Papst Franziskus - Revolution im Vatikan

Er hat seiner Kirche ein neues Gesicht gegeben. Der eigenwillige Papst Franziskus, seit gut zwei Jahren im Amt, lässt viele Gläubige auf Reformen hoffen. Aber er bringt auch die alten Eliten gegen sich auf.

Von Robert Draper
bilder von Dave Yoder
Foto von Dave Yoder

Unsere saudi-arabischen Kollegen brachten diese Reportage vergangene Woche als Titelgeschichte heraus, ein Bild von Papst Franziskus in der Sixtinischen Kapelle war auf dem Cover abgebildet. Die Ausgabe wurde daraufhin aus "kulturellen Gründen" verboten, das berichtet Spiegel Online. Lesen Sie hier die ganze Reportage.

Zusammenfassung: Weltweit wird Papst Franziskus wegen seiner Wärme und Offenheit verehrt. Das Oberhaupt von insgesamt 1,2 Milliarden Katholiken hat seiner Kirche ein neues Gesicht gegeben und den Alltag im Vatikan drastisch verändert – statt einer Limousine fährt er lieber einen Ford Focus. Die Medien sehen in ihm einen Revolutionär. Doch mit seinen Reformen bringt er alte Eliten gegen sich auf.

Als die etwa 7000 ehrfürchtigen Menschen ihn zum ersten Mal auf einer öffentlichen Bühne sehen, ist er noch nicht Papst – aber sie spüren bereits, dass etwas an diesem Mann besonders ist. Im Luna-Park- Stadion in der Innenstadt von Buenos Aires, Argentinien, haben sich Katholiken und evangelikale Christen zu einer ökumenischen Andacht versammelt. Ein Pastor ruft den Erzbischof der Stadt auf die Bühne und bittet ihn, ein paar Worte zu sagen. Das Publikum ist überrascht, denn der Mann, der nun nach vorn schreitet, hatte die ganze Zeit hinten gesessen, als wäre er niemand von Bedeutung. Obschon Kardinal, trägt er nicht das traditionelle Brustkreuz um den Hals, sondern nur ein schwarzes Priesterhemd und einen schwarzen Blazer. Er ist ein hagerer älterer Mann mit einem ernsten Gesichtsausdruck, und in diesem Augenblick, damals vor neun Jahren, scheint es schwer vorstellbar, dass dieser bescheidene, schwermütig blickende Argentinier eines Tages in jedem Winkel der Welt für sein Charisma und seine Strahlkraft bekannt sein wird.

Er spricht in seiner Muttersprache, Spanisch. Ohne Manuskript. Die Zeit, als er die evangelikale Bewegung wie viele katholische Priester in Lateinamerika für eine Spaßveranstaltung hielt, erwähnt er mit keinem Wort. Stattdessen sagt der mächtigste Argentinier der römisch- katholischen Kirche, die den Anspruch erhebt, die einzig wahre christliche Kirche zu sein: „Wie schön, wenn Brüder vereint sind, wenn Brüder miteinander beten. Wie schön zu sehen, dass wir vielfältig sind, aber eine versöhnte Vielfalt sein wollen und bereits auf dem Weg dahin sind.“ Dann streckt er die Hände aus, plötzlich wird seine Miene lebhaft. Mit vor Leidenschaft bebender Stimme ruft er Gott an: „Vater, wir sind gespalten. Vereine uns!“

Diejenigen, die den Erzbischof kennen, sind erstaunt, denn normalerweise ist sein Gesichtsausdruck düster, er hat ihm Spitznamen wie „Mona Lisa“ eingebracht. Und dann geschieht etwas, das noch stärker in Erinnerung bleiben soll. Er kniet langsam nieder – ein Appell an die Anwesenden, für ihn zu beten. Nach einer Schrecksekunde schließen sie sich ihm an.

Das Bild schafft es in Argentinien auf die Titelseiten. Auch Cabildo, das Organ der ultra- konservativen Katholiken, druckt es. „Apóstata“ steht dort: „Abtrünniger“. Es zeigt Jorge Mario Bergoglio, den künftigen Papst Franziskus. Ich muss jetzt wirklich anfangen, Dinge zu verändern“, erklärte Franziskus eines Morgens einer Handvoll argentinischer Freunde, kaum zwei Monate nachdem ihn 115 Kardinäle im Konklave des Vatikans aus relativer Unbekanntheit schlagartig ins Pontifikat befördert hatten. Manche fanden da bereits, dass der neue Papst schon praktisch alles, und praktisch über Nacht, verändert habe, einige von ihnen waren darüber erfreut, andere verunsichert. Er war der erste lateinamerikanische Papst, der erste jesuitische Papst, der erste in mehr als tausend Jahren, der nicht in Europa geboren war, und der erste, der den Namen Franziskus wählte, zu Ehren Franz von Assisis, des Fürsprechers der Armen.

Kurz nach seiner Wahl am 13. März 2013 erschien das neue Oberhaupt der katholischen Kirche ganz in Weiß auf einem Balkon des Petersdoms, ohne den traditionellen scharlachroten Umhang über den Schultern oder die goldbestickte rote Stola um den Hals. Er grüßte die jubelnde Menge zu seinen Füßen mit einer Schlichtheit, die alle elektrisierte: „Brüder und Schwestern, guten Abend.“ Als er aufbrach, ging er an der auf ihn wartenden Limousine vorbei und stieg in den Bus für die Kardinäle, die ihn gerade zu ihrem Oberhaupt gemacht hatten.

Am nächsten Morgen bezahlte der Papst persönlich seine Rechnung in dem Hotel, in dem er gewohnt hatte. Er entschied sich gegen das traditionelle päpstliche Appartement im Apos- tolischen Palast und bezog eine Zweizimmerwohnung im Gästehaus des Vatikans. Bei seinem ersten Treffen mit der internationalen Presse verkündete er seinen sehnlichsten Wunsch: „Eine Kirche, die arm und für die Armen ist.“ Und anstatt die Abendmesse am Gründonnerstag in einer Basilika zu feiern und Priestern die Füße zu waschen, wie es Sitte war, predigte er in einem Jugendgefängnis, wo er zwölf Insassen, darunter Frauen und Muslime, die Füße wusch, ein absolutes Novum für einen Papst. All dies fand während seines ersten Monats als Bischof von Rom statt.

Doch seine argentinischen Freunde wussten, was er wirklich mit „Veränderungen“ meinte. Obwohl im neuen Amt selbst kleinste Gesten beträchtliches Gewicht haben, gab er sich nicht damit zufrieden, Symbole zu liefern. Er wollte, dass die katholische Kirche das Leben der Menschen nachhaltig verändert – dass sie, wie er es oft ausdrückte, ein Lazarett auf einem Schlachtfeld sei, das alle Verwundeten aufnimmt, egal auf welcher Seite sie gekämpft haben.

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Für die Außenwelt schien Papst Franziskus so plötzlich vom Himmel gefallen zu sein wie ein Meteoritenschauer, doch in seiner Heimat war er schon länger eine bekannte und mitunter umstrittene religiöse Persönlichkeit. Bergoglio, Sohn eines Buchhalters, dessen Familie aus dem Piemont im Nordwesten Italiens nach Argentinien ausgewandert war, trat nach vorübergehender Tätigkeit als Labortechniker (und kurzzeitig auch als Rausschmeißer in einem Klub) 1956 mit 20 Jahren ins Priesterseminar ein und profilierte sich von Beginn an. Er wählte die Jesuiten, die intellektuell anspruchsvolle Gesellschaft Jesu, für seine geistliche Laufbahn.

1963, als Student am Colegio Máximo de San José, verfügte er bereits sowohl über „hohe spirituelle Einsicht als auch über politische Fähigkeiten“, wie es einer seiner Professoren, Pater Juan Carlos Scannone, erzählt. Bergoglio unterrichtete rebellische Jungs, wusch Gefängnisinsassen die Füße, studierte im Ausland. Er wurde Rektor des Colegio Máximo und besuchte regelmäßig die Elendsviertel von Buenos Aires. Es war die Zeit, in der er auch das hoch komplizierte Verhältnis der katholischen Kirche zu den argentinischen Machthabern pflegen musste – erst zu Präsident Juan Perón, später zur Militärjunta. Schließlich fiel er bei seinen jesuitischen Vor­ gesetzten in Ungnade, wurde dann von einem Kardinal, der ihn bewunderte, aus der Versen­kung geholt und 1992 zum Bischof, 1998 zum Erzbischof und 2001 zum Kardinal ernannt.

Von Natur aus scheu, umgab er sich lieber mit Armen als mit Wohlhabenden. Er selbst hatte nur wenige Schwächen – Literatur, Fuß­ball, Tangomusik und Gnocchi. Bei aller Ein­fachheit war er ein scharfsinniger Beobachter der gesellschaftlichen Verhältnisse und, auf seine stille Art, eine geborene Führungspersön­lichkeit. Er verstand es außerdem sehr gut, die Gunst der Stunde zu nutzen – wie 2004, als er in Anwesenheit des argentinischen Präsidenten die Korruption geißelte. Oder wie 2006 bei sei­ner Rede im Luna Park. Pater Carlos Accaputo, seit 1992 ein enger Berater Bergoglios, sagt: „Ich glaube, Gott hat ihn während seines ganzen seelsorgerlichen Dienstes auf diesen Moment vorbereitet.“

Jedenfalls war sein Pontifikat kein Zufall. Der römische Autor Massimo Franco drückte es so aus: „Seine Wahl resultierte aus einem Trauma“ – dem plötzlichen (fast sechs Jahrhunderte lang nicht vorgekommenen) Rücktritt des amtieren­ den Papstes, Benedikt XVI., und dem unter fort­schrittlicheren Kardinälen wachsenden Gefühl, dass die überkommene und eurozentrische Denkweise des Heiligen Stuhls die katholische Kirche von innen verfaulen lasse.

An jenem Vormittag in seinem Wohnzimmer sprach der Papst mit seinen alten Freunden über die beängstigenden Herausforderungen, die vor ihm lagen. Über das finanzielle Chaos im Institut für die religiösen Werke (unfeiner als Vatikanbank bezeichnet). Über die Zentralver­waltung, bekannt als Römische Kurie, die von Habgier regiert wurde. Über die nicht endenden Entlarvungen pädophiler Priester und darüber, dass diese Geistlichen von Kirchenfunktionä­ren vor der Justiz geschützt werden. Franziskus hatte eines vor: schnell zu handeln. „Und er wusste, dass er sich eine Menge Feinde machen würde“, erinnert sich der Prediger und Gelehrte der Pfingstbewegung Norberto Saracco.

Auch Saracco saß damals im Wohnzimmer und war besorgt angesichts der Unerschrocken­ heit des Papstes. „Wir wissen, dass du keine kugelsichere Weste trägst“, habe er zu Franzis­kus gesagt. „Da draußen laufen eine Menge Verrückte herum.“ Franziskus habe ruhig ge­antwortet: „Der Herr hat mich hierher geführt. Er wird auf mich aufpassen müssen.“ Obwohl er nicht darum gebeten habe, Papst zu sein, habe er in dem Moment, als im Konklave sein Name ausgerufen wurde, ein tiefes Gefühl von Frieden empfunden. Und trotz der Anfeindun­gen, denen er vermutlich begegnen würde, habe er seinen Freunden versichert: „Ich empfinde noch immer den gleichen Frieden.“

Was der Vatikan empfindet, steht auf einem anderen Blatt. Als Federico Wals, der mehrere Jahre lang Bergoglios Pressesprecher war, vergangenes Jahr von Buenos Aires nach Rom reiste, besuchte er auch Pater Federico Lom­bardi, den Leiter des vatikanischen Presseamts. „Also, Pater“, fragte der Argentinier, „wie finden Sie meinen ehemaligen Chef ?“ Lom­bardi rang sich ein Lächeln ab und sagte: „Er verwirrt mich.“ Lombardi hatte zuvor als Sprecher für Bene­dikt, ehemals Joseph Ratzinger, gearbeitet, dem „typisch deutsche“ Präzision nachgesagt wird. Nach seinen Treffen mit großen Staatsmännern habe der frühere Papst stets eine prägnante Zu­sammenfassung geliefert, erzählt Lombardi mit spürbarer Wehmut: „Zwei Minuten, und ich war vollkommen im Bild über die Unterredung. Franziskus dagegen: ‚Das ist ein kluger Mann; er hat so interessante Erfahrungen gemacht.‘“

In einem kleinen Konferenzraum im Gebäu­de des Senders Radio Vatikan beschreibt der Sprecher des Papstes die neue Linie des Vati­kans. Lombardis zerknittertes Priestergewand, passt zu seinem erschöpften, verwirrten Aus­druck. Erst gestern, sagt er, habe der Papst 40 jüdische Führungspersonen in seiner Woh­nung empfangen – und das vatikanische Presseamt habe erst hinterher davon erfahren. „Niemand weiß über alles Bescheid, was er tut“, sagt Lombardi. „Noch nicht einmal sein persön­licher Sekretär.“ Er lächelt etwas hilflos in sich hinein und fügt hinzu: „Diplomatie ist für Fran­ziskus nicht so sehr eine Frage der Strategie. Sie funktioniert bei ihm eher so: ‚Ich habe diesen Menschen getroffen, wir haben jetzt eine per­sönliche Beziehung, nun lass uns Gutes für die Menschen und für die Kirche tun.‘“

Auch der Anblick dieses neuen Papstes, mit seiner Plastikarmbanduhr und seinen klobigen orthopädischen Schuhen, der sein Frühstück in der vatikanischen Cafeteria einnimmt, war und ist ein wenig gewöhnungsbedürftig – ebenso wie sein ausgeprägt ungezwungener Humor. Nachdem sein alter Freund und Landsmann, Erzbischof Claudio Maria Celli, ihn in seiner Wohnung besucht hatte, bestand Franziskus darauf, seinen Gast bis zum Fahrstuhl zu begleiten. „Warum denn?“, fragte Celli. „Damit du sicher sein kannst, dass ich wirklich gegan­gen bin?“ Ohne zu zögern, antwortete der Papst: „Und damit ich sicher sein kann, dass du auch nichts hast mitgehen lassen.“

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Der Vatikan ist weder für seinen Humor noch für seine Aufgeschlossenheit gegenüber Neuerungen bekannt, Menschen, die Verände­ rungen bringen könnten, werden misstrauisch beäugt. Seit dem 14. Jahrhundert ist das katho­lische Epizentrum ein 44 Hektar großer um­mauerter Stadtstaat innerhalb Roms. Dank der Sixtinischen Kapelle und dem Petersdom ist die Vatikanstadt ein Touristenmagnet und ein Pil­gerziel für die 1,2 Milliarden Katholiken auf der Welt. Aber die Vatikanstadt ist auch eine eigen­ständige Gebietskörperschaft mit Gemeinde­verwaltung, Polizei, Gerichten, Feuerwehr, Apotheke, Postamt, Lebensmittelgeschäft, Zei­tung und einer Kricketmannschaft.

Ihr Presse­korps, die Vaticanisti, verfolgt die politischen Launen der Institution mit der luchsäugigen Skepsis alter Rathausreporter. Die etablierte Belegschaft des Vatikans bezahlt keine Umsatz­steuer. Seine diplomatische Bürokratie belohnt, wie man es von Bürokratien kennt, bequeme Bischöfe mit bequemen Posten, während sie die weniger genehmen auf trostlose Außenstellen irgendwo auf der Welt verbannt. Seit Jahrhun­derten übersteht sie Eroberungen, Plagen, Hungersnöte, Faschismus und Skandale. Die Mauern halten.

Und nun kommt ein Mann, der Mauern ver­abscheut. Als Franziskus einmal mit einem Freund am argentinischen Präsidentenpalast vorbeischlenderte, sagte er: „Woher wollen sie wissen, was die einfachen Leute brauchen, wenn sie einen Zaun um sich herum errichten?“

„Ich glaube, die wahren Veränderungen haben noch gar nicht stattgefunden“, sagt Ra­miro de la Serna, ein Franziskanerpriester aus Buenos Aires, der den Papst schon seit mehr als 30 Jahren kennt. „Und auch der wahre Widerstand nicht.“ Die Vatikanbeamten sind noch immer dabei, sich einen Reim auf den Mann zu machen. Es ist verlockend, die offenherzigen Reaktionen des Papstes als Beweis dafür zu nehmen, dass er ein reiner Instinktmensch sei. So bezeichnet sein Pressesprecher Lombardi es als „vollkom­men spontan“, dass der Papst auf seiner Nah­ostreise den Imam Omar Abboud und den Rabbi Skorka nach einem gemeinsamen Gebet an der Klagemauer umarmte. Tatsächlich aber erzählt der Rabbi, der mit Franziskus befreundet ist: „Ich habe es mit ihm besprochen, bevor wir ins Heilige Land aufgebrochen sind – ich habe zu ihm gesagt: ‚Das ist mein Traum, dich und Omar vor der Mauer zu umarmen.'"

Dass Franziskus sich vorher einverstanden erklärt hatte, zeigt, wie genau er sich darüber im Klaren ist, dass jede seiner Handlungen und jede Silbe auf ihren symbolischen Gehalt hin analysiert wird. Seine argentinischen Freunde beschreiben ihn als „Schachspieler“, als jemanden, bei dem „jeder einzelne Schritt genau durchdacht“ ist. Ber­goglio selbst erzählte den Journalisten Fran­cesca Ambrogetti und Sergio Rubin bereits vor einigen Jahren, dass er nur selten seinen Impul­sen folge, denn „die erste Antwort, die mir in den Sinn kommt, ist für gewöhnlich falsch.“

Entsprechend hat der neue Papst zwar den Alltag im Vatikan drastisch verändert, aber er hat dabei auch vernünftige Zugeständnisse an die Realitäten des Kirchenstaats gemacht. Er hatte angeregt, dass die Schweizergarde ihm nicht überallhin folgen müsse, doch inzwischen hat er sich damit arrangiert. Obwohl er das mit Panzerglas geschützte Papamobil, das seit dem versuchten Attentat auf Johannes Paul II. 1982 häufig zum Einsatz kam, bisher meidet, ak­zeptiert Franziskus – der auch mit deutlichen Worten gegen die Mafia Stellung bezieht und ihre Mitglieder im Juni 2014 für exkommuni­ziert erklärte –, dass er sich nicht mehr wie frü­her unter die Leute mischen kann. Freunde sagen, dass er sich als Oberhaupt des Vatikans und als Argentinier dazu verpflichtet fühle, die Präsidentin seines Heimatlands, Cristina Fer­nández de Kirchner, zu empfangen, auch wenn ihm bewusst ist, dass sie diese Besuche zu ihrem eigenen politischen Vorteil nutzt.

Seinen ehemaligen Pressesprecher Wals hat Bergoglios Umsicht bei der Übernahme des Pontifikats nicht überrascht. Da Bergoglio be­wusst gewesen sei, dass das Konklave ihn mög­licherweise wählen würde, sei der Erzbischof im März 2013 perfekt vorbereitet nach Rom gereist: „Alle Briefe waren geschrieben, seine Angelegenheiten tadellos geordnet. Und am Abend, bevor er aufbrach, rief er mich an, um mit mir alle amtlichen Details noch einmal durchzugehen und mir Ratschläge für meine Zukunft zu geben, so wie jemand, der weiß, dass er womöglich für immer geht.“

Die Medien sehen in ihm einen Reformer. Einen Radikalen. Einen Revolutionär. Franzis­kus hat nicht nur unter Katholiken, sondern auch unter anderen Christen, unter Menschen anderen Glaubens, sogar unter Ungläubigen einen spirituellen Funken entfacht. Das Ober­haupt der katholischen Kirche wird für eine Institution, die sich vor seinem Amtsantritt an schlechte Nachrichten gewöhnen musste, weithin als gute Nachricht betrachtet.

Pater Thomas J. Reese, Jesuit und Chefkommentator der US-Zeitschrift National Catholic Reporter, sagt: „Wenn Sie vor zwei Jahren irgendjemanden auf der Straße gefragt hätten: ‚Wofür und wogegen ist die katholische Kirche?‘, so hätten Sie zur Antwort bekommen: ‚Sie ist gegen die Homo-Ehe, gegen Empfängnisverhütung‘ – lauter solche Dinge. Wenn man die Leute jetzt fragt, sagen sie: ‚Oh, der Papst – das ist der Mann, der die Armen liebt und nicht in einem Palast wohnt.‘ Das ist für eine solch alte Institution eine außerordentliche Leistung.“

Natürlich ziemt sich das Spektakel eines päpstlichen Personenkults für eine so würdevolle Institution nicht, das wird im Gespräch mit Vatikanfunktionären offenkundig. Doch die Kardinäle, die Franziskus sein Mandat gaben, wünschten sich ein Oberhaupt, das die majestätische Unnahbarkeit der Kirche ablegen und ihre spirituelle Anhängerschaft ausweiten würde. Der Kardinal Peter Turkson aus Ghana erinnert sich an das Konklave: „Es gab da eine starke Stimmung: Lasst uns eine Veränderung herbeiführen.“ Kardinal Bergoglio sei ihnen weitgehend unbekannt gewesen. „Aber dann hielt er eine Rede – es war quasi sein Manifest. Er riet uns allen, über eine Kirche nachzudenken, die sich bis an die Ränder vorwagt – nicht nur geografisch, sondern an die Ränder der menschlichen Existenz.“

Diejenigen, die sich wie Turkson Veränderungen wünschten, hat Franziskus nicht enttäuscht. Innerhalb von zwei Jahren hat er 39 Kardinäle ernannt, von denen 24 nicht aus Europa stammen. Bevor er im vergangenen Dezember eine flammende Rede hielt, in der er die Krankheiten“ auflistete, von der die Kurie befallen sei (darunter „Prahlerei“, „Geschwätzigkeit“ und „weltliche Profitgier“), beauftragte er neun Kardinäle – mit Ausnahme von zweien alle nicht zur Kurie gehörig – mit der Reform der Institution. Er bezeichnete sexuellen Missbrauch in der Kirche als „Sakrileg“ und gründete die Päpstliche Kommission für den Schutz von Minderjährigen, der Seán Patrick O’Malley, der Erzbischof von Boston, vorsteht.

Um Transparenz in die finanziellen Angelegenheiten des Vatikans zu bringen, machte Franziskus Kardinal George Pell aus Sydney, Australien, einen ehemaligen Rugbyspieler, zum Präfekten des Wirtschaftssekretariats. In seiner neuen Enzyklika „Laudato si“ – die womöglich von konservativen Kritikern vorab der Presse zugespielt wurde, um den Papst zu diskreditieren – kritisiert er Umweltzerstörung, Wachstumsglauben und das Leugnen des Klimawandels. In einem bemerkenswerten Akt erwies Franziskus aber auch der alten Garde seine Ehrerbietung: Er behielt den von Benedikt berufenen Hardliner Kardinal Gerhard Müller als Chef der Glaubenskongregation, die für den Schutz kirchlicher Lehrmeinungen zuständig ist.

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Solche Schritte verheißen viel – wohin sie führen werden, ist allerdings nur schwer vorherzusagen. Die vorläufige Synode über die Familie, die Franziskus im vorigen Oktober einberief, brachte keine umwälzenden Veränderungen der Lehre, was verängstigte konservative Katholiken besänftigte. Die tatsächliche Synode im kommenden Oktober könnte jedoch zu einem anderen Ergebnis kommen. Zum Abendmahlsverbot für geschiedene Katholiken, deren Ehen nicht annulliert wurden, äußert sich der ehemalige Professor Scannone: „Er hat mir gesagt: ‚Ich möchte jeden anhören.‘ Er wird die zweite Synode abwarten, und er wird jeden anhören, aber er ist eindeutig für eine Veränderung aufgeschlossen.“ Der Pfingstprediger Saracco hat mit dem Papst sogar über die Möglichkeit diskutiert, den Zölibat als Voraussetzung für das Priesteramt abzuschaffen. „Wenn er dem Druck der Kirche heute und den Ergebnissen der Synode über die Familie im Oktober standhalten kann“, sagt er, „dann, so glaube ich, wird er bereit sein, über den Zölibat zu reden.“

Allerdings sind die Worte und Gesten des Papstes auch zu einem Rorschachtest geworden, der von seinem Publikum nach Gutdünken interpretiert werden kann. 2010 beschwerte sich ein ehemaliger Schüler Bergoglios per E-Mail bei seinem geliebten fortschrittlichen Mentor, weil dieser die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe verurteilt hatte. Die Korrespondenz vermittelt einen Eindruck davon, was man von Bergoglios Pontifikat erwarten kann. Es schmerze ihn zu hören, dass er seinen früheren Schüler verärgert habe, antwortete der künftige Papst. In seiner seelsorgerlichen Arbeit sei jedenfalls kein Platz für Homophobie. Letztlich blieb er dennoch seinem Standpunkt treu, die Homosexuellen-Ehe sei eine Bedrohung für „die Identität und das Überleben der Familie: Vater, Mutter und Kinder“.

Was die Ehrfurcht des enttäuschten Bewunderers wiederherstellte, war das Gleiche, was heute auf dem Petersplatz die Menschenmengen in den Bann schlägt: dass das blendende Weiß der Papsttracht an diesem Mann auf einmal zum Ausdruck von Einfachheit und Volksnähe geworden ist. Es ist die Affinität zur Straße, verbunden mit dem jesuitischen Glauben an aktives Engagement im Gemeindeleben. Es geht um die Begegnung, und das bedeutet, zu den Menschen hinzugehen und ihnen zuzuhören. Das ist um einiges mühevoller, als unpersönliche Verordnungen zu erlassen. Es ist das, was Bergoglio dazu brachte, auf die Knie zu sinken und Tausende evangelikaler Christen um ihr Gebet zu bitten. Und es ist das, was vor zwei Jahren Millionen verblüffte, als Papst Franziskus auf eine Frage zu homosexuellen Priestern in aller Sanftmut antwortete: „Wer bin ich, darüber zu richten?"

Das also scheint die Mission des Papstes zu sein: innerhalb des Vatikans und jenseits seiner Mauern eine Revolution zu entfachen, ohne alle ewigen Grundsätze der Kirche über den Haufen zu werfen. „Er wird nicht die Lehre verändern“, bekräftigt sein argentinischer Freund de la Serna. „Aber er wird die Kirche zu ihrer wahren Lehre zurückführen – jener, die sie vergessen hat. Zu lange hat sich die Kirche auf die Sünde konzentriert. Wenn sie das Leiden der Menschen und ihr Verhältnis zu Gott wieder in den Mittelpunkt stellt, werden die strengen Haltungen zur Homosexualität, zur Scheidung und zu anderen Dingen anfangen, sich zu verändern.“

Die Zeit arbeitet jedoch nicht für Franziskus. Als er im Frühjahr davon sprach, seine Amtszeit werde vielleicht nur „vier oder fünf Jahre“ dauern, kam das für seine argentinischen Freunde, die wissen, dass er seine letzten Jahre gern in der Heimat verbringen würde, nicht überraschend. Aber seine Ankündigung war sicher beruhigend für die Hardliner im Vatikan, die ihr Möglichstes tun werden, um seine Reformbemühungen zu bremsen, und die sich einen schwächeren Gegner als Nachfolger erhoffen. Dennoch: Diese Revolution, ob sie gelingt oder nicht, ist anders als jede zuvor, und sei es nur wegen der nicht nachlassenden Begeisterung, mit der sie vorangetrieben wird. Als der neue Erzbischof von Buenos Aires, Kardinal Mario Poli, bei einem Besuch im Vatikan sagte, wie bemerkenswert er es finde, seinen einst so mürrischen Freund fortwährend lächeln zu sehen, dachte der Papst, wie er es immer tut, sorgfältig über seine Antwort nach. Dann sagte Franziskus – und er hatte dabei zweifellos ein Lächeln auf den Lippen: „Papst zu sein ist sehr unterhaltsam.“

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(NG, Heft 8 / 2015, Seite(n) 122 bis 147)

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