Jäger des weißen Goldes

Mammuts sind ausgestorben – aber ihre Stoßzähne sind teure Sammlerstücke. Jetzt wollen Forscher die Tiere wieder zum Leben erwecken.

Von Brook Larmer
bilder von Ewgenia Arbugaewa
Foto von Ewgenia Arbugaewa

In der letzten Eiszeit wurden die Wollhaarmammuts in Sibirien gejagt, um sie zu essen. Heute suchen Männer nach den wertvollen Stoßzähnen der ausgestorbenen Riesen.

Eine letzte Chance, das will der sibirische Jäger. Fünf Monate lang hat Karl Gorochow den Objekten seiner Suche auf der abgelegenen Insel Kotelny in der Ostsibirischen See nachgespürt. Täglich bis zu 18 Stunden lang ist er durch die eisige Tundra gestapft. Kälte und Hunger setzen ihm zu, sogar Möwen hat er schon gegessen. Die beiden Eisbären, die sein Lager angriffen, waren selber halb verhungert. Er hatte sie geschossen und ihre Mägen aufgeschnitten: Sie waren leer. Wind und Wetter haben die Wangen des 46-Jährigen unter seinem zotteligen rotblonden Bart aufplatzen lassen.

Gorochow läuft die Zeit davon. Schon heulen hier, tausend Kilometer nördlich des Polarkreises, die Schneestürme des Spätsommers über die Insel, der extreme Frost des nordischen Winters rückt bedrohlich näher. Aber als seine Finger und Handflächen zu jucken beginnen, deutet Gorochow das als «gutes Vorzeichen».

Das Jucken, sagt er, stellt sich meistens dann ein, wenn er kurz davor ist zu finden, was er sucht: die Elfenbeinstoßzähne eines Mammuts. Die wollhaarigen Riesen, die den Norden Sibiriens gegen Ende der letzten Eiszeit durchstreiften, starben vor etwa 12000 Jahren weitgehend aus. Nur einige überlebten auf isolierten Inseln im Eismeer etwas länger. Die letzten vermutlich bis vor 3700 Jahren auf der Wrangel-Insel. Jetzt, da der Klimawandel den Permafrostboden auftaut, kommen ihre bis zu vier Meter langen gebogenen Stoßzähne wieder zum Vorschein: baumstammdickes Elfenbein, das den Menschen im arktischen Sibirien neuerdings ergiebige Einnahmen verschafft.

Video: Der Fund des Mammutbabys Juka

Gorochows juckende Finger ermutigen ihn, noch einmal durch die Tundra zu streifen. Plötzlich stolpert er beinahe über die Spitze eines Stoßzahns, der aus dem Boden ragt, «als hätte er die ganze Zeit nur auf mich gewartet».

Fast 24 Stunden lang gräbt er, um den Fund aus dem steindurchsetzten Eis zu befreien. Schließlich liegt ein beinahe makelloses Exemplar vor ihm, 70 Kilo schwer. Bevor Gorochow den Stoßzahn fortschleppt, wirft er einen silbernen Ohrring in das Loch, das er hinterlassen hat – ein Opfer für die Geister des Ortes. Wenn er seine Beute sicher nach Hause bringt, könnte sie ihm umgerechnet mehr als 44000 Euro einbringen. Dass er auf diese Weise einmal seine Familie ernähren würde, hätte er bis vor zehn Jahren nicht gedacht. Damals war er einer der Ersten, die begannen, die rauen Inseln nach Stoßzähnen abzusuchen.

Der Handel mit Mammutelfenbein ist ein junges Geschäft. Gorochow erinnert sich zwar, dass er schon als Kind in der Nähe seines Heimatdorfes Ust­Jansk am Ufer der Jana verrottende Stoßzähne gesehen hat. Doch da gab es die Sowjetunion noch – und keine Marktwirtschaft. Außerdem dachten viele Einheimische, es bringe Unglück, die Stoßzähne anzutasten. Manche glaubten, es seien die Überreste riesiger maulwurfsgleicher Wesen, die tief unter dem Permafrost lebten.

Solche Vorstellungen sind nicht selten in Jakutien, wo Gorochow aufwuchs. Weniger als eine Million Menschen leben hier in einer Region fast so groß wie Indien. Das Land ist reich an Bodenschätzen. Die Menschen erzählen sich dazu diese Geschichte: Einmal sei der Schöpfer der Erde über die Tundra geflogen; dabei sei ihm so kalt geworden, dass er wertvollen Ballast ab­ geworfen habe, um schneller voranzukommen. Seitdem gibt es hier Gold, Silber, Diamanten und Öl.

Vermutlich liege noch viele Millionen Mammutstoßzähne im sibirischen Permafrostboden.

Noch spannender fand der kleine Karl aber, was sein Lehrer über die Pioniere wusste, die schon im 17. Jahrhundert mit Mammutstoßzähnen handelten. Jahre später stieß er auf Bücher mit Fotos aus dem frühen 20. Jahrhundert. Sie zeigten bärtige Männer auf der Kotelny-Insel, ihre Boote voll beladen mit Elfenbein. «Ich habe mich gefragt, ob es da nicht noch mehr gibt», erzählt Gorochow.

Heute sind die Stoßzähne der Mammuts zur wirtschaftlichen Hoffnung für eine Region geworden, die nach der Schließung von Bergwerken und Fabriken aus der Sowjetära weitgehend vernachlässigt wurde. Die Einwohnerzahl des jakutischen Verwaltungsbezirks Ust-Jansk ist in den vergangenen 50 Jahren von 80000 auf 8000 Menschen gefallen – auf einer Fläche dreimal so groß wie die Schweiz. Ohne Aussicht auf andere Arbeit suchen nun Hunderte, wenn nicht Tausende von Jakuten in der Tundra nach Mammutelfenbein.

Eine Ursache dafür ist der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Einzug des Kapitalismus. Gefördert wird das Geschäft durch das Verbot, mit Elefantenelfenbein zu handeln. Der Markt ruft nach Ersatz. Und nicht zuletzt spielt die globale Klimaerwärmung eine Rolle.

Der erste Akt des Dramas begann gegen Ende der letzten Eiszeit, als die weltweit steigenden Temperaturen das Schicksal der Mammuts besiegelten: Die grasbewachsene Steppe versumpfte, die Lebensräume dieser pflanzenfressenden Riesen schrumpften und verlagerten sich nordwärts, bis die Mammutherden auf isolierten Landflecken vom steigenden Meeresspiegel ein- geschlossen wurden – auf den Inseln, wo Gorochow heute ihre Überreste sucht.

Zurzeit sind wir im zweiten Akt: Der aktuelle Schub der Klimaerwärmung taut den Permafrostboden auf, Wind und Wasser legen immer mehr Stoßzähne auf dem gigantischen Friedhof der Mammuts frei. Zwar wurden auch schon im 19. Jahrhundert einzelne Funde gemacht, doch derzeit scheint die Elfenbeinernte ihrem Höhepunkt zuzustreben.

Ein weiteres Element, das den Handel mit Mammutstoßzähnen antreibt, ist der Aufstieg Chinas. Die Tradition der Elfenbeinschnitzerei reicht dort Tausende von Jahren zurück. Fast 90 Prozent aller Mammutstoßzähne aus Sibirien landen in China, wo Legionen von Neureichen die Nachfrage nach Elfenbein regelrecht explodieren lassen. Zum Leidwesen vieler Wissenschaftler, die den Verlust wertvoller Daten beklagen. Denn so ein Stoßzahn enthält viele Hinweise auf Klima und Umwelt zu Zeiten der Mammuts und auf das, was sie fraßen.

Inzwischen fragen sich auch schon die ersten Jakuten, wie lange ihre nicht erneuerbare Einkommensquelle wohl noch sprudeln wird. Zwar sind vermutlich noch viele Millionen Mammutstoßzähne im sibirischen Permafrost eingeschlossen, doch es wird bereits aufwendiger, sie zu finden.

Artenschützer allerdings, die gehofft hatten, das wachsende Angebot von Mammutelfenbein werde die illegale Jagd auf Elefanten nun eindämmen, wurden enttäuscht. Der Handel mit Mammutelfenbein ist zwar ungenügend geregelt, aber legal. Die Preise für die beiden Elfenbeinsorten sind annähernd gleich, und nur Experten können sie anhand spezieller Maserungen unterscheiden. Trotzdem gibt es keine Anzeichen dafür, dass in Asien die Nachfrage nach Elefantenelfenbein nachlässt. Im Gegenteil, das Abschlachten afrikanischer Elefanten hat zugenommen. Zollbeamte in Hongkong haben im vorigen Jahr 5,5 Tonnen Elefantenelfenbein beschlagnahmt – so viel wie nie zuvor. Komplizierter wird alles noch dadurch, dass illegales Elfenbein von Elefanten und legales von Mammuts oft in derselben Schnitzerwerkstatt landen.

Wie stark die Nachfrage in China ist, wissen auch die Männer im Norden Jakutiens ganz genau: In der Hauptstadt Jakutsk hat sich der Preis für erstklassige Mammutstoßzähne in nur zwei Jahren auf umgerechnet knapp 700 Euro pro Kilo verdoppelt. Jenseits der chinesischen Grenze kann der Preis auf das Doppelte ansteigen, ein aufwendig geschnitzter ganzer Stoßzahn kann ein Vermögen kosten.

So wird etwa in einem Antiquitätengeschäft in Hongkong ein drei Meter langer Stoßzahn mit einer exquisiten Schnitzerei angeboten, die in feinen Details ein bacchantisches Festgelage zeigt. Der Preis: gut 800000 Euro. Wenn Stoßzahnsucher mitbekommen, dass ich in Peking lebe, fragen sie mich stets dasselbe: «Könnten Sie mich mit chinesischen Käufern zusammenbringen?»

Bei meiner Ankunft im Dorf Kasatschje am Fluss Jana bereiten sich gerade ein paar Männer auf ihre Tour in die Tundra vor: mit Schneemobilen, Tragflügelbooten, sogar mit sowjetischen Kettenfahrzeugen. Als ich mir an einem Gletschersee mit Elfenbeinsuchern den Schlamm und das Eis am Ufer ansehe, taucht ein junger Mann im Taucheranzug zitternd aus dem eiskalten Wasser auf: Er hofft, dort etwas zu finden, wo kein anderer sucht. Flussabwärts fräsen zwei Männer mit Wasser aus Hochdruckschläuchen eine Rinne in den Steilhang aus geschwärztem Eis, mitten hinein in eine Ansammlung von Stoßzähnen, Knochen und Kadavern.

Der Anführer eines größeren Suchtrupps hat mich hierher gebracht, die Stelle liegt nahe dem Ort Mus-Chaja. Er steht in seinem Boot auf einer Ladung von insgesamt 400 Kilo Elfenbein, aber ehe er die Stoßzähne flussaufwärts zum Markt bringt, möchte er noch die nahe gelegenen Eishöhlen besuchen, in denen Wissenschaftler aus Russland und Südkorea gerade einen Mammutkadaver freilegen. Sie hoffen, darin so gut erhaltene Zellen zu finden, dass sie daraus die ausgestorbenen Tiere wiederauferstehen lassen können.

Vor ein paar Jahren hat er hier selber mehrere Dutzend Stoßzähne entdeckt. Die Ausbeute dieses Sommers aber reicht noch lange nicht, um die Familien seiner Männer durch den Winter zu bringen. «Diese Gegend ist abgegrast», sagt einer. «Wir müssen hinüber zu den Inseln.» Dahin also, wo Karl Gorochow schon lange sucht.

Das bedeutet allerdings, dass man im Frühjahr 50 Kilometer über den noch zugefrorenen Ozean gehen und bleiben muss, bis sich sechs Monate später das Eis neu bildet. Auf den Inseln ist die Suche noch gefährlicher als in der Tundra. Im vorigen Sommer musste Gorochow Hunger und Erschöpfung aushalten, Angriffe von Eisbären und den Tod von vier Kollegen verkraften. Hinzu kommt das Risiko, von staatlichen Kontrolleuren entdeckt zu werden. Die haben Hubschrauber und zwingen Elfenbeinsucher ohne ordentliche Lizenz, in kaum seetauglichen Booten zum Festland überzusetzen, zerstören ihre Ausrüstung und konfiszieren die Beute.

Dennoch sind die Stoßzähne dieses Risiko wert. Auf der Großen Ljachow­Insel hat Gorochow früher in den Steilhängen am Meer einige großartige Exemplare gefunden, inzwischen fährt er zur noch weiter entfernten Insel Kotelny hinaus. Hunderte harte Männer versuchen ihm zu folgen, aber er ist ihnen immer eine Nasenlänge voraus. «Ich mache das schon so lange, dass ich fast denke wie ein Paläontologe», sagt er: «Jedes Jahr finde ich eine neue gute Stelle.»

Im September, am Ende seiner fünfmonatigen Expedition, zeigt Gorochow mir in seinem Sommerhaus an der Jana die Ausbeute der Saison: fast zwei Dutzend Mammutstoßzähne, einige in weißes Tuch gehüllt, andere liegen in einer großen Aluminiumwanne im Wasser. «Wenn sie austrocknen, bekommen sie Risse», erklärt er. «Ich muss sie in gutem Zustand erhalten. Sie sind meine Sparkasse.»

Allein das Elfenbein in der Wanne wiegt 500 Kilo. Die meisten Teams bringen kaum halb so viel zurück, manche suchen fünf Monate lang die Tundra ab und finden nichts. Gorochow arbeitet allein und auf eigene Rechnung. Würde er gleich im Ort verkaufen, könnte er derzeit an die 200000 Euro bekommen. Doch er hat keine Eile. Im Winter will er die Stoßzähne auf dem zugefrorenen Fluss und auf der Straße weiter nach Jakutsk transportieren, wo die Preise 40 Prozent höher liegen. Dort wartet auch seine Frau Sardaana auf ihn.

Vielleicht war es jetzt das letzte Mal, dass er nach Stoßzähnen gesucht hat. Gorochow hat Jakutien noch nie verlassen. «Ich träume davon, in irgendein exotisches Land zu reisen. Nach Indien oder Vietnam», sagt er. Aber vielleicht verschiebt er seine Reisepläne auch noch einmal. «Meine Frau bittet zwar immer, ich soll aufhören. Aber wenn sie sieht, wieviel ich diesen Sommer gefunden habe, dann sagt sie bestimmt: ‹Geh doch wieder raus.›»

(NG, Heft 4 / 2013, Seite(n) 110 bis 129)

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