschärft den Konflikt, der in zwei Jahrzehnten bereits 12.000 Opfer gefordert hat. Der Kampf entscheidet über die Zukunft des Subkontinents.

Der Rebellenführer, der nicht mehr lange leben sollte, hatte viele Namen. Manche kannten ihn als Prashant, andere als Paramjeet. Ab und zu nannte er sich Gopalji, es war der Deckname eines anderen Führers der Aufständischen, so wollte er die Behörden verwirren. Als ich ihn traf, stellte er sich als „Genosse Manas“ vor. Er trat aus dem Schatten eines großen Walnussbaums und hielt ein Maschinengewehr in der Hand, seine Gestalt war schmächtig, sein Körper und sein Gesicht waren ausgemergelt– die Folgen von Malaria und Typhus, Krieg und Dschungel. Die Sonne stand schon tief. Im dunkler werdenden Grün der benachbarten Reisfelder lauerten die Schatten von etwa einem Dutzend weiteren Rebellen, wachsam, abwartend. Der 27-jährige Manas und seine Leute waren ständig in Bewegung, sie hatten wenig Zeit zum Reden. 24 Stunden zuvor hatten sie jenseits der niedrigen Hügelkette, an deren Fuß wir uns jetzt trafen, einen Hinterhalt gelegt.

Der Anschlag mit sechs toten und fünf verwundeten Polizisten hatte mächtig Staub aufgewirbelt. Sicherheitskräfte der Regierung durchsuchten das Gebiet, Patrouillen durchkämmten Dörfer, Hubschrauber kreisten über dem Wald. Die Attentäter gehören zu einer Bewegung, die man in Indien unter dem Namen Naxaliten kennt. Die Naxaliten berufen sich auf den einstigen chinesischen Revolutionär Mao Tse-tung. Von der westlichen Welt kaum wahrgenommen, führen sie seit Jahrzehnten Krieg gegen die Herrschenden, einen Krieg, der heute in Indien mehr Menschenleben fordert als der dauerhaft schwelende Konflikt in Kaschmir.

Dabei müssten die Naxaliten längst der Vergangenheit angehören. Der chinesische Kommunistenführer, in dessen Namen sie kämpfen, ist schon lange tot, Indien hat er nie besucht. Dennoch haben seine Ideen hier eine Heimat gefunden. Heute sind sie wieder hochaktuell, in diesem Land, das sich so gern als boomende Wirtschaftsnation sehen würde. Während ein Teil der Bevölkerung vom Aufschwung profitiert, leiden viele unter den Folgen der Globalisierung. Armut und Benachteiligung haben die Rebellion am Leben gehalten, und sie hat einen Katalysator gefunden: die Ausbeutung der heimischen Bodenschätze und den Streit um Landrechte.

Der wachsende Hunger der Industrie nach Energie und Rohstoffen hat den Rebellen neue Ziele für ihre Aktionen geliefert: die Produktionsstätten von Kohle, Stahl und Strom. Er hat ihnen auch außergewöhnliche Verbündete gebracht: die Adivasi, eine der am stärksten benachteiligten Gruppen des Landes, indische Ureinwohner, die in den rohstoffreichsten Bundesstaaten ihre Heimat haben. Dort ist ein Schattenreich von Mord und Erpressung entstanden. „Maoisten“, das mag nach kommunistischer Folklore klingen. Doch der Krieg der Naxaliten ist keine Kuriosität aus der Vergangenheit. Er wird die Zukunft Indiens mitbestimmen.

Arte-Video: Mit offenen Karten - Die Naxaliten

Trotz seiner Jugend war Manas bei unserer Begegnung bereits ein „Zonenkommandant“ der Naxaliten. Er schien überzeugt davon, dass die soziale Misere der Armen seiner Sache zum Sieg verhelfen werde. Er hatte keinen Zweifel: „Der Kommunismus lebt.“ Den Sturz der Regierung in Delhi hielt er für unvermeidlich. „Ein ausgewachsener Tiger wird alt und stirbt“, erklärte er. Seine Augen glühten dabei in einer Weise, wie man sie bei Radikalen auf der ganzen Welt findet. „Der Tiger ist wie die Regierung: alt, verrottet, bereit zum Sterben. Unsere Revolution ist jung und wird wachsen. Das sind die Gesetze des Universums. Im Kampf zwischen Politikern und einer neuen Gesellschaft, die von den Menschen getragen wird, müssen die Menschen gewinnen.“

Er redete, bis die letzten Strahlen der Sonnehinter den Bäumen verschwunden waren, dann verschwand auch er selbst mit seinen Leuten in der Dunkelheit. Die Regierungskräfte kamen näher, die Rebellen wollten sich nicht umzingeln lassen. Als ich sein Gesicht das nächste Mal sah, war Manas tot. Sein Foto starrte mich von einem Schrein am Straßenrand an, in dem ärmlichen Dorf, in dem er geboren wurde. Die Bewohner berichteten, er sei nicht lange nach unserem Treffen bei einer Schießerei ums Leben gekommen. Erst die Inschrift auf dem Stein verriet mir, wie der Mann mit den vielen Namen wirklich hieß: Lalesh.

Dort, wo die Straße den Kampf gegen die Vegetation aufgibt, beginnt das Reich der Naxaliten.

Der Krieg der Naxaliten begann schon immer dort, wo die Straßen endeten. So sagen sie hier. Die Polizei, die Beamten, die paramilitärischen Einheiten, die Stämme der Adivasi, die ärmsten Bauern aus der Gegend und die Naxaliten selbst. In diesem Punkt sind sich alle einig. Manas behauptete mir gegenüber, es sei sechs Jahre her, seit er zuletzt eine gepflasterte Straße gesehen habe. Da draußen im Dschungel – vor allem in den Bundesstaaten Chhattisgarh und Jharkhand (Karte rechts) – kommt immer irgendwo der Punkt, an dem die Straße den Kampf gegen die Vegetation, gegen Regen und Hitze aufgibt, an dem die letzten schwer befestigten Polizeistationen mit einem Verhau aus Stacheldraht und Bunkern die Grenzposten staatlicher Autorität bilden. Das Ende der Straße ist auch das Ende der Gesetze. Dahinter beginnt eine andere Welt, das unterentwickelte Indien, ein Reich der Parallelautorität, des Kommunismus, der „Volksgerichte“ und der Sprengfallen. Das Reich der Naxaliten.

Der Name leitet sich von Naxalbari ab, einem Dorf in Westbengalen. Dort, weit oben im Norden Indiens, erhoben sich im Mai 1967 Bauern erfolglos gegen die Grundbesitzer, ein Polizeiinspektor starb in einem Pfeilhagel. Es war die blutige Geburt einer vielgesichtigen, zersplitterten Bewegung, vage inspiriert vom maoistischen Modell der Agrarrevolution. Von nun an waren die militanten Maoisten als Naxaliten bekannt. Die Naxaliten töteten Polizisten und paramilitärische Sicherheitskräfte mit Sprengbomben oder aus dem Hinterhalt. Die Polizei tötete Naxaliten bei „Zusammenstößen“, eine behördliche Redewendung für Schießereien und gezielte Tötungen.

Wer verdächtigt wurde, ein Informant der Regierung zu sein, wurde nun wiederum von den Naxaliten vor „Volksgerichten“ angeklagt und mit Äxten oder Messern hingerichtet. Die Opfer dieser Fememorde sind nicht in die offiziellen Angaben über die Zahl der Toten eingerechnet. Aber auch ohne sie verursachte der Konflikt 12.000 Opfer im Laufe von zwei Jahrzehnten. Ende der Achtzigerjahre flohen die Aufständischen vor den immer kompromissloser zugreifenden Behörden Richtung Süden. Ihr Zufluchtsgebiet fanden sie 1989 im Wald von Dandakaranya. Übersetzt aus dem Sanskrit bedeutet der Name so viel wie „Dschungel der Bestrafung“. Dandakaranya umfasst Teile mehrerer Bundesstaaten, darunter Chhattisgarh und Andra Pradesh. Dort waren die Naxaliten beinahe unangreifbar, dort liegt die Region Abujmarh, ein Dschungel im Dschungel, eines der letzten nicht kartierten Gebiete Indiens.

Unter dem dichten Kronendach der Bäume durchschneiden Wasserläufe zerklüftete Berge und Täler, in der Regenzeit tosen wilde Sturzbäche von den Felsen hinab – ein gefährliches Gelände für ungebetene Eindringlinge. Als die Rebellen nach Abujmarh kamen, stand die Bewegung vor dem Ende. Doch hier, in der Tiefe des Dschungels, fanden die Revolutionäre unverhofft eine Blutauffrischung bei den Stämmen der Adivasi. Das Sanskrit-Wort Adivasi bedeutet so viel wie „Eingeborener“ oder „ursprünglicher Siedler“. Die Adivasi werden zu den „registriertenStämmen“ gerechnet. Das sind nach der Definition der indischen Verfassung einheimische Volksgruppen, denen gesetzlich eine gewisse Eigenständigkeit garantiert wird. Mit 84 Millionen Menschen machen sie 8,2 Prozent der indischen Bevölkerung aus; der größte Teil von ihnen lebt in und um die Region Dandakaranya.

Die weltabgeschiedenen Adivasi in Abujmarh erwiesen sich als gute Gastgeber für die Flüchtlinge. Nachdem sie jahrelang den maoistischen Ideen ihrer Gäste lauschen durften, ließen sich viele der Ureinwohner von den Naxaliten rekrutieren. Es wäre aber zu einfach, die Bewegung mit den Adivasi gleichzusetzen. Zu den Kadern der Rebellen gehören nicht nur Stammesangehörige, sondern auch Studenten aus der Mittelschicht und Dalits – die sogenannten Unberührbaren – sowie Kämpfer aus anderen benachteiligten Gruppen Indiens.

In einem Land, in dem rund 300 Millionen Menschen von umgerechnet weniger als einem Euro am Tag leben müssen, in dem eine Runde Getränke in einer Bar in Delhi mehrere Monatseinkommen eines Bauern kosten kann, ist es kaum verwunderlich, dass Widerstand wächst. Vor allem in abgelegenen Regionen, in denen die örtlichen Behörden wenig Macht hatten, gedieh der militante Kommunismus. So ergab sich eine Situation, die nicht ohne Ironie ist: Das Epizentrum des naxalitischen Aufstands liegt ausgerechnet dort, wo der Rohstoffreichtum Indiens sitzt. Seit 2014 ist Narendra Modi Premierminister, er will Indiens stagnierende Wirtschaft erneuern und das Drittel der Haushalte im Land, das bis heute im Dunkeln lebt, mit Elektrizität versorgen – rund 300 Millionen Menschen. Dieses Ziel kann er nur mit den Rohstoffen aus den Gebieten der Naxaliten erreichen.

Es ist kein Zufall, dass der Krieg vor allem in Jharkhand und Chhattisgarh tobt: Hier liegen bis zu 40 Prozent der heimischen Kohle sowie Eisenerz, Kalkstein, Dolomit und Bauxit im Wert von mehreren Billionen Euro. Mit der Kohle sollen Kraftwerke in den weit entfernten Metropolen des Landes Strom erzeugen. Aus dem Stahl werden die modernen Gebäude errichtet, die glitzernden Technologiekomplexe, die Autos und Brücken, die einen wichtigen Teil der Vision Modis bilden.

Andererseits ist an kaum einem anderen Ort die Armutsquote so hoch wie in diesen beiden so reichen Bundesstaaten. Eine von den Vereinten Nationen geförderte Analyse der weltweiten Armut ergab 2010, dass in acht indi-schen Bundesstaaten – darunter Jharkhand und Chhattisgarh – mehr arme Menschen leben als in den 26 ärmsten afrikanischen Staaten zusammen. Die Ausbeutung der Bodenschätze hat das Ungleichgewicht sogar noch verstärkt. Sie brachte der Landbevölkerung, die ohnehin hart um ihre Existenz kämpfen muss, noch mehr Umweltverschmutzung, Gewalt und Vertreibung. Bei ihr finden die aufständischen Naxaliten Unterstützung.

Ein Beispiel für die Entwicklung ist das Karanpura-Tal im Norden von Jharkhand. Einst war es wegen seiner Tiger und als Durchzugsroute der Elefanten berühmt, heute ist die Region gezeichnet von Tagebauen für Kohle. Seit Mitte der Achtzigerjahre werden sie betrieben von Central Coalfields Ltd. (CCL), einer regionalen Tochterfirma des Staatskonzerns Coal India Limited. CCL hat den Einheimischen für ihren Grund und Boden Entschädigung angeboten: Arbeitsplätze, Geld, Umsiedlung, Ersatzwohnungen. Viele Bauern nahmen an, gaben ihr Land auf und verließen die Region. Andere waren ihrer Heimat aber so mit Leib und Seele verbunden, dass Geld sie nicht überzeugte. Sie blieben, obwohl die Wände ihrer von Kohlestaub bedeckten Häuser Risse bekamen, als die Sprengungen in den Gruben den Boden erschütterten und Rauchfahnen den Horizont schwärzten.

„Unser Land ist alles für uns“, erklärt mir ein junger Aktivist im Dorf Henjda, während im Hintergrund eine Sprengung die Luft zittern lässt. „In unserem Dorf haben sich 75 Prozent geweigert, ihr Land an die CCL abzugeben. Geld und Arbeitsplätze sind keine Alternative. Geld ist irgendwann weg. Arbeitsverträge laufen aus. Wir bleiben hier.“

Wie in anderen Kohleabbaugebieten sind die Bewohner der Gegend gespalten: Die einen hängen an ihrer Heimat und widersetzen sich, manche von ihnen gehen zu den Naxaliten; kurz vor meiner ersten Fahrt durch diese Gegend hatte eine Gruppe bewaffneter Maoisten die Ashoka-Mine angegriffen und Transporter und Geländewagen in Brand gesteckt, ehe sie von der örtlichen Polizei nach einer längeren Schießerei vertrieben wurde.

In den abgelegenen Gebieten sterben bis zu drei von fünf Kindern schon als Säugling.

Der andere Teil der Bevölkerung gibt irgendwann dem oft massiven Druck der CCL-Helfer nach. Manche lassen sich selbst als Makler anheuern – um auch Verwandte und Bekannte zu überreden, ihr Land zu verkaufen. Und viele ziehen fort, weil sie den vergifteten Beziehungen innerhalb der Dörfer entfliehen wollen.

Aber auch die Maoisten sind nicht zimperlich, wenn es darum geht, Kohle und andere Mineralien aus dem Boden zu holen. Sie profitieren ja ebenfalls davon – wie Genosse Manas, als er noch lebte, in unserer Unterhaltung offen zugab. Schon vor Jahrzehnten, als sich herum sprach, dass die Bodenschätze in der Region erkundet würden, hätten die meisten maoistischen Einheiten gar nicht erst versucht, die Landrechte der Einheimischen zu verteidigen und die Bergbauunternehmen zu vertreiben. Sie hätten vielmehr gefragt: „Wie viel erhält die Partei als Steuer?“

Ohne Geld lässt sich kein Aufstand durchhalten. Die Naxaliten kassieren Abgaben auf Reis und auf die Blätter des Tendu-Baums, die unverzichtbar zum Drehen von Zigaretten sind. Doch im Bergbau ist deutlich mehr zu holen. Wenn ein Tagebau angegriffen wird, dann häufig nur, weil die Eigentümer das Schutzgeld nicht gezahlt oder den Naxaliten ihren Anteil an den Gewinnen vorenthalten haben. „In vielen Teilen Indiens ist heute nicht mehr die Ideologie, sondern das Steueraufkommen herum die Triebkraft des Maoismus“, warnte der frühere indische Landwirtschaftsminister Jairam Ramesh, bevor seine Nationale Kongresspartei bei der Wahl von 2014 gegen die rechtskonservative Indische Volkspartei von Narendra Modi unterlag.

Ramesh machte die Symbiose von Naxaliten und Industrie so große Sorgen, dass er für die Regionen, in denen die Aufständischen besonders aktiv waren, eine vorübergehende Einstellung aller Bergbautätigkeiten forderte. „Wo es Bergbau gibt, da gibt es auch Maoismus, denn wo es Bergbau gibt, fallen mehr Einnahmen an, und wo mehr Einnahmen anfallen, gibt es auch mehr Erpressung“, erklärte er. „Einige der größten Namen der indischen Wirtschaft betreiben in den maoistischen Regionen ihre Geschäfte, und das können sie nur, weil sie dort die Maoisten finanzieren.“

Wie das vor sich geht, erfahre ich in Jharkhand aus erster Hand. Nach mehreren Telefonanrufen mit vereinbarten Code-Wörtern finde ich mich auf einem ländlichen Marktplatz wieder, auf dem ich mich mit einem Fremden verabredet habe. Er schickt mich zu einer verlassenen, unbefestigten Straße am Rand des Dschungels; hier ist der Treffpunkt für ein Gespräch mit einem Befehlshaber der Naxaliten, der sich „Genosse Ranjit“ nennt. Er führt die Aufsicht über eine von den Aufständischen kontrollierte Kokerei, in der aus Kohle Koks gebrannt wird. Die Fabrik am Rand des Dschungels ist nur wenige Kilometer vom Heizkraftwerk Bokaro entfernt.

Die Kokerei, die Ranjit mir zeigt, wird professionell betrieben – von Naxaliten. Das Werk wurde ohne Genehmigung errichtet und arbeitet mit Kohle, die in der Region illegal von den Dorfbewohnern abgebaut wird. Die Naxaliten schützen das Werk und verdienen Geld damit. Auch die Polizei erhält einen Teil der Einnahmen. Sagt jedenfalls Genosse Ranjit bei unserem Rundgang. Er behauptet, die Naxaliten würden den Beamten monatlich 100.000 Rupien zahlen, rund 1800 Euro, damit sie sich fernhielten.

Außerdem erklärt er mir ein einfaches Bestechungssystem: Korrupte Beamte erhalten Geld dafür, dass sie Dokumente ausstellen, mit denen sich die Kokslaster der Naxaliten problemlos in die legalen Lkw-Konvois einreihen können. Die Rebellen ihrerseits verdienen mit dem Koks umgerechnet rund 900 Euro. Täglich.

Das summiert sich, wenn man zusammenrechnet, wie viele Tausend illegale Kokereien und Kohleminen in den Gebieten der Naxaliten liegen. Hinzu kommt, was große Bergbauunternehmen jedes Jahr als Schutzgeld an die Maoisten zahlen – „Millionen und Abermillionen“, wie Ranjit behauptet.

Betrachtet man die großen Rohstoffvorkommen im Osten Indiens, den Hunger der Industrie, die soziale Unzufriedenheit und die Spaltung der Gesellschaft durch die ungleiche Verteilung der Profite – dann sehen die Naxaliten plötzlich gar nicht mehr aus wie museale Relikte einer veralteten Ideologie. Sondern wie eine moderne, gut finanzierte, komplexe Bewegung. Wie ein Phänomen der globalisierten Gegenwart und nicht allein der maoistischen Vergangenheit. Ein Phänomen, das sich aber auch deshalb mit so großer Kraft behauptet, weil seine Wurzeln 120 Jahre tief in die Kolonialzeit des Landes zurückreichen. Genauer gesagt bis 1894, dem Jahr, in dem der Land Acquisition Act erlassen wurde – ein Gesetz, das der Regierung das Recht zubilligt, Land der Bauern für staatliche Zwecke zu enteignen. Hier liegt der Keim des Aufstandes.

Denn es ist zwar der Dschungel, der den Naxaliten ein Refugium gewährt, und es ist der Rohstoffreichtum, der ihnen Geld einbringt. Dennoch gäbe es die Rebellenbewegung wohl kaum, hätte nicht die damalige Legitimierung von Landnahme und Vertreibung dafür gesorgt, dass sie bis heute steten Zulauf findet.

Millionen Menschen wurden seither wegen Bergbau- und Staudammprojekten, Straßen- und Eisenbahnbau aus ihrer Heimat vertrieben. Im vergangenen Jahr wurde dieses Gesetz zwar überarbeitet, es sieht nun Entschädigungen für die Enteigneten vor. Doch der angerichtete Schaden ist kaum reparabel. Allein seit Indien 1947 unabhängig wurde, sind nach dem Enteignungsrecht schätzungsweise 60 Millionen Inder von ihrem Besitz vertrieben worden, darunter bis zu 24 Millionen Adivasi. Wohl auch ein Grund dafür, dass es in diesen Stämmen so viele Sympathisanten der Rebellen gibt.

Das neue Gesetz von 2014 brachte Verbesserungen, steht aber schon wieder zur Diskussion. Es wurde noch von der Kongresspartei verabschiedet, Richtwerte für Schadenersatz und Umsiedlung von Vertriebenen sollten den Zorn der Betroffenen beschwichtigen und das Ansehen der Naxaliten untergraben. Doch bei der folgenden Wahl siegten die Konservativen, und unter dem Druck der Industrie und der Bergbaulobby scheint Modis Regierung das Gesetz schon wieder abschwächen zu wollen. Es sieht so aus, als würden die Landrechte noch auf unabsehbare Zeit zu Hass und Auseinandersetzungen führen.

Der Groll des armen Volkes, der die Naxaliten so stark macht, mag berechtigt sein, den Terror, den sie verbreiten, entschuldigt er nicht. Wie brutal sie ihren Krieg führen, zeigt sich an einem Frühlingsmorgen in Chhattisgarh, tief im Süden des Bundesstaats in der Nähe der Ortschaft Bijapur. Ich fahre dorthin, nachdem ich von einem Angriff der Maoisten auf ein Adivasi-Dorf gehört hatte. In Kutru, einer Gemeinde am Rand des Abujmarh-Dschungels, halte ich. Die Straße ist ohnehin nicht mehr als eine unbefestigte Piste. Hinter einer Wand aus Blättern verliert sie sich nun vollends in einem halben Dutzend Pfade, die im Grün verschwinden.

In den Augen eines Touristen mag der Wald idyllisch aussehen, aber er ernährt die Adivasi und ihre Kinder nur schlecht. Anämie und Tuberkulose kommen häufig vor, in abgelegenen Gebieten sterben bis zu drei von fünf Kindern schon als Säuglinge. Die Adivasi haben die niedrigste Lebenserwartung und die höchste Analphabetenquote in Indien. 75 Prozent von ihnen leben unter der offiziellen Armutsgrenze. Der Monsun bringt jedes Jahr Tausenden den Tod durch Malaria und Durchfallerkrankungen. Viele leiden an Kinderlähmung und Erblindung. Die Lebensqualität dieser Menschen könnte deutlich besser sein, wenn es eine gute Entwicklungspolitik gäbe und eine gerechte Verteilung des Reichtums, den die Bodenschätze spenden.

Hätten sie die Wahl gehabt, würden wohl nur die wenigsten Adivasi ihr traditionelles Leben als Jäger und Sammler weiterführen, ein Dasein ohne Schulen, elektrischen Strom und Straßen. Es würden weniger Babys und Mütter bei der Entbindung ums Leben kommen, und Krankheiten von der Malaria bis zur Cholera würden nicht mehr nur vom Dorfschamanen behandelt. Auch die Naxaliten boten ihnen keine Alternative, aber sie boten wenigstens das Gefühl von Schutz und eine hoffnungsverheißende archaische Ideologie, auch wenn der Rest der Welt diese längst hinter sich gelassen hat.

Der Morgen hier draußen in Kutru ist warm und freundlich, die Luft vibriert vom Summen der Insekten und den Rufen unsichtbarer Vögel. Es erscheint mir einen Moment lang fast unmöglich, dass der Wald so viel Elend verbirgt. Dann unterbricht das Weinen einer Frau die Stille. Es kommt von den niedrigen Hütten am Ende der Straße. Das Schluchzen dauert kaum eine Minute, und doch spüre ich den untröstlichen Gram. Die Adivasi sind eigentlich selbstbeherrscht und leidensfähig. Einen derartigen Gefühlsausbruch erlebt man selten bei ihnen.

Die Weinende heißt Sarita, ist 19 Jahre alt und ein Adivasi-Mädchen vom Stamm der Maria. Ihr Gesicht ist wächsern vor Traurigkeit und Schock, aber sie ist auch stolz, ihre Haltung ist aufrecht. Als sie spricht, sieht sie mir in die Augen. In der Nacht zuvor ist sie zusammen mit 30 anderen, zumeist Angehörigen, nach Kutru gekommen, auf der Flucht vor den Rebellen. Die Naxaliten hatten eine Woche zuvor ihr Heimatdorf Kerpe besetzt und es von der Außenwelt abgeschnitten. Insgesamt seien es mehr als hundert Kämpfer gewesen, schwer bewaffnete Männer und Frauen in Kampfanzug; befehligt wurden sie von einer groß gewachsenen Frau, die sich Ranjita nennen lässt.

Wenn die bewaffneten Kader der Naxaliten von Dorf zu Dorf ziehen, dann normalerweise, um von den Stämmen Steuern einzuziehen. Dieses Mal aber ging es den Maoisten nicht nur um Abgaben. Die Familie Saritas hatte drei Monate zuvor bei den Einheimischen Unterschriften für eine Petition gesammelt: Die staatlichen Behörden wurden darin gebeten, in Kerpe eine Polizeistation einzurichten. Das hätte den erfreulichen Nebeneffekt gehabt, dass eine Straße zum Dorf gebaut worden wäre.

Die Rebellen holten Saritas Vater, ihren Bruder und einen Cousin aus den Häusern. Als Nächstes riefen Ranjita und ihre Untergebenen das ganze Dorf als Zeugen zusammen. Es sollte ein „Jan Adalat“ geben, die hiesige Form der berüchtigten „Volksgerichte“, die Mao Tse-tung einst abhielt, damit chinesische Bauern ihren Grundbesitzern den Prozess machen konnten.

Ranjita verlas die Anklage gegen Saritas Angehörige. Danach wurden drei weitere angebliche Kollaborateure der Regierung vorgeführt, gefesselt und mit verbundenen Augen. Direkt vor der schweigenden Menge wurden sie mit Knüppeln und Fäusten geschlagen. „Dann war plötzlich Schluss“, berichtet Sarita. „Ranjita drohte noch, jeder Dorfbewohner mit Verwandten bei der Polizei oder der lokalen Verwaltung habe eine Woche Zeit, sein Haus zu verlassen, sonst würde er umgebracht. Dann kam sie zu mir und sagte, ich würde meinen Vater und Bruder auf dem Weg nach Hause ‚schlafend‘ finden. Die Naxaliten ließen uns ein paar maoistische Slogans anstimmen und verschwanden.“

Wenig später fand Sarita ihren Vater, den Bruder und den Cousin. Die Männer waren noch an den Händen gefesselt, man hatte sie mit der stumpfen Seite einer Axt totgeschlagen. Ihrem Bruder waren mit einem Messer auch noch die Augenlider abgeschnitten worden.

Es ist eine nicht untypische Geschichte aus dem Reich der Minen und Rebellen, die die junge Frau mir erzählt. Als ich gehe, weint sie nicht mehr. Kühl schaut sie sich um und versucht abzuschätzen, was nun zum Überleben nötig ist. Sie stellt sich die große Frage, die sich alle in dieser Region stellen: Wo sind die Aussichten wohl besser? Auf welche Seite stellt man sich? Hier, wo die Straßen aufhören.

(NG, Heft 4 / 2015, Seite(n) 98 bis 117)

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