Nofretete: Ägyptens Königin der Herzen

Die sagenhafte ägyptische Königin gibt nach 3.500 Jahren noch Rätsel auf.

Von Christian Schüle
Foto von Achim Kleuker, Staatliche Museen zu Berlin

Nofretete war 1,58 Meter groß und zierlich. Sie hatte einen Schwanenhals, mandelförmige Augen, kleine Ohren, langgliedrige Finger und eine Glatze. Ihre Lippen waren voll und elegant geschwungen, die Jochbeine markant und hoch. Das Kinn war schmal und der Nasenrücken dünn, gerade und abfallend.

Oder war Nofretete 1,74 Meter groß und korpulent, hatte einen kurzen Hals, hängende Schultern, schlaffe Wangen, schmale Lippen und einen Speckring um die Hüften?

Weder gibt es ein Foto von ihr noch eine Zeichnung, auch kein Zeugnis eines Zeitgenossen. Bis heute gilt sie als eine der mächtigsten Frauen der Antike – erotisch, charismatisch, majestätisch. Aber alles, was man von ihr weiß, beruht auf Reliefs und Inschriften in Kalksteinblöcken, basiert auf der Interpretation von Statuetten und Büsten, deren berühmteste im Ägyptischen Museum von Berlin (Neues Museum) steht. Wer im Nordkuppelsaal vor ihr steht, wer die raffiniert beleuchtete Schöne ansieht, spürt das Unwiderstehliche, das von ihr ausgeht. Eine Million Besucher zieht sie jedes Jahr in ihren Bann. Viele kommen nur ihretwegen.

Gewiss ist, dass Nofretete, die nahbare Unnahbare aus der ägyptischen Wüste, die Gemahlin des legendären Pharaos Echnaton war und dass sie vor dreieinhalb Jahrtausenden in einer besonders faszinierenden Epoche der Weltgeschichte lebte. Der Rest ist ein Rätsel, um dessen Lösung sich die Forscher seit langer Zeit streiten. «Man wird keine zwei finden, die sich über diese Epoche einig sind», sagt der britische Archäologe Nicholas Reeves.

Auch nicht über die Rolle der Nofretete. Mein Bild von ihr entstand über Wochen der Beschäftigung mit ihrem Mythos: das Bild einer Frau voller Stolz und Würde, geheimnisvoll, unvergleichlich. Und doch scheint es, als seien ihre Schönheit und Macht die Projektion einer aus den Fugen geratenen Phantasie über eine erstaunlich kurze Ära der ägyptischen Antike.

Um 1350 v. Chr., die Pharaonen der 18. Dynastie führen ihr Reich von Theben aus. Es ist eine ruhige, stabile, friedvolle Zeit. Ägypten ist ein Imperium mit profitabler Landwirtschaft und reichen Bodenschätzen – die beherrschende Macht des östlichen Mittelmeerraums, einigermaßen im Frieden mit dem Erzfeind, den Hethitern, in Kleinasien. Die Gesellschaft ist gut organisiert, die Verwaltung effektiv, Gold üppig vorhanden. Der seit mehr als 30 Jahren regierende Pharao Amenophis III. inszeniert sich als göttlicher Herrscher und großer Krieger, der über die Mächte des Bösen und das Chaos triumphiert. Er verändert die Gesellschaft und auch die Art, wie Herrschaft zur Schau gestellt wird. Zwei 20 Meter hohe Sandsteinskulpturen bewachen seinen Totentempel am Ufer des Nil, und im ganzen Land lässt er Statuen seiner selbst errichten.

An Amenophis’ Seite stets zu finden – für das Ägypten dieser Zeit ungewöhnlich – ist seine Gattin Teje, die einflussreiche Tochter einer Adelsfamilie. Vor allem bricht der Pharao aber mit einer weiteren Tradition: Der bislang unangefochtene Gott Amun büßt seine alleinige Spitzenposition in der Göttergemeinschaft ein und wird ergänzt durch Aton, die Sonnenscheibe: Grundstein einer neuen Theologie, die dem Herrscher mehr Macht verleihen soll. Als der König im Jahr 1353 v. Chr. und bald darauf auch sein ältester Sohn Thutmosis sterben, wird der Zweitgeborene zum Nachfolger gekürt: Amenophis IV. Vor seiner Thronbesteigung hat der junge Mann eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Frau geheiratet, damals wohl eine Jugendliche zwischen zwölf und 15 Jahren. Ihr Name: Nofretete. Deutsch: „Die Schöne ist gekommen“.

Von nun an sollte nichts mehr so bleiben, wie es bis dahin war.

Amenophis IV. erhebt seine Frau zur gottgleichen Königin. Schon früh in seiner Herrschaft lässt der Pharao im heiligen Bezirk Karnak rund um das Amun­Heiligtum vier neue Tempel errichten, die Aton geweiht sind. Wollte er beide Götter zu einem verschmelzen? Dann, in seinem fünften Regierungsjahr, ändert er seinen Namen von Amenophis – „Amun ist zufrieden“ – in Echnaton: „Er, der Aton nützlich ist“. Zu diesem Zeitpunkt ist er etwa Mitte 20. Sein ketzerischer Glaube – nicht mehr an die vielen Göttern für verschiedenste Zwecke, sondern allein an das Leben spendende Licht der Sonne – muss unter den Priestern Bestürzung ausgelöst haben. Vor allem, als der Herrscher auch noch die großen Tempel des Amun schloss und ihre Einkünfte übernahm.

Echnaton veranlasst Veränderungen in der Schriftsprache, dem Neuägyptischen. Und er gründet rund 350 Kilometer nördlich von Theben am Ostufer des Nil, in einem von steilen Felsen geschützten Tal, die neue Hauptstadt Achetaton („Horizont des Aton“). Dort will er sein revolutionäres theologisches Programm in die Tat umsetzen: den Glauben an die Erschaffung der gesamten Natur­ und Menschenwelt aus einem einzigen Prinzip – die Entstehung des Lebens aus dem Licht der Sonne, verkörpert in Aton. Die alten Götter interessieren Echnaton nicht mehr. Aton ist die universelle, allumfassende, erste und letzte Gottheit. Alles steht von nun im Dienst an Aton. Echnaton radikalisiert die von seinem Vater bereits angedeutete Kultreform, verbannt den traditionellen Totengott Osiris, suspendiert die Vorstellung von einem geheimen Universum, eliminiert Unterwelt und Jenseits. Es zählt nur noch die Sonne, das Licht, das Diesseits.

Zum ersten Mal in der Weltgeschichte ist mitzuerleben, wie eine Gottheit entsteht. Erstmals wird eine Religion bewusst neu gestiftet. Für die meisten Forscher ist Echnatons Sonnen ­Theologie der erste Monotheismus. Weshalb er sie einführte, ist umstritten. War dies die erste bezeugte intellektuelle Revolution? Selbstvergötterung eines totalitären Herrschers? Oder ging es ihm vor allem darum, die Macht der Amun­Priester in Theben und Karnak zu beschneiden? Denn von nun an waren er und Nofretete allein die Mittler zwischen Aton und der Welt. Die Einzigen, die die wahre Offenbarung des Göttlichen verstanden. Über sie nahm das Volk Kontakt mit Aton auf.

Gut eineinhalb Jahrzehnte dauerte diese heute als Amarna­-Zeit bezeichnete Epoche, benannt nach den Dörfern Tell el-Amarna, in deren Nachbarschaft die Ruinen von Echnatons Hauptstadt von etwa 1900 an in großem Stil ausgegraben wurden.

Das neue Reich wird jetzt vom Hof in Achetaton aus von einer Dreiheit, einer sogenannten Triade, regiert. Deren Hierarchie muss man sich in Form der Triangel vorstellen: oben Aton, unten links und rechts Echnaton und Nofretete. Damit nicht genug: Salopp gesagt, treten von 1352 v. Chr. an die Kennedys der Antike auf den Plan der Weltgeschichte. Von allen Traditionen unbeeindruckt, entwickeln sie eine Meisterschaft im Selbstmarketing und in der Kunst der Public Relations. Auf Reliefs lassen sie sich bei religiösen Zeremonien darstellen, ebenso Hand in Hand und mit ihren sechs Töchtern. Sie liebkosen sich, trauern am Totenbett ihrer Tochter Meketaton, wiegen die Kinder auf dem Schoß. Nofretete wird als sorgende Mutter gezeigt. Eine heilige Familie im Glück. Ausdruck von Nähe und Zuneigung? Von neuen Werten? Oder ging es darum, das Bild des Herrschers als höchsten Gott allen Lebens zu vermitteln?

Zuvor waren Kunst und Politikstil monumental, statisch und für die Ewigkeit gedacht; nun ging es um Emotion. Überlieferungen zufolge wies der Pharao die Hofbildhauer persönlich an, einen neuen, freieren Stil zu entwickeln. Mit einem Schlag vollzog sich ein kompletter Programmwechsel – der Aufbruch in die Ideologie der „Schöpferkraft“. Dafür eignete sich Nofretetes durch Eleganz, Anmut und Eros repräsentierte Vitalität geradezu ideal.

War sie eine Art First Lady der Antike? Und dazu eine, die nicht nur ihrem Mann den Rücken freihielt, sondern auch noch selber Politik machte? Gar Mitregentin und der eigentliche Kopf hinter Echnatons Theokratie? Ich stellte sie mir vor wie Evita Perón, wie Jackie Kennedy, wie Königin Rania von Jordanien und für kurze Momente wie Michelle Obama, fand aber alle Analogien fragwürdig, da über den Charakter dieser Frau nichts bekannt ist. Und dennoch: Die eigene Vorstellungskraft gibt Auskunft darüber, was ihr Mythos mit dem anstellt, der sich im 21. Jahrhundert auf das Geheimnis dieser antiken Ikone einlässt. Ich sah ihr zartes, abgehobenes Lächeln vor mir, wenn sie täglich im Streitwagen auf der mehrere Kilometer langen Prozessionsstraße von Achetaton die Huldigungen der Untergebenen entgegennahm. Ich stellte mir vor, mit welcher Grazie sie den Gesandten der hethitischen Großmacht entgegentrat. Wie sie den täglichen Kult leitete und auf dem Hauptaltar des Großen Tempels die Opfergaben für Aton niederlegte. Und schließlich sah ich sie als souveräne Frau vor mir, die ihrem Mann unverblümt die Meinung sagte: eine sich ihrer Wirkung bewusste Persönlichkeit, die im Hintergrund die Fäden zog.

Doch was davon ist richtig? Alles und nichts. Die Spekulationen über Nofretete und die Interpretationen ihrer Rolle am Hof von Achetaton widersprechen einander und schießen ins Kraut. Die einen Experten warnen davor, ihre Position überzubewerten; die anderen sehen sie mindestens gleichberechtigt an der Seite Echnatons. Vor kurzem verblüffte der emeritierte Ägyptologe Hermann Schlögl aus Freiburg im Breisgau die Fachwelt mit der Behauptung, Nofretete sei sogar die treibende Kraft der religiösen Revolution ihrer Zeit gewesen; sie sei es gewesen, die die Umwälzungen dominiert habe. Eine seit längerem bekannte und jetzt von ihm neu übersetzte und interpretierte Inschrift aus der großen Pfeilerhalle im Aton­Tempel von Karnak belege, dass Nofretete sich selber eine aktive Rolle zugeschrieben habe, indem sie von sich behauptete, Aton gefunden zu haben. Zudem trage sie – wie sonst ausschließlich der Pharao – zwei „Kartuschennamen“: jene Namen, die auf Inschriften in einen Königsring eingeschlossen sind. Alle anderen Großen Königsgemahlinnen in Ägypten hätten nur einen Kartuschennamen getragen.

Wer das Gegenteil dieser Huldigung hören will, muss nach Hannover reisen. Dort weist der Armana-­Forscher Christian Loeben, Leiter der Ägyptischen Sammlung im Museum August Kestner und Lehrbeauftragter an der Universität Göttingen, jedwede Phantasterei scharf zurück: Nein, es habe keinerlei antiken Feminismus in Amarna gegeben, keine Frauenpower. Keine erotische Superwoman Nofretete. «Im Gegenteil», sagt Loeben: «Sie hatte überhaupt nichts zu sagen, politisch nicht und theologisch auch nicht. Und sie spielte nur deswegen eine solch große Rolle und war neben Echnaton so präsent, weil dies in seine Theologie passte.»

Wer war diese sagenhafte Königin, unter der sich Ägypten vor 3.500 Jahren von Grund auf veränderte – und die noch heute alle Welt bezaubert? Christian Schüle hat sich auf die Suche gemacht.

Und ihr Aussehen, auch nur Illusion? Fiktion? Mittel zum Zweck? Ob Nofretete tatsächlich so schön war, wie es der moderne Mythos nahelegt, weiß niemand zu sagen. Ebenso wenig ist zu beurteilen, ob Schönheit vor 3300 Jahren ähnlich empfunden wurde wie heute. «Wir wissen überhaupt nicht, was die Ägypter damals ästhetisch und erotisch fanden», sagt Loeben, «sondern nur, dass Nofretete in unserer Interpretation erotisch ist. Es wäre jedenfalls sehr unägyptisch, eine Königin derart attraktiv zu finden.»

Jede Aussage über diese Königin kann nur spekulativ sein. Dennoch wurden die Makellosigkeit, Alterslosigkeit und Attraktivität, wie sie die Büste nahelegt, zur Legende und schufen den Kanon dessen, was in den westlichen Industriestaaten bis heute als idealschön bezeichnet wird. Wenn aber, wie manche Ägyptologen insinuieren, in Achetaton vor drei Jahrtausenden die Selbstinszenierung Programm war – könnte dann das öffentliche Bild der Nofretete auf Reliefs, Stelen und Hausaltären, als Standfigur und Statue eine Art mediale Manipulation gewesen sein? War es die Aufgabe des königlichen Bildhauers, mit einem perfekten Gesicht auch ein neues Image für den Hof und die neue Sonnen­Theologie zu schaffen? «Die Idealisierung war damals Teil des neuen Kunstwillens», sagt Dimitri Laboury von der belgischen Universität Lüttich.

Die Kunst dieser Epoche ist eine der Hauptquellen der Forschung. Mindestens zwei Phasen werden dabei unterschieden. Vor allem in der Frühzeit von Armana sind Echnaton und Nofretete auf Reliefs manieristisch, geradezu grotesk und androgyn dargestellt und sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Später dann wird Nofretete als außerordentlich schön porträtiert. Das alles, sagen die Wissenschaftler, sei bewusst und gezielt geschehen: Der neue Stil fungierte als äußere Emanation der neuen politischen Programmatik.

Heißt das also, dass die Schönheit der Nofretete in ideologischer Absicht konstruiert war?

Vor einigen Jahren ließ Dietrich Wildung, damals Direktor des Ägyptischen Museums in Berlin, die Büste in der Charité untersuchen. Millimeter für Millimeter wurde sie im Computertomografen gescannt – zum Vorschein kam eine Skulptur, die die Forscher sprachlos machte. Im Innern der berühmten Büste sahen sie das aus Kalkstein gefertigte Abbild einer Frau – Interpretationen zufolge in älteren Jahren, mit hängenden Schultern, einem dünnen Hals und tiefen Furchen um den Mund. Darauf hatte der Künstler in der Werkstatt des Oberbildhauers Thutmose einst Lage für Lage Gips aufgetragen und so das perfekte Gesicht modelliert, wie wir es heute kennen. Dabei bediente er sich eines präzisen Rastersystems.

«Keine Frage», sagt Laboury. «Das Gesicht der Nofretete ist die artifizielle Konstruktion einer Projektionsfläche.» Eine solche Symmetrie beider Gesichtshälften komme in der Natur so gut wie nicht vor. Der Ägyptologe, der alle Daten computertomografischer Untersuchungen und Messungen herangezogen hat, kommt zu dem Schluss: «Sie ist einfach zu perfekt. Es kann nicht sein, dass jemand bei beiden Augen exakt den gleichen Abstand zur Nasenspitze hat.»

Das bedeutet erstens, dass das Abbild der Nofretete bei Statuen und Büsten das Resultat einer Pop-Ikonisierung mit fließbandartig fabrizierten Objekten war – seriell hergestellte Kultobjekte für die Tempel ganz Ägyptens. Und zweitens, dass die Schönheit der Königin, wie immer sie wirklich aussah, politischer Machtdemonstration diente.

Weltweit gibt es eine Handvoll Koryphäen der Amarna-Forschung, die durch Grabungsergebnisse und aufgrund ihrer Quellenkenntnis in der Lage sein könnten, ein klares Bild der Nofretete zu zeichnen. Eine ist Friederike Seyfried, seit 2009 Direktorin des Ägyptischen Museums und der Papyrussammlung der Staatlichen Museen zu Berlin, sozusagen die Herbergsmutter der Nofretete. Sie gehört zu jenen Forschern, die jeder Spekulation über die Rolle der Nofretete mit großer Skepsis begegnen.

«War diese Frau eine der mächtigsten Politikerinnen der Antike?» «Das ist alles andere als beweisbar. Nofretete vollführte kultische, also staatstragende und damit politische Handlungen. Sie war gewiss eine sehr bedeutende Persönlichkeit. In keiner anderen Periode war der König in dogmatisch wichtigen Szenen so konsequent in Begleitung seiner Gemahlin zu sehen.»

«War sie auch außenpolitisch aktiv, wie es immer wieder heißt?» «Wir haben kein von ihr unterschriebenes Dekret. Politik machte damals der Hof, und der Hof wurde durch das Königspaar repräsentiert. Wir wissen nicht, wer was gemacht hat.» «Es können so viele ja nicht gewesen sein.»
«Tja, so laufen die Spekulationen. Am Ende wissen wir nichts, aber genau das ist es ja auch, was Nofretete und die Amarna-Zeit so spannend macht. Durch das wenige Wissen wird die Phantasie enorm angeregt.»
Wenn nun so vieles Spekulation ist – wie konnte dann die Vorstellung entstehen, Nofretete sei ein Symbol für Einfluss und Macht?

Im Dezember 1912 erhält die moderne Welt zum ersten Mal Kenntnis von ihr. Im Rahmen der zweiten von mehreren geplanten Winterkampagnen lässt der Architekt und Ägyptologe Ludwig Borchardt im Auftrag der Deutschen Orient-Gesellschaft die Ruinen der altägyptischen Stadtanlage von Achetaton ausgraben. Der Wissenschaftler, seit 1907 Direktor des Kaiserlich Deutschen Instituts für Ägyptische Altertumskunde in Kairo, sucht im Auftrag Kaiser Wilhelms II. nach Objekten für die Königlichen Museen in Berlin. Es geht auch um nationalen Ehrgeiz, Großmannssucht und die Konkurrenz zu Frankreich und England – auch im Louvre und im British Museum ist man an Schätzen aus Ägypten interessiert.

Am 6. Dezember, «bald nach der Mittagspause», so ist in Borchardts Aufzeichnungen zu lesen, werde er «eiligst» zum Haus P 47. 2 gerufen. Im Raum 19 von Thutmoses Werkstatt sind gerade Bruchstücke einer lebensgroßen Büste gefunden worden. Die Arbeiter graben weiter, Richtung Ostwand, durch 1,10 Meter hohen Schutt. Neue Objekte tauchen auf, vor allem Porträtköpfe. Mehrere sind Nofretete zuzuordnen. Und dann offenbart sich den Ausgräbern ein fleischfarbener Nacken mit aufgemalten roten Bändern. Die Arbeiter legen die Hacke zur Seite und graben mit den Händen weiter, schieben den Sand fort, legen den unteren Teil des Objekts frei und erkennen die Hinterseite einer dunkelblauen Königskrone. Was Borchardts Leute an diesem Mittag nach gut 3260 Jahren aus dem Schutt von Amarna zutage fördern, ist phänomenal: eine bemalte Büste, einen halben Meter hoch. Die Ohren sind bestoßen, im linken Auge fehlt die Einlage, die Iris, aber sonst ist das Objekt vollständig erhalten. «Wir hatten», notiert Borchardt begeistert, «das lebensvollste ägyptische Kunstwerk in Händen.»

Der Forscher verhandelt mit dem Franzosen Gustave Lefebvre, der die ägyptische Altertümerverwaltung vertritt – laut Gesetz müssen alle Funde geteilt werden (siehe weiter unten). Dann überführt Borchardt die Büste nach Berlin. Dort hält man sie zwölf Jahre lang unter Verschluss, ehe sie 1924 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wird. Ein Hype setzt ein, die Berliner Ausstellung gerät zur Sensation. In kürzester Zeit wird Nofretete zur Berühmtheit– ein stummer Star, der umjubelten Stummfilmdiva Greta Garbo erstaunlich ähnlich. Und sogar zum Covergirl von Illustrierten.

Sie trifft den Zeitgeist; manche behaupten, dass sie ihn auch prägte. Von der ersten Minute an wird sie durch die Werbe- und Modeindustrie vereinnahmt. Eine französische Kosmetikfirma wirbt mit ihr für Make-up, die Brillen- und Uhrenwerbung macht sie zu einem „Symbol der Eleganz“. Sie wird mit Ohrring und Halskette der Firma Monet abgebildet. Parfüms und Öle werden nach ihr benannt, sie schmückt Plakate von Transportunternehmen, in Bonn ist heute sogar eine Schönheitsklinik nach ihr benannt. Adolf Hitler kündigt an, ihr ein eigenes Museum zu bauen, aber daraus wird nichts. Als die Berliner Morgenpost Jahrzehnte später die Kampagne „Berlin ist ...“ startet, steht Nofretetes Gesicht für den Slogan: «... wenn die schönste Bewohnerin Migrationshintergrund hat.»

Es ist verblüffend: So präsent Nofretete bis heute ist – über ihr alltägliches Leben weiß man kaum etwas.

Niemand hat die Ruinen von Achetaton besser und länger erforscht als Barry Kemp von der Universität Cambridge. Er ist ganz Forscher von altem Schlag, mit weißem Vollbart und britischer Gelehrten-Noblesse. Das Amarna-Projekt ist sein Lebenswerk und seine Passion, seit Mitte der siebziger Jahre gräbt er dort und erweckt Achetaton wieder zum Leben. Man habe die Stadt am Ufer des Nil in kürzester Zeit aus dem Boden gestampft und nach nur zwei Jahren Bauzeit eingeweiht, sagt Kemp. Die Stadt lag mitten in einer bis dahin unberührten Wüstenlandschaft. 40 Grad im Sommer, aber die Altäre im Tempelbezirk standen unter freiem Himmel, der Große Tempel selbst war nach oben hin offen. Denn oben, im Himmel, war der einzige Gott: Aton. Für die Anbetung wäre ein Dach hinderlich gewesen.

Es gab keine Stadtmauern, denn Achetaton war kein gewöhnlicher Wohnort und keine Verwaltungsstadt. Zwölf Kilometer lang, fünf Kilometer breit und markiert durch 16 Grenzstelen, diente sie vor allem als Kultstätte für den Dienst an Aton. Der größte Tempel war rund 750 Meter lang und 300 Meter breit.

Nördlich des Zentrums erhob sich der Tempel des Aton. Eine Prozessionsstraße, die sogenannte Königstraße, führte vorbei am Palast der ältesten Tochter der Herrscher. In der Stadtmitte befand sich der Große Palast mit farbig bemalten Hallen, Höfen und gepflasterten Gehwegen. Hier wurden fremde Delegationen empfangen.

Die Stadtviertel beschreibt Kemp so: «Der König und sein Gefolge treten in den Hintergrund, und hauptsächlich sind es Abbilder, die an seine Gegenwart erinnern. In den Häusern sehen wir Beamte ..., die das gute Leben privater Einkünfte und staatlicher Zuwendungen genießen ... In den kleineren Häusern drängt sich eine Palette von Menschen geringeren Ansehens: einige Diener, andere Inhaber niederer Beamtenposten, viele stellen Dinge zum Verkauf her.» Ein Leben auf der Straße, ein Armenviertel mit Prekariat und Proletariat gab es laut Kemp nicht. Wohl aber Schönheit und Stil, davon zeugen die erhaltenen Fragmente aus Fayence, dekoriert mit Kornblumen, Fischen und Vögeln.

Zweimal täglich, so legen historische Abbildungen nahe, fuhren Echnaton und Nofretete in Streitwagen zum Opfern in die Tempel. Und sie traten in Kontakt zu ihrem Volk. Aus Grabreliefs geht hervor, dass das Paar sich immer wieder zeigte und Beamte belohnte. Zu Nofretetes Zeit lebten in der neuen Hauptstadt wohl bis zu 30000 Menschen. Sie expandierte unablässig, ständig entstanden neue Gebäude. Das Leben muss sehr anstrengend gewesen sein. Der Alltag war geprägt durch harte körperliche Arbeit, die Menschen wurden von den Hofbeamten überwacht. Man verhungerte zwar nicht, litt aber Mangel, etwa an Eisen. Durch seine Grabungen auf den Friedhöfen weiß Kemp, dass viele Menschen große körperliche Schäden hatten, etwa beschädigte Wirbelsäulen durch das Tragen schwerer Gegenstände. Viele Arbeiter und Arbeiterinnen starben mit Anfang 20, manche noch früher. In Texten ist von Seuchen die Rede, sogar von Pest.

Plötzlich stirbt Echnaton. Mit großer Wahrscheinlichkeit eines natürlichen Todes, im Jahr 17 seiner Regentschaft. Und nun? Er allein war ja der Mittler zwischen Gott und Volk, der Verkünder der Wahrheit, der Sohn Atons. Theologie, Kult und Politik waren ganz auf diesen Pharao ausgerichtet. Wer hätte ihm nachfolgen können? Sicher ist: Noch bevor die Hauptstadt endgültig fertiggestellt ist, liegt sie bereits wieder verlassen in der Wüste.

Achetaton bleibt eine kurze Episode in der Weltgeschichte. Auf Echnaton folgt wohl Semenchkare, nach ihm zieht der neue König Tutanchaton mit seinem Hofstaat in die alte Haupt- und Verwaltungsstadt Memphis. Im Süden wird das theologische Zentrum Theben reaktiviert. Womöglich auf Druck der wieder mächtiger werdenden alten Priesterschaft, die unter Echnatons Aton-Kult weitgehend entmachtet war, drückt der sehr junge Tutanchaton die Reset-Taste. Er kehrt das gesamte Programm um, suspendiert den Sonnengott und etabliert wieder den alten Amun-Re. Schließlich benennt er sich um in Tutanchamun. Echnatons Name wird getilgt. Man will ihn vergessen machen.

Irgendwann am Ende der letzten Tage von Amarna muss in Thutmoses Haus eine der vielen bunt bemalten Büsten herabgefallen und vom Wüstensand bedeckt worden sein, so behauptete der Archäologe Borchardt. Die Frau aber, die für die Büste einst Modell stand, ist vom Erdboden verschwunden. Was geschah in jenen wenigen Jahren zwischen Echnatons Tod und Tutanchatons Umzug nach Memphis?

Vor allem: Was passierte mit Nofretete, deren Mumie als verschollen gilt? Auch auf diese Frage haben die Archäologen viele erstaunlich unterschiedliche und widersprüchliche Antworten.

Am 17. Februar 2010 bringt das Journal of the American Medical Association einen Beitrag, der das jahrtausendealte Geheimnis zu lüften scheint. Zwei Jahre lang, zwischen September 2007 und Oktober 2009, hat ein 16-köpfiges Team unter Führung des damaligen Direktors des ägyptischen Antikendienstes, Zahi Hawass, radiologische und molekularbiologische Untersuchungen von elf Mumien der königlichen Familien aus der 18. Dynastie von Echnaton und Tutanchamun und der 19. Dynastie vorgenommen. Mit dabei: der deutsche Mumienforscher und Anthropologe Albert Zink, Leiter des Instituts für Mumien und den Iceman in Bozen.

Ziel war es, mittels DNA-Sequenzierung und Computertomografien Identität, Alter, Krankheiten und Todesart der Mumien festzustellen sowie mögliche Verwandtschaften untereinander zu belegen. Immer wieder hatte es Spekulationen über inzestuöse Beziehungen in den Königsfamilien gegeben, und die Frage, wer genau die Toten in den Königsgräbern im Tal der Könige (KV genannt) seien und in welcher verwandtschaftlichen Beziehung sie zueinander standen, konnte nie abschließend geklärt werden. Zum ersten und bisher einzigen Mal nahmen die Mediziner mit feinem Handbohrer Biopsien an den Skeletten vor, acht bis zehn Knochenproben bei jedem einzelnen, und erstellten über die Kombination von acht chromosomalen Markern für jedes einen individuellen genetischen Fingerabdruck.

In der Ägyptologie gilt es als historisch gesichert, dass Echnaton der Sohn von Amenophis III. und seiner Frau Teje ist. Echnaton hatte zwei Frauen: seine Geliebte Kija und die Große Königliche Gemahlin Nofretete, die ihm wahrscheinlich sechs Kinder gebar. Nach Echnatons Tod im Jahr 1336 v. Chr. gab es ein Interregnum von etwa vier Jahren, bevor sein Sohn Tutanchamun den Thron bestieg. Ihm folgten Eje, dann Haremhab, die beide schon Echnaton als Berater gedient hatten.

Doch es blieben Fragen. Wie kam Tutanchamun zu Tode? Vor allem: Wer ist die von den Archäologen als „Younger Lady“ bezeichnete, jedoch nicht zugeordnete Mumie aus dem Grab KV 35 im Tal der Könige? Ist es Nofretete?

Die Forscher kamen zu folgender Diagnose: Pharao Tutanchamun war 1,67 Meter groß und litt unter Skoliose, hatte Malaria, entzündete Gelenke und den Morbus Freiberg­Köhler, eine sehr schmerzhafte und das Gehen beeinträchtigende Nekrose der Knochen. Er starb mit 19 Jahren. Pharao Amenophis III., die männliche Mumie in KV 35, war «mit nahezu hundert­ prozentiger Wahrscheinlichkeit» der Vater von Echnaton, der möglicherweise in KV 55 begraben liegt. Dieser war wiederum Tutanchamuns Vater. Alle waren also genetisch verwandt.

Und einen weiteren Schluss legten die Molekularbiologen nahe: Echnaton war auch mit der „Younger Lady“ aus KV 35 verwandt. Beide müssen daher als Tutanchamuns Eltern gelten.

Doch wer war diese mysteriöse „Younger Lady“? Manche halten sie für Nofretete, die in diesem Fall die Schwester wie auch Frau von Echnaton gewesen sein müsste. Inzest war in altägyptischen Herrscherhäusern zu keiner Zeit etwas Ungewöhnliches, weil man die Blut­ und Machtlinie rein halten wollte. Historisch wahrscheinlicher ist für die meisten Ägyptologen aber die Annahme, dass Nofretete der bürgerlichen Oberschicht der zwischen Achetaton und Theben gelegenen Stadt Achmim entstammte und im jugendlichen Alter vom königlichen Echnaton zur Frau genommen wurde.

Alles falsch, sagt nun überraschend der Ägyptologe Schlögl. Seine neue Theorie stellt alle Gewissheiten über den königlichen Stammbaum in Frage: Die Mumie des Amenophis III. sei eigentlich die Mumie von Eje und dieser wiederum der Vater von Nofretete. Rund 350 Jahre nach Amarna, um 1000 v. Chr., sei Ejes Mumie fälschlicherweise mit Amenophis III. beschriftet worden, als Priester sie in großer Eile und unter Geheimhaltung umbetteten, um für den klammen Staat den Grabschatz zu plündern. Zu jenem Zeitpunkt seien die Namen der Eliten aus der Amarna­Zeit schon längst nicht mehr geläufig gewesen. «Die Mumie, die wir jetzt König Eje zuschreiben können, weist grausame postmortale Veränderungen auf, wie sie dem viel früher hochgeehrten König Amenophis III. niemals zugefügt worden wären», sagt Schlögl.

Damit erhält der Fall Nofretete eine unerwartete Wendung.

Falls Schlögl recht hätte, wären alle bisherigen Ableitungen der Verwandtschaftsverhältnisse falsch. Doch der Mumienforscher Zink hält die Interpretationen des Ägyptologen für gefährlich und dessen Thesen für gewagt. «Er versucht, die genetischen Ergebnisse für seine Theorie zu benutzen und umzudeuten. Aus unserer Sicht muss die Herkunft Nofretetes weiter als unbekannt gelten.»

Ziemlich sicher ist, dass sich ihr Schicksal im Sommer 1336 v. Chr. entscheidet. Nachdem Echnaton im Monat zwei des Jahres 17 seiner Regierungszeit gestorben ist, geht Achetaton bald nieder und der alles beherrschende Gott Aton unter. Das rasche Ende der Amarna-Zeit ist eingewoben in ein Werk wilder Spekulationen über die Nachfolge des autokratischen Pharao. Eine der gewagtesten Thesen verficht neben englischen und amerikanischen Forschern auch der Hannoveraner Ägyptologe Christian Loeben. Ihm zufolge ist «hundertprozentig sicher», dass der direkte Nachfolger Echnatons im Interregnum eine Frau war. Das entsprach an sich nicht der altägyptischen Denkart, jedoch hatte auch schon 150 Jahre zuvor eine Pharaonin, die mächtige Hatschepsut, das Land regiert. Falls Loeben aber recht hat – spricht dann nicht alles für Nofretete, die Charisma, theologische Glaubwürdigkeit und langjährige Erfahrung im täglichen Vollzug des Kults besaß?

Entscheidend bleibt die Frage, ob Nofretete vor oder nach Echnaton gestorben ist. Auch das ist umstritten. Für ihren früheren Tod spricht ihre Grabstatuette, auf der Echnaton namentlich genannt ist. Für ihren späteren Tod, dass Nofretete auf einem Reliefblock beim „Erschlagen der Feinde“ zu sehen ist, was traditionell dem König vorbehalten war. Ein weiteres Indiz stützt die These des späteren Todes: Echnatons Sarkophag aus Rosengranit, der, stark zerstört, im Garten des Ägyptischen Museums in Kairo steht. Die vier Ecken werden nicht, wie üblich, von den vier Göttinnen Isis, Nephthys, Neith und Selkis umarmt, sondern viermal von derselben Frau unter Atons Strahlensonne: Nofretete.

Schlögl dagegen vertritt die Auffassung, Nofretete – für ihn die „Younger Lady“ – sei vor Echnaton gestorben. Ihre Mumie weise schwerste Gesichts- und Brustverletzungen auf, möglicherweise Folgen eines Unfalls mit dem Streit- wagen. Albert Zink, der die Mumie aus KV 35 gesehen hat, bestätigt eine große Verletzung: «Diese Frau muss einen sehr starken Schlag auf das Gesicht bekommen haben, etwa einen Pferdetritt. Man sieht immer noch die Schwellung, das heißt, sie ist sehr schnell nach dem Unfall gestorben.» Aber war es wirklich Nofretete?

Für die meisten Ägyptologen steht außer Frage, dass die Nachfolger Echnatons eine Person namens Semenchkare oder eine Frau namens Nefernefruaten war. Von beiden gibt es weder Abbild noch Statue oder Reliefdarstellungen, aber ein Ring trägt die Inschrift: „König Semenchkare, erwählt von König Echnaton“.

Nach allen Recherchen und Überlegungen, den Irrungen und Wirrungen alter und neuer Interpretationen fahre ich abermals ins Ägyptische Museum nach Berlin. Ebene 2, der lange Gang durch den Niobidensaal führt in den kleinen Nordkuppelsaal, in dessen Mitte die Glasvitrine steht. Dort hält Nofretete Audienz. Es ist, als würde sie den Gast beobachten. Für das Geschenk eines kurzen Moments sind wir allein im Raum. Ihr Blick scheint zu fragen, was man von ihr wisse. Nichts mit Gewissheit. Niemand kann sagen, ob Nofretete nach dem Tod ihres Mannes an der Spitze Ägyptens stand. Ob sie schon vor ihm gestorben war. Ob sie die „Younger Lady“ in KV 35 ist. Ob sie in die Verbannung geschickt wurde. Wer kann schon sagen, ob sie streng, brutal, autokratisch, gütig, warmherzig und lustig, ob sie klein und zierlich oder groß und kräftig war.

Nofretete bleibt ein Rätsel. Aber eben das ist die wahre Macht ihres Mythos.

(NG, Heft 12 / 2012, Seite(n) 46 bis 75)

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